Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

ADAMS FRAUEN


von Josef Maria Mayer


ERSTER GESANG
LILITH-EXORZISMUS


I

Lamaschtus Wohnung
Ist auf den Bergen
Oder im Dickicht des Schilfes.
Schrecklich ist ihr Aussehen!
Ihr Haupt und ihr Gesicht
Ist das eines furchtbaren Löwen,
Blass wie Lehm ist ihr Aussehen,
Sie hat die Gestalt einer Eselin,
Ihre Lippen schäumen von Speichel,
Sie brüllt wie ein Löwe
Und heult wie ein Schakal.
Erst ist sie eine junge Hure
Und dann eine alte Hexe.
Furchtbar wild ist ihr Gemüt,
Zornig, grimmig, furchtbar, schrecklich,
Wütend, tobend, böse,
Zerstörend rückt sie an.
Grausam sind ihre Wirkungen.
Wo sie erscheint,
Bringt sie Übel und Zerstörung.
Menschen, Wegen und Gebäuden
Verursacht sie Schaden.
Sie ist ein Ungeheuer,
Das Fleisch frisst und Blut säuft.

Ihn, gegen den sich der böse Uttuku warf,
Ihn, den in seinem Bett der böse Alu zudeckte,
Ihn, den der böse Etimmu in der Nacht überwältigte,
Ihn, den der böse Gallu bedrohte,
Ihn, dessen Glieder der böse Illu zerriss,
Ihn, den Lammaschtu beherrschte mit harter Hand,
Ihn, den Labaschu überwältigte,
Ihn, den Ahhazu festhielt,
Diesen Mann schütze der allmächtige Gott!

Der Gallu, der Geist, der alle Häuser bedroht,
Schamlose Gallus, sieben Gallus,
Sie mahlen das Land wie Mehl,
Sie kennen keine Gnade,
Sie wüten gegen die Menschen,
Sie essen Menschenfleisch
Und lassen Blut wie Regen strömen,
Unaufhörlich trinken sie Blut!

Beschwörung!
Lammaschtu, Tochter Anus,
Ist ihre erste Beschwörung,
Schwester der Götter der Straßen die zweite,
Schwert, das den Kopf zerschmettert, die dritte,
Die das Holz anzündet, die vierte,
Göttin, deren Antlitz schrecklich ist, die fünfte,
Anvertraute der Irnina, die sechste,
Bei den Göttern Beschworene, die siebte,
Mit den Vögeln des Himmels fliege sie fort!

Furchtbar ist sie,
Ungestüm ist sie,
Sie ist eine schreckliche Göttin,
Sie ist wie ein Panther,
Ihre Füße sind Vogelkrallen,
Ihre Hände sind schmutzig,
Ihr Gesicht ist das eines Löwen,
Sie taucht aus dem Schilfdickicht auf,
Ihre Haare sind aufgelöst,
Ihre Brüste sind nackt,
Ihre Hände wühlen in Fleisch und Blut,
Sie steigt durchs Fenster ein,
Sie dringt ins Haus ein,
Sie geht aus dem Haus wieder weg.

Wenn ein guter Jüngling
Um Mitternacht am Strande singt
Oder die Flöte blasen lässt,
Taucht die Lamia des Meeres
Aus der Tiefe empor
Und unter Verheißung
Eines glücklichen Lebens
Versucht sie den Jüngling zu bewegen,
Ihr Ehemann zu werden
Und mit ihr in die Tiefe zu kommen.
Weigert sich der Jüngling,
So tötet die Lamia ihn.

Die Striges sind Zauberinnen,
Die des Nachts in Vogelgestalt
Zu den Betten der Kinder fliegen
Und ihnen das Blut aussaugen.

Die Striges sind gierige Vögel,
Sie fliegen nachts umher.
Sie suchen Kinder auf,
Wenn die Amme abwesend ist,
Dann tragen sie die Kinder weg.
Sie verderben die Kinderkörper mit ihren Krallen.
Sie reißen die Eingeweide der Säuglinge
Mit ihren scharfen Krallen heraus.
Ihren Schlund haben sie voll von Blut,
Vom Menschenblut, das sie trinken.

Schwarze Striga, schwarz über schwarz,
Blut wird sie essen, Blut wird sie trinken,
Wie ein Ochse wird sie brüllen,
Wie ein Bär wird sie brummen,
Wie ein Wolf wird sie zubeißen.

