Studie von Josef Maria Mayer
ERSTES KAPITEL
LENIN
Lenin stammte aus einer sozial und kulturell liberalen
Familie, die einst in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Seine deutsch
erzogene Mutter wuchs in einem Dorf auf und erhielt eine häusliche Bildung. Als
Autodidaktin erlernte sie mehrere Fremdsprachen. Sie heiratete den Mathematik-
und Physiklehrer Uljanow. Obwohl sie im selben Jahr als Externe das
Lehrerinnenexamen ablegte, worauf sie sich selbstständig vorbereitet hatte,
widmete sie sich ganz ihrer Familie.
Lenins Vater hatte die Kasaner
Universität absolviert. Er gab seine langjährige Lehrtätigkeit an höheren
Schulen in Pensa und Nischni Nowgorod auf und wurde zunächst Inspektor, später
Direktor von Volksschuleinrichtungen in Simbirsk. Er wurde dann in den
erblichen Adelsstand erhoben. In fast zwanzig Jahren seiner Tätigkeit stieg die
Zahl der Schulen im Gouvernement Simbirsk bedeutend. Außerdem erzog er viele
„fortschrittliche Lehrer“, die „Uljanows“ genannt wurden.
Die Eltern Lenins lebten in
Simbirsk. Die Familie Uljanow hatte dabei eine Geschichte des sozialen
Aufstiegs hinter sich. Lenins Großvater väterlicherseits war ein aus der
Leibeigenschaft befreiter Bauer, der sich als Schneider niederließ.
Nach zaristischer Rangordnung war
Lenin ein Adliger, auch wenn erst der Vater in den Adelsstand erhoben worden
war und die Familie nicht recht an die höhere Gesellschaft anschließen konnte.
Sein Vater verstarb unerwartet an einer Hirnblutung. Lenins älterer Bruder
Alexander, Student an der Mathematisch-Physikalischen Fakultät an der
Universität Sankt Petersburg, hatte sich einer revolutionären Gruppe
angeschlossen, die den Zaren Alexander III. ermorden wollte. Er wurde
hingerichtet. Die Familie wurde anschließend fast vollständig gemieden, lebte
aber trotz des Todes des Vaters und der Schande der Hinrichtung des Sohnes in
materiellem Wohlstand. Neben einer stattlichen Rente hatte sie Einkünfte aus
dem Besitz eines Landguts, das noch zu Lebzeiten des Vaters aus der Mitgift der
Mutter erworben worden war.
Zusammen mit dem frühen Tod des
Vaters prägte die Hinrichtung seines Bruders den jungen Lenin entscheidend.
Sein Bruder wurde drei Tage nach dem Beginn der Abschlussprüfungen Lenins an
der Schule gehängt. Lenin bestand dies Prüfung trotzdem. Er studierte die
Bücher, die Alexander hinterlassen hatte, vor allem die des verbannten
Revolutionärs Tschernyschewski, der für eine klassenlose Gesellschaft eintrat.
Lenin hatte viele intellektuelle Interessen wie Literatur und Altphilologie und
war auch ein geschickter Schachspieler.
Lenin konnte nicht in Sankt
Petersburg studieren und schrieb sich an der Universität Kasan für das Studium
der Jurisprudenz ein. Schon in seinem ersten Jahr beteiligte Lenin sich an
einem Studentenprotest und wurde zusammen mit anderen Studenten von der
Universität verwiesen. Lenin nahm bei diesem Treffen keine führende Rolle ein.
Seine Bestrafung durch die Behörden war vor allem durch die Geschichte seines
Bruders motiviert. Der Vater des späteren Ministerpräsidenten Kerenski der
Provisorischen Regierung, der Lenin am Gymnasium unterrichtet hatte, setzte
sich vergeblich für die Aufhebung des Urteils ein.
