Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

THESEUS UND ARIANNA AUF NAXOS


von Josef Maria Mayer


ERSTES KAPITEL

THESEUS
Dank dir, Ariadne!
ARIADNE
Nenn mich nicht mehr Ariadne, nenn mich Arianna!
THESEUS
So dank dir, Arianna!
ARIANNA
Du warst von Athen gekommen, die Jünglinge von Athen zu erlösen, die unserm Minotaurus auf Kreta geopfert werden sollten. Der Dank der Knaben gebührt dir.
THESEUS
Wie hätte ich aber meine Mission ohne dich erfüllen können?
ARIANNA
Der Mann tut, die Frau ist.
THESEUS
Zu viel haben uns die Dichter erzählt vom verderblichen Wesen der Frauen.
ARIANNA
Helena...
THESEUS
...die Troja verbrannte.
ARIANNA
Pandora...
THESEUS
...von der alle Übel der Welt stammen.
ARIANNA
Deianira...
THESEUS
...die Herakles auf den Scheiterhaufen brachte.
ARIANNA
In Kreta aber vor alten Zeiten wurden die Frauen geehrt als Königinnen, ja, Göttinnen.
THESEUS
Und du, kretische Prinzessin, bist meine Göttin in Menschengestalt.
ARIANNA
Ich gab dir nur den Wollknäuel und den Faden, der dich aus dem Labyrinth des Minotaurus wieder herausführte.
THESEUS
Und warst wie die dreifaltige Schicksalsgöttin und hieltest meinen Lebensfaden in deinen Händen.
ARIANNA
Ich dein Schicksal?
THESEUS
Ich danke dir, meine Schicksalsgöttin, ich danke dir mein Leben, meine Rettung, mein Heil!
ARIANNA
Wir kretischen Frauen kennen das Labyrinth.
THESEUS
Du segnetest meinen Einzug und du segnetest meinen Auszug. Ich bin, was ich bin, durch deine Gnade.
ARIANNA
Wir haben als Jungfrauen, Mütter und Königinnen getanzt den Tanz der Göttin des Mondes Mene in diesem Labyrinth.
THESEUS
So dank ich deinem Tanz meine Erlösung!
ARIANNA
Wir haben die labyrinthischen Spiralen getanzt, die Bahnen des Mondes, das gebogene All. Wir tanzten in Raum und Zeit den Tanz von Geburt und Leben und Tod und Wiedergeburt.
THESEUS
Dank dir, Arianna, durch deinen jungfräulichen Tanz hast du mich wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung der Unsterblichkeit der Seele und des ewigen Lebens in Elysium!
ARIANNA
Das ewige Leben! Unsere Weisen streiten sich noch, ob es eine Unsterblichkeit der Seele gibt, eine Unsterblichkeit allein des göttlichen Geistes, eine Wiederverkörperung auf Erden, eine ewige Wiederkehr des Gleichen, eine Auferstehung des Fleisches?
THESEUS
Und da ich dich so sehe, glaube ich an die Unsterblichkeit der Seele, denn ewig möcht ich dich so schauen von Angesicht zu Angesicht!
ARIANNA
Und hoffen dürfen wir doch, zu schauen die Götter im Tanz der Sphären!
THESEUS
Ja, schauen will ich dich Göttin im Tanz!
ARIANNA
Ich bin nur ein Schatte, ich bin nicht die Idee. Doch nach dem Tode wird sich wiegen die Idee im Himmelsblau.
THESEUS
Die Idee und die Liebe! Die Idee und die Rose! Das ist, was bleibt. Ich danke dir, Arianna, du bist die holde Hoffnung, du gütige, immergeschäftige, die du das Haus des Trauernden nicht verschmähst!
ARIANNA
Nur sprich nicht so viel vom Tod, sprich lieber vom Leben. Gott ist das Leben.
THESEUS
Doch wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben. Und besser als die Toten haben es die Ungeborenen.
ARIANNA
Ich habe noch keinen Ungebornen fragen können, ob es ihm gut geht in seiner Nichtigkeit.
THESEUS
Sagen doch die Weisen, vor der Empfängnis im Fleisch sei die Seele im Himmel und schaue Gott. Aber ich preise die Stunde meiner Geburt.
ARIANNA
Warum?
THESEUS
Ich bin geboren, um dich zu schauen und dich schauend dich zu lieben! Ich bin für dich geschaffen! Darum danke ich dem Demiurg, der meinen Leib geschaffen, meine Augen, dich zu schauen, meine Ohren, dich zu hören. Dank sei dem Demiurg für deinen schönen Körper, dein schwarzes Haar, deine blauen Augen, deine sinnlichen Lippen, deine hüpfenden Brüste!
ARIANNA
Du dankst für den Kerker des Körpers, den Sarg der Seele?
THESEUS
Ich danke dir, o kretische Prinzessin, du hast mich weiser als die Philosophen gemacht, du hast mich gelehrt, den Leib zu lieben, den Leib als Mittel der Einfühlung in das geliebte Du!
ARIANNA
Du kommst an kein Ende mit deinem Dank.
THESEUS
Zuerst sag ich Dank dir für kleine Dinge, dann lerne ich auch Dank zu sagen für große Dinge. Zuerst Dank für meine Rettung, dann Dank für meine Hoffnung, dann Dank für die Unsterblichkeit, dann Dank für die neue Schöpfung, dann dank für die unsterbliche Seele und den verklärten Leib!
ARIANNA
So danke den Göttern!
THESEUS
Aber dass ich Götter glauben kann, das danke ich dir, denn in dir seh ich die Gutheit der Gottheit! Dank dir, Geliebte, unaussprechlichen Dank!