Der Name Liliths ist
Ki-Sikil-Lilake, das bedeutet
Das Mädchen Lilith.
Sie ist ein ständig keifendes Mädchen.
Der Name ihres Begleiters
Ist Lilla, der ein Dämon ist
Der Lüsternheit und Geilheit.

Ki-Sikil-Lilake
Ist die Magd des Lilla,
Aber Liliths anderer Name
Ki-Sikil-Udda-Kara bedeutet
Das Mädchen, das das Licht gestohlen hat.

Lillu und Lillitu
Und Ardat-Lilli!
Ardat-Lilli ist die Hure
In der Hurerei des Götzendienstes.
Ein kranker Mann war besessen
Von der Ardat-Lilli,
Von der Tempelhure.

Ihn, auf den Ardat-Lilli ihre Augen geworfen,
Ihn, den Ardat-Lilli zu Boden geworfen,
Von der Ardatu, auf die sich der Mann stürzte,
Von der Ardatu, die sich dem Mann nicht geöffnet hat,
Von der Ardatu, die sich vor dem Mann nicht auszog,
Gott erlöse den Mann von diesem Dämon!


II

Meinem Körper sollst du dich nicht nähern,
Du sollst nicht vor mir einhergehen,
Du sollst mir nicht nachfolgen.
Wo ich mich aufhalte,
Sollst du dich nicht aufhalten,
Wo ich mich setze,
Sollst du dich nicht setzen.
Du sollst nicht in mein Haus eintreten,
Du sollst mein Haus nicht verzaubern.
Du sollst deine Füße nicht in meine Spuren setzen.
Wohin ich gehe, sollst du nicht gehen,
Wo ich eintrete, sollst du nicht eintreten.

Verschwinde sogleich,
Sogleich verschwinde, Lilith!

Geh weg, geh weg,sogleich, sogleich,
Schrecken meiner Träume!

Verjage, verjage Lilith!

Geh vorüber,
Schritt für Schritt, o Lilith.

Geh weg, geh jetzt, geh jetzt,
Dämonin der Nacht!

Die Dämonin Lilith spricht:
Ich gehe jetzt zu dem Haus der Frau
Und zu ihrem Knaben,
Um den Knaben ihr zu nehmen,
Sein Blut zu saufen,
Sein Mark auszusaugen,
Sein Fleisch zu fressen.

In ihren Palästen werden Dornen wachsen,
Nesseln und Disteln auf ihren Bergen,
So dass sie eine Wohnstatt für wilde Hunde wird
Und ein Gehöft für törichte Straußenweibchen.
Da stoßen Steppenwölfe auf Hyänen,
Und ein Satyr trifft den andern.
Dort wird Lilith ruhen
Und findet ein Bett für sich.

Und die Götzen -
Alles fährt dahin!

Und die Götzen
Sind wie Lilith, die vorüberflattert.

Sie teilen sich in drei Gruppen,
Diejenigen, die sagten:
Kommt, wir wollen hinaufgehen und Krieg führen,
Werden Affen, Poltergeister und Liliths.

Ich will dir Sirenen vom Meere rufen,
Die Liliths, die aus der Wüste kommen,
Und die Böcke und Faune aus den Wäldern.

Dieses Gedicht ist dafür bestimmt,
Das Haus des Josef zu versiegeln,
Damit von ihm die böse Lilith entfliehe,
Im Namen Elohims,
Die Liliths alle,
Die männlichen Lilin
Und die weiblichen Liliths.
Nackt wirst du weggeschickt, Lilith,
Unbekleidet, mit aufgelöster Haarflut
Hinter deinem Rücken flatternd.

Gesiegelt und nochmals gesiegelt
Sind Haus und Schwelle
Des Josef, Sohn des Eber,
Und für seine Frau Maria,
Vor allen bösen Poltergeistern,
Dämonen, Ungeheuern
Und Liliths,
So dass sie nicht Haus und Schwelle
Josefs näher kommen.
Sie sind mit drei Ringen
Und mit sieben Siegeln gesiegelt.