Bei Samara bezog die Familie ein
Gut, das sie mit ihrem Kapital erworben hatte; bald darauf aber verpachtete sie
es. Lenin erwies sich als ungeeignet zum Gutsverwalter und gab sich auch keine
Mühe. Entgegen einer später von den Kommunisten verbreiteten Behauptung hat er
keine Kontakte zu Bauernfamilien gehabt, sein Wissen über das Bauerntum stammte
vielmehr nur aus Büchern. Diese äußerten sich negativ über die russischen
Bauern, denen sie Trunksucht, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit unterstellten.
Lenin lebte vom Vermögen der
Familie, unternahm lange Wanderungen, gab den jüngeren Geschwistern Nachhilfe,
las politische Literatur und setzte sein Jurastudium fort. Er durfte die
Prüfungen abschließen, was ihm auch gelang. Die spätere kommunistische
Propaganda verschwieg, dass auch Kirchenrecht zu seinen Fächern gehörte. Dann
nahm Lenin eine Tätigkeit als Advokatengehilfe auf. Er betätigte sich auch in
einigen wenigen Fällen als Advokat und nahm zwei Fälle an, einmal gegen Bauern,
die ihr Vieh unberechtigterweise auf dem Anwesen seiner Familie hatten weiden
lassen, ein anderes Mal klagte er gegen einen ehemaligen französischen Adligen,
der ihn bei einem Besuch in Paris mit seinem Auto angefahren hatte.
Lenin beschäftigte sich bereits
in jungen Jahren mit verschiedenen politischen Theorien. Einerseits setzte er
sich kritisch mit den russischen „Bauernsozialisten“ (Narodniki), andererseits
mit den Thesen von Karl Marx, die er bereits theoretisch interpretierte,
auseinander. Lenin hielt Russland für wirtschaftlich und sozial
fortgeschrittener als es tatsächlich war, sodass er an eine baldige
proletarische Revolution glaubte. Andere Revolutionäre fanden, Lenins Marxismus
setze zu sehr auf die terroristischen Aspekte der Narodniki, zum Beispiel
wiederholte Lenin immer wieder den Satz „das ganze Haus Romanow“ müsse getötet
werden.
Lenin verurteilte die
Hilfsaktionen der gebildeten Schicht anlässlich der Hungersnot in der Provinz
Samara, in der er als Advokat tätig war. Er wertete die Hungersnot als Schritt
in Richtung Sozialismus, da sie den Glauben an den allmächtigen Gott und den
gottbegnadeten Zaren zerstöre. Vom Pächter seines eigenen Landgutes forderte er
die volle vereinbarte Summe, der wiederum die Bauern trotz der Hungersnot voll
zahlen ließ.
Lenin zog nach Sankt Petersburg.
Dort studierte er die Theorien von Plechanow, dem er später in der Schweiz auch
selber begegnete. Nach einer mehrmonatigen Europareise durch Deutschland,
Frankreich und die Schweiz gründete er den „Bund für die Befreiung der
Arbeiterklasse“. Sobald er im Herbst nach Russland zurückgekommen war, nahm er
seine demagogische Tätigkeit wieder auf.
Während der Vorbereitung einer
illegalen Zeitung wurde er verhaftet (die Anklage lautete: Demagogie). Im
Untersuchungsgefängnis richtete er sich eine Bibliothek in seinem
„Studierzimmer“ ein. Anschließend wurde er für drei Jahre nach Südsibirien
verbannt, wo er unter Polizeiaufsicht leben musste. In Ufa traf er Nadeschda
Krupskaja, die er in der Verbannung heiratete.
Sofort nach der Rückkehr aus der
Verbannung suchte Lenin nach einer Möglichkeit, eine von der Zensur unabhängige
Zeitung herauszubringen. In Russland war das nicht möglich, und so ging er für
über fünf Jahre ins Ausland. Nach einem kürzeren Aufenthalt in Genf, wo er sich
mit Plechanow über die Herausgabe der Zeitung „Der Funke“ einigte, ließ sich
Lenin in München illegal nieder. Dort erschien die von ihm mit herausgegebene
Zeitung „Morgenröte“.