ZWEITES KAPITEL

ARIANNA
Du hast mir so schön gedankt, Geliebter, ich will dir auch danken.
THESEUS
Mir? Der ich unwürdig deiner Liebe bin?
ARIANNA
Du nennst mich die Göttin von Kreta – aber was muss das für ein Mann sein, der eine unbefleckte Göttin liebt!
THESEUS
Du bist zu gütig.
ARIANNA
Du könntest ja auch gehen nach Korinth in den Hafen, und eine Thais oder Lais lieben, oder eine Phryne, pure Lustobjekte männlicher Sinnlichkeit.
THESEUS
Ach, manchmal lockt schon der süße Schoß einer lüsternen Hetäre, aber mein Genius ermahnt mich: Du bist der Göttin geweiht!
ARIANNA
Und deine demütige Göttin ist dir dankbar.
THESEUS
Aber wofür? Was leiste ich schon?
ARIANNA
Nach Leistung frag ich nicht, ich suche nur dein Herz. Weißt du noch, in Kreta, im Hafen Phönix, angesichts des Leuchtturm, wie ich zu dir sagte: Mein Geliebter, wollen wir nicht heiraten?
THESEUS
Wie schön du da in meinen Augen warst! Mir schien, die goldene Aphrodite hatte dir ihren Liebreizgürtel geliehen.
ARIANNA
Und du knietest vor mir nieder, mit einer blauen Blume in der Hand, und sagtest: Geliebte, willst du mich zum Ehemann?
THESEUS
Nicht aus böser Lust wollte ich dich heiraten, sondern ich wollte der Vater deiner Kinder sein.
ARIANNA
Und wenn ich, Priesterin der Göttin, jemals Kinder haben sollte, so wollte ich für sie keinen anderen Vater als dich. Wir haben uns also verlobt!
THESEUS
Keusche Göttin! Doch wir wollten unsre Ehe nicht beginnen wie die Hurenböcke, denn wir sind Kinder der Heiligen Mutter.
ARIANNA
Und auch dafür sag ich dir Dank, dass du nicht nur meinen Leib genießen wolltest, sondern wolltrst den heiligen Segen der keuschen Ehegöttin.
THESEUS
Wiewohl du allzu reizend und verführerisch jetzt neben mir am Strande liegst, da kann ich nur hoffen, heilige Jungfrau, dass du keusch für uns beide bist und dass mit uns in dieser Nacht nicht geschieht, was ich will.
ARIANNA
Das Fleisch ist schwach, aber der Geist ist willig.
THESEUS
Wir warten auf ein Schiff, das uns von Naxos nach Athen bringt, dort treten wir vor die Hohepriesterin der Ehegöttin Hera und bitten um das Mysterium der Ehe und der Göttin heiligen Segen.
ARIANNA
Bis die Götter gesegnet unsre Ehe, leben wir keusch wie Brüderchen und Schwesterchen.
THESEUS
Als Knabe lag ich unter einem Apfelbaum und mir erschien in einer Vision das Antlitz einer Jungfrau geistig in dem Duft der Apfelblüten, ein Antlitz mild, als wär es meine Schwester. Ich habe keine Schwester, aber mir schien, im Himmel bei den Göttern lebe meine himmlische Schwester und sei mir Genius und Schutzfrau.
ARIANNA
Und ich liebe dich wie einen Bruder und noch mehr als einen Bruder.
THESEUS
Sind doch alle Menschen Brüder und Schwestern, denn Zeus ist der Vater der Götter und Menschen.
ARIANNA
Und ich liebe die ganze Menschheit und so liebe ich auch dich.
THESEUS
Und wenn ich dich begehre?
ARIANNA
Begehre nicht meinen Leib in ungenügender Selbstsucht und verzehre dich nicht vor Verlangen. Ich will mich dir ja schenken, wenn die Götter es gnädig erlauben.
THESEUS
Auch ich will dich nicht missbrauchen für egoistische Eigenliebe, sondern ich will mich dir schenken und mich ganz hingeben mit Leib und Seele und Geist.
ARIANNA
Warten wir auf ein Zeichen des Himmels.
THESEUS
Ich liebe dich! Das ist das Zeichen des Himmels.
ARIANNA
Sag es schöner.
THESEUS
Ich bin in dich verliebt! Das ist der Frühling.
ARIANNA
Ich danke dir für dein Ja zu mir.
THESEUS
Du bist so schön, mein himmlisches Mädchen!
ARIANNA
Ich bin schön, weil ich dich liebe.
THESEUS
Du bist die vollkommene Schönheit.
ARIANNA
Ich danke dir für alle Liebe, die du mir erweist. Du weißt, ich liebe dich auch.
THESEUS
Du liebst mich? Mich?
ARIANNA
Ich liebe dich mit einer feurigen Liebe! Ich liebe dich mit einer grenzenlosen Liebe!
THESEUS
Die Weisen wissen, was Liebe ist. Liebe ist Weisheit und Weisheit ist Liebe. Ich schenke dir mein Herz! Ich sterbe mir selber ab und begrabe mich in deinem Herzen! In deinem Herzen will ich auferstehen! Du wirst mein Herz in deinem Herzen umfangen und es bereichern mit der Huld deiner Liebe und so mein Herz mir wieder schenken, voll von deiner schönen Liebe! - Aber ich bin bang, du schenkst mir mein Herz nicht zurück.
ARIANNA
Fürchte dich nicht! Ich tu dir nichts zuleide.
THESEUS
Schenkst du mir dein Herz?
ARIANNA
Mein Herz und die Insel der Seligen!
THESEUS
Was Hoffnung, da ich selig bin in deiner Liebe! Was Glaube, da ich deine Herrlichkeit schaue! Nur Liebe bleibt, mit der ich dich in Ewigkeit lieben will!
ARIANNA
Mein Herz ist mein Ich und dein Herz ist mein Du, und Ich und Du sind eins in Liebe.
THESEUS
Ich möchte mit dir verschmelzen...
ARIANNA
Ich lade dich in meinen Schoß ein.