Du sollst nicht wieder erscheinen
In Josefs Hause,
Noch in seinem Schlafgemach,
Denn es wird dir bekannt gemacht,
Lilith, dass gegen dich
Rabbi Josua einen Bannfluch geschickt hat,
Vom Himmel her kam zu uns
Diese Scheidungsurkunde,
In ihr ist eine Nachricht
Und eine Einschüchterung für dich
Geschrieben, für dich,
Im Namen der Hagia Sophia.
Du männlicher Lili
Und du weibliche Lilith,
Ihr Böcke und ihr Sirenen,
Ihr seid mit dem Bannfluch belegt.
Ihr sollt Josef nicht mehr erscheinen,
Weder im Traum zur Nacht
Noch im Schlummer am Tage,
Denn gesiegelt seid ihr
Mit dem Siegel El Shaddais
Und dem Siegel des Rabbi Josua.
Du männlicher Lili
Und du weibliche Lilith,
Ich beschwöre euch bei der Vaterschaft Abrahams,
Dem Schrecken Isaaks
Und El Schaddais, Jakobs Gottheit,
Jah ist sein Name,
Hallelujah,
Dies ist deine Scheidungsurkunde,
Durch den heiligen Schutzengel geschickt.
Ich reiße aus die bösen Würgerinnen
Und die böse Lilith.
Kehre nicht zu Josef zurück,
Jetzt und alle Zeit.

Gebunden und gesiegelt seid ihr alle,
Böcke und Devis und Liliths,
Mit den schweren, strengen und mächtigen Fesseln.
Die böse Lilith, welche
Die Herzen der Männer irre gehen lässt,
Die in Träumen während der Nacht
Und in Gesichten des Tages erscheint,
Die verbrennt und nieder wirft
Wie ein Alptraum,
Die Knaben angreift und vernichtet,
Besiegt ist sie
Und weg gesiegelt von Josefs Haus und Schwelle,
Josefs, des Sohnes Ebers,
Durch das Siegel Metatrons,
Des Engels, der genannt wird:
Der Herr ist dein Heiland.
Er besiegt Böcke und Devis,
Schwarze Magie und Hexensprüche,
Besiegt sind die alten Hexen,
Die einst junge Huren waren,
Besiegt ist ihre Hexerei,
Ihre Verwünschungen und Beschwörungen.
Weg gebannt sind sie von den vier Wänden
Des Hauses Josefs, des Sohnes Ebers.
Besiegt und nieder getreten
Sind die Hexen, die fetten alten Weiber,
Besiegt auf Erden und im Himmel,
Gebunden sind die Werke ihrer Hände.

Da kam die Dämonin Lilith
Zu unserem Vater Elias
Und hielt ihn an und sagte zu ihm:
Wohin gehst du?
Denn ich habe Knaben von dir
Und du kannst nicht gen Himmel fahren
Und deine Knaben zurücklassen.
Und unser Vater Elias sprach:
Wie kannst du Knaben von mir haben,
Da ich doch ehelos lebe?
Da sprach die Dämonin Lilith:
Ja, im Schlaf, in deinen Träumen,
Wurdest du oft entleert
Durch den Ausfluss deines Gliedes.
Da hab ich deinen Samen verschluckt
Und habe dir Knaben geboren.

Gebunden und gefesselt seid ihr,
Riesen von Mitternacht,
Und gefesselt sei euer Körper
Mit der großen Fesselung,
Mit der die Schmiede die Zwerge fesseln.
Gefesselt sei eure Zauberei
Und euer Trug, den ihr treibt.
Gefesselt seien eure Weiber, die Liliths,
Die perversen Gestalten,
Die hässlich und widerlich sind,
Deren Aussehen und deren Geschwätz
Kein frommer Mann ertragen kann.

Gebunden ist die zaubernde Lilith,
Die das Haus Josefs verzaubern wollte.
Gebunden ist die zaubernde Lilith
Mit einem Gürtel aus Eisen auf ihrem Schädel,
Mit Klammern aus Eisen in ihrem Mund,
Mit der ehernen Kette an ihrem Nacken,
Mit Fesseln aus Eisen an ihren Händen
Und Stücken von Stein an ihren Füßen.

Gebunden ist Lilith mit Ketten aus Blei,
Gebunden sind die Dämonen der Hexer,
Gebunden sind die Dämoninnen der Magierinnen,
Welche verhasste Träume erzeugen,
Halluzinationen,
Verhasste Trugbilder und verhasste Visionen.