Er veröffentlichte in der
bayerischen Landeshauptstadt die programmatische Schrift „Was tun?“ unter dem
Decknamen „Lenin“. Sie machte ihn unter den Revolutionären bekannt,
polarisierte aber auch stark. Denn darin entwarf er das Konzept einer geheim
agierenden, disziplinierten und zentralisierten Klassenkampf-Partei, bestehend
aus Berufsrevolutionären. Die Partei sollte in ideologischen und strategischen
Fragen geeint auftreten und die ungebildeten Masse der Bevölkerung auf dem Weg
zur Revolution anführen. Die Notwendigkeit einer solchen konspirativen
Organisation begründete Lenin damit, dass im Autokratischen Zarenreich keine
andere Partei erfolgreich einen Umsturz einleiten könne. Lenin wandte sich in
seiner Schrift explizit gegen die liberale Linke, die eine Veränderung durch
demokratische Organisation und Gewerkschaften erwirken wollte. Die Idee der
Partei als straff geführte Geheimorganisation war bei den Organisationsbereiten
unter Russlands Linken nicht strittig, und Lenin bemühte sich mit Zitaten von
Marx und Engels, die Forderungen marxistisch zu begründen. Manchen russischen
Sozialdemokraten empörte es, dass Lenin dabei terroristische Bauernführer und
den Massenterror lobte. Lenins Betonung der Konspiration musste als Aufruf zu
Verschwörungen interpretiert werden. Später wurde Lenins Organisationsmodell
als „demokratischer“ Zentralismus bekannt.
Seit München verwendete er den
Kampfnamen „Lenin“. Man sagt, dass er sich dabei auf den sibirischen Strom Lena
bezog. Lenin bedeutet russisch: „Der vom Fluss Lena Stammende“. Nach Sibirien
verbannt zu werden, bedeutete damals praktisch, dass man im Heiligen Russischen
Zarenreich als Oppositioneller galt. Andere sagen, dass er mehr an sein
Kindermädchen Lena dachte, und dass er bereits als kleiner Junge auf die Frage,
„wessen Kind er sei“, zu antworten pflegte: „Lenin!“, zu deutsch: „Lenas!“
Lenin hatte mehrere Decknamen,
beispielsweise lebte er im Münchner Stadtteil Schwabing als Jordan Jordanow und
andernorts in München unter dem Namen Mayer.
Lenin betrieb den Aufbau einer
streng organisierten Kaderpartei aus Berufsrevolutionären und wurde wegen
seiner vom russischen revolutionären Terrorismus inspirierten Rigorosität und
wegen seiner radikalen theoretischen Positionen der aufsehenerregendste linke
Sozialdemokrat.
Die Ansichten und Absichten
Lenins führten auf dem zweiten Parteitag in London zur faktischen Spaltung der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Lenin hatte mit erfolgreicher
List seine Anhänger in das Organisationskomitee platziert. Unterstützt von
Plechanow und durch den Auszug der reformorientierten Ökonomisten und der
jüdischen Delegierten vom Bund gelang es Lenin, seine Hauptforderungen in das
Parteiprogramm und das Statut zu bringen, unter anderem die Betonung der
Diktatur des Proletariats. Lenin nannte aufgrund der Abstimmungsmehrheit seine
Gruppe Bolschewiki (Mehrheit) und die Gemäßigten Menschewiki (Minderheit).
1905 brach eine russische
Revolution aus, während das Land sich im Krieg mit Japan befand. Für Lenin
stand nicht der innenpolitische Kampf gegen die Regierung, sondern der Kampf
gegen die Menschewiki im Vordergrund, während er außenpolitisch für Japan
Partei ergriff. So wird er auch später im Ersten Weltkrieg die Feinde des
Zaristischen Russlands unterstützen. Diese Haltungen Lenins haben bei anderen
Parteimitgliedern nicht viel Verständnis gefunden; einige von Lenins engsten
Mitarbeitern wollten einen dritten Parteitag vorbereiten und dort die
Versöhnung der Bolschewiki mit den Menschewiki bewirken. Einen schroffen Brief
an die Bolschewiki, der Lenin vollkommen isoliert hätte, schwächte er in einem
späteren Entwurf ab. Trotzdem haben sich die Bolschewiki über Lenins
Realitätsferne gewundert.