DRITTES KAPITEL

THESEUS
Ich habe geschlafen, und siehe, ich bin so süß erwacht.
ARIANNA
Erzähle mir deinen Traum.
THESEUS
Ich habe einen erotischen Traum gehabt.
ARIANNA
Von mir und dir, Geliebter?
THESEUS
Von mir und dir, Geliebte.
ARIANNA
Haben wir uns vereinigt?
THESEUS
Auf die süßeste Weise, die ich kenne.
ARIANNA
Preis sei der Königin der Liebe, die solche Träume dir eingibt.
THESEUS
Die Weisheit der Götter kennt alle Fibern meines Herzens. Ihr sind meine Träume bekannt.
ARIANNA
Eros ist mächtig.
THESEUS
Was ist ein Mann ohne Eros? Ich will kein Mann der Apathie sein. Die hochgerühmte Leidenschaftslosigkeit der Philosophen ist unschöpferisch. Eros ist Schöpfer! Der Eros im Mann macht den Mann zum Mitschöpfer Gottes.
ARIANNA
Die Götter haben Freude, wenn Bruder und Schwester friedlich zusammen leben. Die Götter haben Freude, wenn die Bürger einer Stadt friedlich zusammen leben. Die Götter haben Freude, wenn Mann und Frau in perfekter Harmonie zusammen leben.
THESEUS
Die Göttin der Freundschaft stiftet die Harmonie im Universum.
ARIANNA
Die Königin der Liebe hält mit ihrem Zaubergürtel des Weltalls tobendes Entzücken zusammen.
THESEUS
Alle Liebe kommt von der Göttin der Liebe. Ich preise sie, weil sie mir Arianna als Lebensgenossin gegeben hat.
ARIANNA
Ich preise sie, weil sie mir Theseus zum treuen Kameraden gegeben hat.
THESEUS
Treuherzige Kameradin, Treuliebchen, lass uns zusammen Aphrodite preisen!
ARIANNA
Ich sah einst auf Kreta vor dem Königspalast im Frühling eine Aphrodite-Prozession. Männer trugen auf ihren Schultern die Aphrodite-Statue, die auf einem Thron von weißen Lilien stand.
THESEUS
War sie nackt?
ARIANNA
Nein, sie trug ein feuerrotes Kleid, ein meerschaumweißes Hemdchen, einen meerblauen Mantel. Nur ihre schmalen Füße waren nackt.
THESEUS
War sie allein oder war Eros bei ihr?
ARIANNA
Sie trug auf den Armen den nackten Knaben Eros, er war etwa vier Jahre alt. Er schmiegte sich an ihre Brüste.
THESEUS
Segnete Aphrodite den König und das Volk von Kreta?
ARIANNA
Ja. Sie zog erst in einer geduldigen Prozession durch das Volk, bis sie dem König im Palast von Knossos gegenüber stand. Er saß auf seinem goldenen Thron und schien im Zwiegespräch mit der schönen Göttin versunken. Dann zog Aphrodite zum Königsthron, stellte sich neben den König, der König verneigte sich vor der schönen Göttin und hielt dann eine Ansprache an das Volk von Kreta.
THESEUS
Und sangen die Priesterinnen Gesänge?
ARIANNA
Sie sangen immer: Chaire, Charis, Herrin der Charitinnen, du bist voller Charme, und voller Charme ist dein göttlicher Sohn Eros! Heilige Frau und Göttin, segne uns hier und heute und wenn Thanatos seine Fackel senkt!
THESEUS
Wie war das Antlitz der schönen Göttin?
ARIANNA
Es war das Antlitz eines jungen Mädchens, einer heiligen Jungfrau. Sie schaute überaus zärtlich aus großen leuchtenden Augen. Die Augenlider lagen schwer auf den Augen. Die Wimpern waren lang. Ihre schwarzen Haare waren in der Mitte gescheitelt und flossen lang herunter. Ihre Nase war schlank und klein. Ihr Mund war rot und sinnlich und von charmantem Lächeln umspielt.
THESEUS
Ich liebe die Mutter des göttlichen Eros!
ARIANNA
Preise mir den Knaben Eros, dann freut sich die schöne Muttergöttin.
THESEUS
Es war letztes Jahr in Athen, es war in der schönen Frühlingszeit. Anhaltender Frühlingsregen vom Vater im Himmel hatte die Mutter Erde fruchtbar gemacht, und die Natur stand in Saft und Grünkraft. Farbiger glühten die Blüten und hingebungsvoller sangen die Vögel und brünstiger gurrten die Turteltauben. Da ging ich mit meinem Knaben Didymus in der Natur spazieren. Er wollte Schmetterlingsraupen suchen und züchten, denn er sagte: Wenn man gut zu den Raupen ist, dann bleiben die Schmetterlinge bei einem. Ich sah ihn schon im Geist ins Gymnasium gehen mit einer Wolke von weißen Schmetterlingen um sein Haupt. Ich dachte auch an die Seele, denn wir Menschen auf Erden sind Raupen, die sich im Grab verpuppen, aber in Elysium ist unsre Psyche ein Schmetterling.
ARIANNA
Eine hübsche Geschichte. Ist das dein Lob des Eros?
THESEUS
Du weißt, die Weisen sagen, die Geschöpfe der Erde sind nur Schatten und Abglanz von göttlichen Ideen. Der weise Mann ist ein Seher und sieht im Abbild das Urbild.
ARIANNA
Du schautest also im Knaben Didymus den göttlichen Eros?
THESEUS
Ja, es war wie eine Vision, es war mir, als öffnete Aphrodite mir den Himmel und zeigte mir wunderschöne Landschaften in Elysium, da mein Geist mit dem Knaben Eros spazieren ging.
ARIANNA
Möge Gott Eros den Knaben Didymus segnen, in dem sich der kleine Gott offenbarte.
THESEUS
Ja, und um das Ebenbild vollkommen zu machen, schenkte ich dem Knaben Didymus einen Köcher mit Pfeilen und einen Bogen aus Eschenholz.
ARIANNA
Ich bin müde, mein Geliebter. Morpheus sei gepriesen, der uns den Schlaf schenkt.
THESEUS
Auch ich will schlafen an deiner Seite und bin voller Erwartung, was ich träume, denn die Götter sprechen zu uns durch Träume und Visionen.