Ich beschwöre dich, Lilith Haldas,
Tochter der Lilith Taklath,
Enkelin der Lilith Zarnai,
Die da schlägt und verzaubert und tötet,
Die da Knaben erwürgt,
O Lilith Haldas, entfliehe,
Geh weg, weiche von Josefs Haus,
Der Schwelle, der Wohnung, dem Gebäude,
Vom Bett und vom Kissen Josefs,
Und zeige dich ihm nicht,
Weder in seinen Träumen zur Nacht
Noch in seinen Gesichten am Tag.

Ich beschwöre dich, Lilith,
Dich und alle deine sieben Dämoninnen,
Im Namen des Herrn, des Gottes Israels,
Abrahams und Isaaks und Jakobs,
Im Namen der Seraphim und Cherubim,
Im Namen der Erzengel und der Schutzengel,
Im Namen der heiligen Matrone Maria,
Maria sei gebenedeit,
Dass du und alle deinen sieben Dämoninnen
Diesem Manne keinen Schaden zufügst.

Heiliger Adam, heilige Eva!
Hinaus mit Lilith!

Hallelujah!


ZWEITER GESANG
DER TRAUM VON KARINA


I

Ich bin ein Jude,
Fünfzig Jahre alt,
Eine melancholische Seele.
Ich träumte diesen Traum:

Ich liege nachts mit geschlossenen Augen,
Aber wach, in meinem Bette.
Da schwebt durchs geschlossene Fenster
Ein wunderschönes Weib
Und bleibt an meiner linken Seite stehen.
Sie schaut mich mit ernsten Blicken an,
Spricht aber kein Wort.
Ihr Oberkörper ist nackt,
Ihre nackten Brüste sind üppig.
Ihre Haut ist schwarz.
Sie hat große schwarze Augen
Und wallende schwarze Lockenfluten,
Die flattern hinter ihrem Rücken.
An den Schultern trägt sie zwei Flügel.
Das Weib ist wunderschön
Und sehr verführerisch.
Ich bin von ihr fasziniert,
Wage aber nicht, sie anzusprechen.

Die erste Assoziation lautet:
Ich bin schwarz und schön,
Sagt Sulamith im Hohenlied.
Die zweite Assoziation lautet:
Das ist die Hure Karina.

Das Hohelied Salomos ist eine Sammlung
Altorientalischer Liebeslieder,
Sie wurden zur Hochzeit gesungen,
Da Braut und Bräutigam
Herrschten als Königin und König.
Ursprung dieser Liebeslieder
Sind die Hymnen der Heiligen Hochzeit
Von Inanna und Dumuzi.
Die allegorische Deutung
Legt die Liebeslieder aus
Auf Jahwe und Jungfrau Israel,
Auf Christus und die Kirche,
Auf Jesus und die Seele,
Auf den Heiligen Geist und Maria.

Samuel Ben Meir
Legte das Hohelied aus
Mit Hilfe provencalischer Troubadourdichtung
Und Ibn Ezra nahm hinzu
Die arabische Liebeslyrik.

Im Hohelied sagt Sulamith:
Schwarz bin ich, aber schön,
Schwarz wie die Zelte von Kedar
Und schwarz wie die Zeltdecken von Salma.
Schaut mich nicht an, dass ich so schwarz bin,
Dass mich die Sonne so verbrannt hat.

In diesem Karina-Traum
Stellt die Traumfigur Karina
Die unbewusste weibliche Seele
Des Träumers dar.

Es handelt sich hier um eine
Überpersönliche, archetypische Frau.

Der Doppelaspekt der Anima-Figur
Lässt sie erscheinen als hoheitvolle
Geliebte des Königs
Und andrerseits als verführerische Hure.

Das lichte Bild der Anima
Wird von Sulamith verkörpert,
Das dunkle Bild der Anima
Wird von Karina verkörpert.

Im Bewusstsein des Träumers
Existiert ein sehr lichtes Anima-Bild,
Darum unbewusst im Traum
Kompensiert er dies lichte Bild
Mit der dunklen Traumfigur Karina.

Die Begegnung mit dem archetypischen Bild
Bedeutet eine intensive Faszination,
Die oft von inneren Bildern ausgeht.
Aber gleichzeitig ist da die Angst,
Der inneren Verführerin zu verfallen.
Steigern sich diese Ängste,
Können sie in eine Psychose führen.