In dieser Zeit nahm Lenin auch
den Sowjet-Gedanken auf, während viele Bolschewiki einer Verschwörung im
Geheimen den Vorzug gaben. Nach dem Moskauer Aufstandsversuch der Bolschewiki
im Dezember 1905 war Lenin skeptisch, was Aufstände anging, die Partei solle
sich besser in das Parlament wählen lassen. Er befürwortete damals noch die
Zusammenarbeit mit den Menschewiki.
Dann musste Lenin vor der
russischen Geheimpolizei nach Finnland fliehen, nach Helsinki, ein Jahr später
zog er nach Genf.
Im Laufe der Jahre wurden die
Unterschiede zwischen den beiden Lagern immer größer, so dass bei der sechsten
Gesamtrussischen Parteikonferenz in Prag die Menschewiki ausgeschlossen wurden.
Sie bildeten daraufhin eine eigene Partei. Erst nach der Oktoberrevolution
nannten die Bolschewisten ihre Partei in Kommunistische Partei Russlands um.
Die Parteispaltung war von der
zaristischen Geheimpolizei gefördert worden; Lenins enger Mitarbeiter Roman
Malinowski war ihr Agent. Mitglieder der Bolschewiki verdächtigten Malinowski
als Spion, nachdem einige Parteimitglieder verhaftet worden waren. Lenin tat
diese Vorwürfe im Rahmen einer partei-internen Untersuchung mit Verweis auf
dessen Herkunft aus einer Arbeiterfamilie ab.
Lenin gab nun die „Prawda“
heraus. In der Folgezeit widmete er sich im Schweizer Exil wieder marxistischen
Studien, es entstand vor allem seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes
Stadium des Kapitalismus“, die die Grundlage der marxistischen Theorie des
Imperialismus sowie der darauf basierenden Theorie vom staatsmonopolistischen
Kapitalismus bildete. Dieses Werk vollendete er in Zürich, wohin er umziehen
durfte, nachdem er ein entsprechendes Ersuchen mit dem Wunsch nach Nutzung der
dortigen Zentralbibliothek begründet hatte.
Im August 1914 begann der Erste
Weltkrieg. Lenin hatte über einen österreichisch-russischen Krieg spekuliert,
ihn aber in einem Brief an Maxim Gorki für unwahrscheinlich gehalten:
„Ein Krieg zwischen Österreich
und Russland wäre für die Revolution in ganz Osteuropa sehr nützlich, aber es
ist kaum anzunehmen, dass uns Franz Joseph und unser Freund Nikolaus dieses
Vergnügen bereiten.“
Die Bolschewiki waren
international die einzige sozialdemokratische Parteiorganisation, die von
Anfang an gegen die Kriegspolitik der eigenen Regierung mobilisierte. Dennoch
gelang es der Partei nicht, sich einen nennenswerten Rückhalt in der
Bevölkerung zu verschaffen. Ihre Mitgliederzahl, ihre Akzeptanz und ihr
Einfluss blieben gering.
Die deutsche Oberste
Heeresleitung ermöglichte den Bolschewiki, unter den russischen
Kriegsgefangenen Propaganda zu betreiben, und nach der Februarrevolution ließ
sie Lenin und andere russische Revolutionäre aus der Schweiz durch Deutschland
reisen, weiter ging es über Stockholm nach Russland.
Diese Reise war vom deutschen
Kaiser Wilhelm II. persönlich an die Bedingung geknüpft, dass Lenin einen
Separatfrieden anstrebe, was dieser vorher kategorisch abgelehnt hatte und nach
seiner Ankunft in Russland auch weiterhin dementierte. Um nicht in den Verdacht
des Vaterlandsverrats zu kommen, bezeichnete Lenin die finanzielle
Unterstützung der Bolschewiki durch das deutsche Kaiserreich wider besseres
Wissen öffentlich als Lüge.