VIERTES KAPITEL

THESEUS
Arianna, schläfst du? Sie schläft. Ich aber bin wach von einem bilderreichen Traum. So lebhaft war der Traum wie die Ereignisse des Tages. Lasst mich besinnen, ihr Götter! Vielleicht war es ein prophetischer Traum? Ich sah Gesichte. Ich sah vor einer Hirtenhütte auf einer Moosbank Chiron sitzen, den Vater der Kentauren. Sein dichter Bart war grau, sein Leib der eines Pferdes, aber seine Augen strahlten Weisheit und Güte aus. Er schaute in den heiligen Hain und siehe, da sah ich Helena, zehn Jahre jung, die mythologische Jungfrau, ewig jung, von schlanker Gestalt, die Beine waren Beine der Gazelle, ihr Leib war sportlich-beweglich wie bei den Jünglingen im Gymnasium, ihr Haupt umfluteten goldene Haare, die sie zu Zöpfen gebunden hatte, eine kaum zu bändigende Mähne, ihr Antlitz war schneeweiß, aber rötlich glühten ihre Wangen von keuscher Leidenschaft, ihre Augen glühten feurig, von tiefem funkelndem Blau, und ihre Lippen dufteten Honig. Und ich sah, und siehe, bei ihr war der Knabe Eros, vielleicht neun Jahre alt, und Helena und Eros spielten, sie spielten Haschen und Fangen. Helena hielt einen purpurnen Ball in den Armen und Eros versuchte, den Ball zu kriegen. Und wenn Eros den Ball hatte, lief er davon, und Helena eilte ihm nach. Und hatte Helena den purpurnen Ball, so trug sie ihn zu Chiron, stolz den Sieg über Eros zeigend dem alten Kentauren. Der saß unbeweglich in seiner gütigen Weisheit, aber seine Augen strahlten, wenn er Helena sah, er bewunderte ihre schlanke Anmut und ihre honigduftenden Lippen, ihre goldenen Haare, ihre glühenden Augen. Eros aber wälzte sich auf der Wiese und bat die schöne Helena: Gib mir den purpurnen Ball! Und Helena warf Eros den Ball zu. Da sah ich, und siehe, ich sah, wie Eros die Maske des Thanatos hielt in seinen Händen. Aber o Mitternacht! Wer kommt! Wer ist diese Göttin! Du, wer bist du, himmlische Jungfrau?
APHRODITE
Ich bin die keusche Aphrodite.
THESEUS
Sprich, Herrin, dein Sklave hört.
APHRODITE
Mein Herz ist voll von unendlicher Traurigkeit wegen der Menschen. Ob der Demiurg die Mutter Natur erschaffen, die Menschen achten den Demiurg nicht. Ob Adonis im Herbst gestorben und im Frühling auferstanden, die Menschen achten Adonis nicht. Was habe ich nicht alles für die Menschen getan! Ich habe alles gegeben, aber keinen Funken Dankbarkeit geerntet. Nicht den geringsten Funken Dankbarkeit. Die Menschen sind dem Hades verfallen, weil sie nicht lieben. Die Menschen sind dem Hades verfallen, weil sie