Die schwarze Farbe der Traumfigur
Stellt sie in eine Reihe
Mit archaischen schwarzen Muttergöttinnen,
Isis, Kali, Artemis von Ephesos,
Der Schwarzen Madonna von Tschenstochau,
Der Jungfrau von Guadelupe.

Die Schwärze der prima materia
Bei den Alchemisten
Ist ein Ausdruck des Unbewussten.
Sie ist ein gefährlicher Zustand,
Der in einem Reinigungsprozess
Abgewaschen werden muss,
Damit zuerst die rubedo erscheint
Und dann die albedo.
Die gefährliche Nigredo
Muss erst noch purgiert werden.

Die langen schwarzen Lockenfluten
Und die großen schwarzen Augen
Sind Ausdruck wilder Natur
Und ungezähmter Triebe.

Die üppigen nackten Brüste
Sind ein sakrales Symbol.
Das Enthüllen der Brüste
Gehörte im minoischen Kreta
Zum sakralen Kult der Priesterin
Der Großen Mutter.

Auch Astarte in Israel
Zeigte offen ihre bloßen Brüste.
Die üppigen nackten Brüste
Sind ein sakrales Symbol
Der Großen Mutter.

So wird beim Jüngsten Gericht
Die allerheiligste Mutter Maria
Ihre Brüste entblößen
Und zum Richter Christus sagen:
Schau auf meine nackten Brüste,
Meine milchprallen Brüste,
Die du gesogen hast.
Bei diesen meinen nackten Brüsten
Beschwör ich dich, o Jesus,
Rette meine Verehrer
Und gedenke, dass sie Fleisch sind
Und keine reinen Engel.


II

Melancholischer Träumer!

Die Melancholie war für den Träumer
Eine Erfahrung der Qual.
Sie war nicht immer vorhanden,
Aber sie steigerte sich
Zu gewissen Zeiten derart,
Dass sie zu tiefen Depressionen wurde,
Die sein Selbstvertrauen untergruben,
Zu einer zerstörerischen Selbstkritik führten,
Ihm seine Schaffensfreude nahmen
Und seinen Lebenswillen vernichteten.

Es gibt bestimmte Depressionen,
Die sind ein Erbe.

Es sind Depressionen,
Die in einer geheimnisvollen Verbindung stehen
Mit schöpferischen Prozessen.
Ich nenne diese Depression lieber
Schöpferische Melancholie.

Derartige Depressionen lassen sich
Nachweisen bei schöpferischen Menschen,
Malern und Musikern,
Philosophen und Dichtern.

Ich nenne es eine bestimmte
Saturnische Veranlagung der Genies.
Denn es gibt eine Verbindung
Zwischen der Melancholie
Und dem alten Gott Saturn.

Der alte Gott Saturn
Ist Spender der Weisheit,
Der Reife, der Intelligenz,
Der schöpferischen Kräfte.
Diese Gnaden pries man am alten Gott Saturn
Vor allem in der Philosophie des Neoplatonismus.

Aber Saturn ist auch der Gott,
Der die Menschen in Trübsal stürzt,
In Einsamkeit und Verzweiflung.
So heißt es englisch saturnine,
Dem Saturn geweiht und melancholisch.

Die Lehre der Temperamente
Oder Humore
Geht auf Hippokrates zurück
Und wurde von den alten Griechen
Und mittelalterlichen Arabern
Immer weiter entwickelt.

Jupiter ist warm und feucht,
Voll grüner Galle,
Die Leber ist ihm zugeordnet,
Jupiter erzeugt die Sanguiniker.

Mars ist warm und trocken,
Voll gelber Galle,
Die Leber ist ihm zugehörig,
Mars erzeugt die Choleriker.

Merkur ist kalt und feucht,
Voll weißer Galle,
Die Lunge ist ihm zugehörig,
Merkur erzeugt die Phlegmatiker.

Saturn ist kalt und trocken,
Voll schwarzer Galle,
Die Milz ist ihm zugehörig,
Saturn erzeugt die Melancholiker.

Galenus sagte von der Melancholie,
Sie sitze im Hypochondrion
Unter dem Brustbein und den Rippen.

Aristoteles sah die Melancholie ambivalent.
Er sprach von einer krankhaften Melancholie,
Melancholia dia noson,
Und von einer natürlichen Melancholie,
Melancholia dia physin.
Die schwarze Galle der Milz oder
Mélania cholè
Vermag in der rechten Dosierung und Temperatur
Den Menschen zu großen geistigen Werken zu inspirieren,
Doch durch falsche Dosierung und Temperatur
Entstehen Depressionen.