Nachdem in der Februarrevolution
der heilige Zar gestürzt worden war, die russische Armee aber noch
weiterkämpfte, kehrten Lenin und andere Kommunisten mit Unterstützung der deutschen
Obersten Heeresleitung aus der Schweiz über das Gebiet des Kriegsgegners
Deutschland, über Schweden und Finnland nach Russland zurück. Sie fuhren in
einem versiegelten Zug, der zu exterritorialem Gebiet erklärt worden war.
Außerdem transferierte die deutsche Regierung auch mehrere Millionen Goldmark,
um die mit der Revolution einhergehende Destabilisierung voranzutreiben. Lenin
erreichte im April mit einigen seiner Genossen den Finnischen Bahnhof in Sankt
Petersburg und propagierte die Revolution zur Machtergreifung der Arbeiter,
Bauern und Soldaten. In seinen Aprilthesen forderte er umfangreiche
Enteignungen, eine Machtübertragung an die Sowjets und den Sturz der
provisorischen Regierung.
Lenin stellte sich gegen die
provisorische Regierung unter Kerenski, den er öffentlich als Dummkopf
schmähte. Bereits im Juni verkündete Lenin im Rahmen des Vierten Allrussischen
Sowjetkongresses die Ambition der Bolschewiki, die Macht im Land zu übernehmen.
Seine Forderungen nach einer Verteilung des Landes an die Bauern ohne
Entschädigung und nach der Enteignung der reichsten Bevölkerungsschicht wurden
rasch populär. Die Bolschewiki agitierten in der russischen Armee gegen die
Weiterführung des Krieges, auch wenn Lenin einen Separatfrieden noch öffentlich
ablehnte. Als sich das Scheitern der Angriffsoperationen abzeichnete, warf
Lenin der Provisorischen Regierung vor, Tausende Menschen in ein blutiges
Gemetzel getrieben zu haben. Im Juli versuchte Lenin den Prestigeverlust der
Regierung für die Ziele der Bolschewiki auszunutzen. In der Hauptstadt Sankt
Petersburg forderte die Partei zu Massendemonstrationen auf. Diese führten aber
nicht zum Umsturz, sondern schlugen sich nur in chaotischen bewaffneten
Auseinandersetzungen und Plünderungen nieder. Lenin stellte fest, dass ein
Aufstand besser organisiert werden müsse, um effektiv zu sein. Er selbst befand
sich zu Beginn der Demonstrationen nicht in der Hauptstadt, sondern zur
Erholung in Finnland. Die Provisorische Regierung setzte Militär ein und
brachte die Stadt so wieder zur Ruhe. Zudem wurde ein Gerichtsverfahren gegen
Lenin wegen Hochverrats anberaumt. Die Partei der Bolschewiki und ihr
Hauptpresseorgan, die „Prawda“, wurden offiziell von der Regierung verboten.
Der Partei gelang es allerdings durch eine Namensänderung der Partei sowie der
„Prawda“, weitgehend ihre Aktivitäten aufrechtzuerhalten.
Lenin fürchtete nach diesem
Scheitern die Todesstrafe, falls er sich der Anklage stellen würde, und begab
sich in den Untergrund. Er nahm nach den Maßnahmen der Regierung gegen die
Bolschewiki einen Strategiewechsel vor, den er selbst wie folgt zusammenfasste:
„Alle Hoffnungen auf eine
friedliche Entwicklung der russischen Revolution sind nutzlos verschwunden.
Dies ist die objektive Situation: Entweder vollständiger Sieg der Militärdiktatur
oder der Sieg für den bewaffneten Aufstand.“ Er drängte somit auf einen
bewaffneten Aufstand.
Nach weiteren militärischen
Fehlschlägen der gemäßigt sozialistisch-liberalen „Provisorischen
revolutionären Regierung“ unter Kerenski gelang es den Bolschewiki und den neu
gegründeten Sowjets am 7. November 1917 , die bürgerliche Regierung zu stürzen.
Trotzki, Lenins Vertrauter, organisierte den Aufstand, der auf wenig Gegenwehr
stieß. Bei diesem Auftakt zur Oktoberrevolution wurden sechs Menschen getötet.