keine Gedanken der Liebe denken. Die Menschen sind dem Hades verfallen, weil sie keine Liebe im Herzen haben und darum auch keine Liebe geben können. Die Menschen sind dem Hades verfallen, weil sie die Mutter Natur nicht achten. Die Menschen sind dem Hades verfallen, weil sie Kinder töten. Die Menschen sind dem Hades verfallen, weil sie die Liebe mit Füßen treten. Das muss ich euch sagen, eure unendlich traurige Mutter.
THESEUS
O Mutter, meine Seele und deine Seele sind eins.
APHRODITE
Ich schaue voller Huld auf die schlafende Arianna. Nein, Theseus, sie ist nicht tot, sie schläft nur. Immer, wenn du den blumenreichen Weg des Lasters verlässt und den dornenreichen Weg der Tugend beschreitest, wird Ariannas schlafende Seele dein Genius sein, deine Schutzfrau.
THESEUS
Werde ich Arianna heiraten in Athen?
APHRODITE
Eine andere Hochzeit hast du geträumt. Mein Sohn Eros, neun Jahre alt, und die schöne Helena, zehn Jahre alt, werden Hochzeit feiern in Elysium.
THESEUS
Bin ich zu alt zur Ehe?
APHRODITE
Du bist ein König, Theseus. Du sollst Athen, die Stadt der Weisheit regieren. Du brauche deinen politischen Glauben. Du sollst in Hellas die Theokratie der Schönheit stiften!
THESEUS
Aber was wird aus Arianna?
APHRODITE
Ein Gott hat Arianna auserwählt.
THESEUS
Ein Gott? Es gibt viele Götter. Welcher Gott hat Arianna auserwählt?
APHRODITE
Dionysos.
THESEUS
Der trunkene Gott, der von Indien gekommen ist?
APHRODITE
Er hat bei sich selbst geschworen, Arianna als seine Braut zu freien.
THESEUS
Doch wollte ich ja Arianna heiraten.
APHRODITE
Das ist dir verboten.
THESEUS
Und das sagst du, die Göttin der Liebe? Du bist doch von Zeus dazu berufen, die Werke der Ehe zu stiften.
APHRODITE
Arianna ist auch berufen zur Ehe.
THESEUS
Aber du sagtest, die Ehe sei ihr verboten.
APHRODITE
Die Ehe mit einem Sterblichen ist ihr verboten. Aber zur Ehe mit dem Gott ist sie auserwählt.
THESEUS
Warum?
APHRODITE
So hat es dem Gott gefallen.
THESEUS
So ist ein Gott mein Rivale.
APHRODITE
Füge dich dem Willen des Gottes und du wirst gesegnet.
THESEUS
Wird Arianna glücklich mit dem Gott? Wird sie mich vergessen?
APHRODITE
Das Glück ist nicht das Höchste Gut. Das Höchste Gut ist die ewige Trunkenheit Gottes.
THESEUS
Wird der Gott des Wahnsinns Arianna zu einer Wahnsinnigen machen?
APHRODITE
Alle Dichter sind Wahnsinnige. Alle Liebenden sind Wahnsinnige. Alle religiösen Seher sind Wahnsinnige.
THESEUS
Ich ergebe mich dem Willen der Götter.
APHRODITE
So geh! Aber geh mit dem Segen der heiligen Götter.