Diese Lehre wurde in der Renaissance
Im Florenz der Medici
Von Dante und Petrarca
Und von Ficino weiter entwickelt.
Wie Petrarca, so war auch Ficino
Einer schweren Melancholie unterworfen.
Er schrieb in einem Brief an einen Freund,
Dass er die Bitterkeit der Melancholie
Und die Bösartigkeit des Saturn
Am eignen Leibe erfahren hat.
Aber er hatte auch erkannt,
Dass gerade Saturn es war, der ihn befähigte
Zu großer geistig-schöpferischer Arbeit.
Darum akzeptierte Ficino
Seine Melancholie.
Er nannte Saturn
Das edelste und mächtigste Gestirn
Und die Melancholie
Eine einzigartige göttliche Gabe.

Agrippa von Nettesheim
Sprach vom Planeten Saturn
Und seinem furor melancholicus.

Lavater sprach von der erhabenen,
Sanften und tiefsinnigen Melancholie,
Der unzertrennlichen Gefährtin des Genius.

Dürers Bild Melencolia I
Zeigt ein geflügeltes Weib
Mit ernstem Blick.
Sie sitzt in tiefer Selbstversunkenheit da,
In Ergebung in ihr Schicksal.
Eine Fledermaus trägt auf dem Flügel
Die Inschrift: Melencolia I.
Auf dem Boden liegt ein schlafender Hund.
In der Mitte ist ein geflügeltes Kind.
Neben Glocke, Stundenmaß und Waage
Finden sich verschiedene Werkzeuge.
Der Kranz feuchter Blätter
Auf dem Kopf des Weibes
Und die magischen Zahlenquadrate
Deuten an, wie man Herr wird
Seiner eigenen Melancholie.

Melanchthon sprach einmal von der
Melancholia generosissima Duereri.

Melancholie findet sich
In der Marienbader Elegie Goethes,
Bei Leopardi und Verlaine,
Im Lied von der Erde Gustav Mahlers.

In der Philosophie ist besonders
Kierkegaard zu erwähnen
Als ein treffendes Beispiel dafür,
Wie ein Mensch aus tiefen Depressionen
Schöpferische Kräfte gewinnen kann.

In der Mystik ist es vor allem
Johannes vom Kreuz,
Der die dunkle Nacht der Seele besungen
Als mystischen Weg
Zur Vereinigung mit der göttlichen Weisheit.


III

Imagination:

Ich bin auf der Suche
Nach dem alten jüdischen Friedhof
Von Toledo,
Wo ich alte Grabsteine
Entziffern soll.
Aber der Friedhof ist nicht mehr vorhanden.
An seiner Stelle wurde eine Kathedrale gebaut.
Ich gehe weiter
In ein andres jüdisches Quartier
Und erkundige mich
Nach dem Rabbi von Toledo.
Da kommt ein zwanzigjähriges Mädchen,
Des Rabbis Enkelin.
Sie ist ein wunderschönes Mädchen
Mit großen Augen
Und langen roten Haaren.
Sie trägt ein rotes Kleid.
Ich frage sie nach ihrem Namen.
Sie sagt: Ich heiße Simcha,
Aber meine Freunde nennen mich Karina.
Ich sagte: Wenn du Karina bist,
Wo sind dann deine Flügel?
Sie errötete und schwieg.
Dann führte sie mich zu ihrem Großvater.
Ich fragte den Rabbi von Toledo:
Rabbi, was muss ich noch lernen?
Der Rabbi sagte: Lerne zu tanzen!
Da rief der alte Rabbi seine Enkelin
Und sie beginnt, mich das Tanzen zu lehren.
Der Rabbi klatscht den Takt mit den Händen
Und Simcha-Karina tanzt mit mir.
Wir tanzen im Dreischritt,
Wir tanzen im Kreis.
Nach dem Tanz
Überreicht mir das Mädchen
Einen goldenen Ring,
Den ich an meinen Ringfinge stecke.
Der Rabbi übergibt mir ein Buch,
Dass ich dem Rabbi von Jerusalem bringen soll.