FÜNFTES KAPITEL

THESEUS
Ich dachte, ich liebe dich, Arianna, ich dachte, ich wollte dich zur Braut. Aber nun haben es die Götter anders beschlossen. Der Wille der Götter geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Und die Götter sind menschenfreundliche Geister. Nicht sind sie neidisch auf das Glück des Menschen und suchen es zu zerstören. Nein, sie wollen unser Wohl. Dein Heil ist die Gottes-Ehe. Und auch ich bin versöhnt mit meinem Schicksal. Das allmächtige Schicksal, das die Götter regiert, dem Zeus selbst gehorcht, das allmächtige Schicksal regiere auch mich. Ich bin zufrieden mit meinem Los. Mir ist das Los gefallen auf ein liebliches Land, auf Athen, die Stadt der göttlichen Weisheit. Und nun bin ich erleuchtet. Mir sind die Augen aufgegangen. Ich wäre mit dir nicht glücklich geworden, Arianna. Und ich hätte dich auch nicht glücklich machen können. Ich diene der Schönheit allein. Und was, Arianna, wenn du alt und hässlich geworden wärest? Dann hätte ich von der vierzehnjährigen Helena geträumt, dann hätte ich im Schlaf den Namen Helena gelallt, und du wärest eifersüchtig geworden, eifersüchtig wie eine Furie. Nein, ich habe schon manche Nymphe geliebt, als sie Nymphe war, aber ich habe auch manche Nymphe sich in eine Furie verwandeln gesehen. Das will ich dir nicht antun, Arianna, dass ich mit dir verschmelze und mich dann losreiße von dir, der neuen Schönheit selig nachzuwandeln, dich zurückzulassen mit einem zerrissenen Herzen. Dazu liebe ich dich denn doch zu sehr, als dass ich dich verletzen könnte. Ich kann den Frauen nicht treu sein. Ich kann nur treu sein meinem eigenen Stern, dem Stern der immerjugendlichen Schönheit. Also, Arianna, wenn du mich hörst in deinem Schlaf, und der Schlaf ist der Bruder des Todes, so höre meine Stimme jetzt: Ich verlasse dich und bewahre doch meine Liebe zu dir. Ich vertraue dein ewiges Schicksal deinem göttlichen Bräutigam an, der allein mit seiner ewigen Liebe dich glückselig machen kann. Aber was kommt da? Über das Meer geschwommen kommt nach Naxos ein Schiff. Siehe, der Kapitän tritt ans Land.
KAPITÄN
Ich komme auf Geheiß der Götter zu dir, o König Theseus.
THESEUS
Welche menschenfreundliche Gottheit hat dich zu mir gesandt? Wer von all den Göttern hörte mich, da ich schrie?
KAPITÄN
Die gütigen Tyndariden sind mir im Traum erschienen.
THESEUS
Die göttlichen Zwillinge!
KAPITÄN
Eben dieselben. Kastor, der Sohn des Tyndareos, schmiegte sich an meinen Rücken, und Polydeukes hielt eine Rede: Meine Mutter Leda ist tot! Mein Vater ist Zeus, der König der Götter!
THESEUS
Wie haben die Himmlischen dich geführt?
KAPITÄN
Sie sprachen im Traum, ich solle segeln, ein König bedürfe meiner Hilfe. Aber ich wusste nicht, wohin?