Toledo ist die Hauptstadt
Von Kastilien, neben Katalonien
Das bedeutendste Zentrum jüdischer Mystik.
Toledo ist kreisrund gebaut
Und liegt im Zentrum Spaniens
Auf einem Hügel,
Auf drei Seiten vom Tajo umflossen.
Die Kathedrale von Toledo
Ist wunderschön und prächtig.
Sie basiert auf den Fundamenten
Einer alten Moschee,
Die wiederum errichtet worden war
Auf den Fundamenten
Eines griechischen Tempels.

Die runde Stadt ist ein Symbol
Für psychische Ganzheit.
Die viergeteilte runde Stadt
Ist ein Symbol des Selbst.
Dieses Symbol taucht im Talmud auf
Und im Neuen Testament.

Das himmlische Jerusalem
Ist das Urbild
Des irdischen Jerusalem,
Das in der letzten Zeit
Von Gott herab geschickt werden wird,
Dann wird das himmlische Jerusalem
Das zerstörte irdische Jerusalem ersetzen.

Auch das irdische Jerusalem
Ist der Mittelpunkt des heiligen Landes,
Das heilige Land ist der Nabel der Welt.
Und im irdischen Jerusalem
Ist der zerstörte Tempel das Zentrum.

Der Träumer ist auf der Suche
Nach dem jüdischen Friedhof.
Er sucht den Kontakt
Zu seinen Toten.

Statt der Toten tritt ihm entgegen
Ein junges lebendiges Mädchen.

Die Traumfigur heißt Simcha,
Das bedeutet auf hebräisch: die Wonne.
Sie ist ein schönes Sinnbild
Für die Lebenslust des Träumers.

Aber sie ist auch Karina,
Aber nicht mehr die archaische Göttin
Und auch keine Dämonin der Nacht,
Sondern eine schöne Menschentochter.

Die roten Haare und das rote Kleid
Zeigen die Gefühle des Träumers.
Rot ist die Farbe der Liebe.

Alchemistisch gesprochen
Ist aus der Nigredo der ersten Begegnung
Das Rubedo der zweiten Begegnung geworden.

Die Traumfigur der zweiten Begegnung
Ist jünger als das Weib
Des ersten Karina-Traumes.

Ein infantiler Mann
Hat eine mütterliche Anima,
Ein in seinem Bewusstsein alter Mann
Hat eine jüngere Anima.

Die Jugend des Mädchens zeigt
Den inneren Reifungsprozess
Im Bewusstsein des Träumers.

Die Anima führt den Träumer
Zu ihrem Großvater-Rabbi.
So ist aus der Verführerin
Eine Seelenführerin geworden.
Sie führt den Träumer
Zur archetypischen Figur des Alten,
Des Symbols der Weisheit.

Der Tanz ist nicht in erster Linie
Ein erotischer Tanz,
Obwohl er auch erotisch ist,
Es ist ein sakraler Tanz,
Der Tanz des Derwisches auf dem Grab,
Der Tanz Davids vor der Bundeslade.

Die Anima gibt dem Träumer
Einen goldenen Ring,
Es ist der Ring der mystischen Vermählung.
Bei der jüdischen Trauung
Steckt der Bräutigam der Braut einen Ring an
Und spricht dazu die Worte:
Durch diesen Ring bist du mir
In Heiligkeit verbunden
Nach dem Gesetze Moses.

Das Buch, das der Träumer erhält,
Bedeutet die Aufforderung
Zur weiteren Vertiefung
In das geistige Erbe
Und die Tradition der Weisheit.

Dies ist die erotische Skala
Des Ewigweiblichen:
Auf der untersten Stufe
Steht das Gretchen des Faust,
Die Mutter Eva
In ihrer biologischen Mutterschaft
Und triebgebundnen Erotik.
Dann erscheint die schöne Helena,
Ausdruck künstlerischer Schönheit,
Romantisch-ästhetischer Verehrung
Der reinen Schönheit.
Daraufhin erscheint
Die selige Jungfrau Maria,
Vor ihr wird die Erotik
Zur religiösen Devotion,
Zur Hyperdulie vor der Mater Gloriosa,
Jungfrau, Mutter, Königin,
Ja, Göttin der Gnade.
Die selige Jungfrau Maria
Führt zur Spitze der erotischen Skala,
Zur Anbetung der Hagia Sophia.
Das Ewigweibliche zieht uns hinan,
Denn auf der Spitze der Himmelsleiter

Erscheint die Sapientia Divina.