THESEUS
Und wie hast du den Weg hierher gefunden, zur einsamen Insel Naxos?
KAPITÄN
Die Zwillinge tanzten wie kleine Blitze auf dem Mast meines Schiffes. Sie zeigten mir durch ihre hellen Blitze, rechts oder links, den Weg. Und so kam ich nach Naxos.
THESEUS
Du kommst gerade recht. Ich muss diese schlafende Jungfrau verlassen, denn der heilige Gott Dionysos hat sie sich zur Braut erwählt.
KAPITÄN
Wehe dem, der sich Dionysos entgegenstellt. Dionysos würde deine Mutter wahnsinnig machen, dass sie dich bei lebendigem Leibe zerreißt und dein Fleisch auffrisst.
THESEUS
Ich aber muss ins vernünftige Athen. Die göttliche Jungfrau Athene sagt: Durch mich regieren die Könige! Und ich muss regieren und die Theokratie der Schönheit realisieren, in Athen, in Arkadien, im ganzen panhellenischen Reich.
KAPITÄN
So sei willkommen auf meinem Schiff. Es ist nicht gerade die Argo, aber es bringt dich sicher zum Ziel.
THESEUS
Mein Kapitän, ich habe meinem Vater gesagt, wenn ich heil aus Kreta heimkomme und die athenischen Jünglinge vor dem Opfertod gerettet habe, dann komme ich zu Schiff gefahren mit einem schwarzen Segel. So bitte ich dich, hisse ein schwarzes Segel, denn siehe, ich lebe!
KAPITÄN
Das wird deines Vaters Trost sein, denn ein lebender Sohn ist der Trost eines alten Vaters.
THESEUS
Ich sehe meinen alten Vater, er sitzt in seinem Thronsessel, es ist ein Thronsessel der Weisheit. Er liest in den alten Pergamenten die Legenden der heiligen Helden und die Orakel der Seher der Götter. Aber er ist fast erblindet und sieht nur noch mit dem Herzen gut. Sein Geist ist schon nicht mehr ganz auf Erden, sondern wandelt schon am Acherusischen See.
KAPITÄN
Hat er die himmlischen Götter geehrt, dass er hoffen darf, Elysium zu betreten?
THESEUS
Mein Vater hat Apollon geliebt, Phöbus Apollon, wenn er am Morgen im Osten aufgeht, im Süden steht im Zenit, im Westen schlafen geht im Meeresbett. Mein Vater hat Apollon angebetet und hat den Gott gebeten, von seinen ehrwürdigen makellosen Händen Strahlen der Gnade ausfließen zu lassen, himmlische Kräfte, auf das silberne Haupt meines Vaters. Mein Vater hat die alten Seher geehrt, die die Metempsychose geschaut, und die alten Seher, die die Weltseele liebten. Mein Vater erwartet, in der Stunde seines Todes mit seiner Psyche sich in die absolute Substanz aufzulösen.
KAPITÄN
Aber es wird die Freude des Alten sein, vor seinem Abscheiden von der Erde noch einmal seinen Sohn zu sehen, den Erben seines Reiches.
THESEUS
Darum löse die Taue, Kapitän, lichte den Anker, und segle mit der Gnade Poseidons rasch in die Heimat.
KAPITÄN
Ich vertraue auf den Segen der göttlichen Zwillinge.
THESEUS
O Vater, ich komme heim!


SECHSTES KAPITEL

In den himmlischen Lüften, über der Insel Naxos schwebt der Chor der Mänaden, vollbusige Weiber mit langen schwarzen Mähnen und Pantherfelle lasziv um die halbnackten Leiber geschlungen. Zu ihrem Psalm schlagen die Zymbeln, Zymbeln des Jubelgeschreis.

CHOR DER MÄNADEN

Wir sagen euch an
Den lieben Sdvent:

Er kommt,
Er kommt,
Dionysos kommt!

Bereitet euch,
Ihr törichten Jungfraun,
Bereitet euch,
Ihr weisen Jungfraun,
Bereitet euch
Zur himmlischen Hochzeit!

Siehe, um Mitternacht
Oder wenn der Hahn kräht
Kommt der Gott,
Kommt der Bräutigam!

Seid trunken
Und wacht in der Nacht!

Lasst klingen
Die Zymbeln,
Lasst klingen
Die Zymbeln
Des Jubelgeschreis!

Blast das Horn!
Der Tag des Herrn
Ist nahe!

Schlagt in die Hände,
Schlagt die Klapperbleche,
Windet um die glühenden Lenden
Die schwarzen Pantherfelle!

Seid bereit
Zum heiligen Nachtmahl!
Seid bereit
Zur seligen Trunkenheit Gottes!


ERSTE MÄNADE

Der König ging am Abend
Auf dem Dach des Palastes
Durch den betötend duftenden
Adonisgarten
Und sah, und siehe, was er sah,
War ein nacktes Weib,
Sie badete sich lasziv
Die üppigen Glieder.

Der König ließ sie kommen
Und nahm sie in sein Bett
Und zeugte in ihrem Shoß.

Aber den Ehemann
Der nackten Buhlerin
Schickte der König
An die Front des Krieges
In Todesgefahr.

Der Ehemann starb!
Die süße Buhle war frei!

Dionysos jauchzte,
Denn Dionysos liebt
Die Werke Aphrodites.


CHOR DER MÄNADEN

Trinkt, meine Brüder,
Und werdet trunkeneVor Liebe!

Wir tranken unsre Milch
Und aßen unsern Honig,
Wir tranken unsern Wein
Und wurden trunkeneVor Liebe!

Siehe, der Wein
Geht lieblich ein
Meinem Geliebten
Und lässt seinen Mund
Im Traumschlaf murmeln.

Lob sei dem Gott,
Der den Wein geschaffen
Zur Wonne unserer Hrzen!


ZWEITE MÄNADE

Der Gott ging auf Erden
In Jünglingsgestalt
Und kam in das Haus
Der korinthischen Huren.

Eine Hure warf sich
Mit aufgelösten Haaren
Und nackten Brüsten
Dem Gott zu Füßen
Und küsste seine Füße.

Die kalten Gelehrten aber,
Die die halbnackte Hure sahen
Liebkosen den trunkenen Gott,
Die kalten Gelehrten dachten:
Was ist das für ein Gott,
Der die Huren liebt?

Aber der selige Gott
Sagte zu den kalten Gelehrten:
Ihr Wissensstolzen
In eurer nüchternen Tugend
Habt mir nicht die Füße geküsst,
Aber diese halbackte Hure
Küsste leidenschaftlich meine Füße.

Sie hat viele Männer geliebt,
Darum hab ich sie angenommen.


CHOR DER MÄNADEN

Dionysos und Aphrodite
Sind Eines Sinnes!

Trunkenheit der Liebe!
Liebe zur Trunkenheit!

Der Wahnsinn der Liebe
Und der Wahnsinn des Weines
Verzückt uns
In den elysischen Garten!

Evoe, Evoe!
Im Wahnsinn der Prophetie
Künden wir lallend
Den neuen und ewigen Gott,
Wir singen den Advent des Gottes,
Der war und ist und der kommt
Zu seiner heiligen Hochzeit

Mit der schlafenden Braut!