Einen Tag später tagte in Sankt Petersburg auch der Zweite Allrussische
Sowjetkongress. Die Bolschewiki besaßen in diesem zentralen Arbeiter- und
Soldaten-Sowjet zunächst keine Mehrheit. Aus Protest gegen das Vorgehen der
Bolschewiki verließen jedoch viele Abgeordnete, darunter die Menschewiki, den
Sitzungssaal und überließen den Bolschewiki das Feld. Lenin wurde über Nacht
als Vorsitzender des Sowjets der Volkskommissare der Regierungschef Russlands.
„Ein steiler Aufstieg aus dem Keller an die Macht“, sagte er, „mir dreht sich
der Kopf“.
Auf dem Zweiten Sowjetkongress
legte Lenin noch dar, dass seine Regierung die Russische konstituierende
Versammlung respektieren werde und sich lediglich als Provisorium bis zu deren
Wahl verstehe. Die Wahl lief selbst demokratisch und ohne Zwischenfälle ab. Sie
brachte den Bolschewiki aber eine empfindliche Niederlage ein, da die Mehrheit
der Stimmen an die Sozialrevolutionäre ging und Lenins Partei nur rund ein
Viertel der Sitze gewann. Legal war eine Machtübernahme damit unmöglich.
Daraufhin ließ Lenin, der bereits zuvor die Legitimation der Versammlung
kritisiert hatte, sie am Tag nach der Wahl gewaltsam auflösen. In Sankt
Petersburg kam es daraufhin zu Demonstrationen und gewalttätigen
Zusammenstößen, in deren Verlauf mehrere Menschen zu Tode kamen.
Der sofortige Friedensschluss,
die Verteilung des Bodens an die Bauern und die Übernahme der Fabriken durch
die Arbeiter waren die unmittelbar wirkenden Losungen. Die Partei etablierte
unter Lenins Vorsitz den Rat der Volkskommissare als bolschewistische
Regierung. Im Februar entstanden zu ihrer Unterstützung die Rote Armee unter
der Führung Trotzkis und die Geheimpolizei Tscheka unter Dserschinski. Im März
beendete das Abkommen von Brest-Litowsk den Krieg mit Deutschland unter
massiven Gebietsverlusten für Russland.
Lenin wurde bei einem Attentat
durch zwei Schüsse verletzt. Die Projektile trafen ihn in Schulter und Hals.
Als Attentäterin verhaftete man kurz darauf Fanny Kaplan, eine Anhängerin der
Sozialrevolutionäre, die als Anhängerin der gewaltsam aufgelösten
konstituierenden Versammlung Lenin für einen Verräter an der Revolution hielt.
Nach einem Verhör durch die Tscheka wurde sie ohne ein Gerichtsverfahren
exekutiert.
Später wurde die Kugel im Hals
operativ entfernt, nachdem Lenin einem Neuropathologen berichtet, er habe an
Zwangsvorstellungen zu leiden.
Einen Monat nach der Operation
erlitt Lenin einen schweren Schlaganfall. Der Schlaganfall lähmte Lenin
rechtsseitig, erschwerte das Sprechen, verwirrte den Geist und machte eine
Genesung fraglich. Lenin dachte an Selbstmord und bat Stalin um Gift.
Wie lange der Bürgerkrieg
dauerte, ist schwer zu sagen. Geprägt war der Bürgerkrieg von den
Konfliktparteien der Weißen, der Roten und mit den Grünen auch durch Kampfhandlungen
der ländlichen Bevölkerung gegen Rote und Weiße Truppen. Nationale Erhebungen
und anarchistische Strömungen spielten gleichfalls eine Rolle. Um den Krieg zu
gewinnen, griff die bolschewistische Partei zu Maßnahmen des Kriegskommunismus
und setzte sich militärisch erfolgreich durch. Lenin war in diesen Jahren trotz
vieler offen ausgetragener Meinungsunterschiede die unumstrittene
Führungspersönlichkeit der Partei und der Regierung und wurde auch als die
höchste Autorität der dritten Kommunistischen Internationale angesehen.
Bereits kurz nach der
Oktoberrevolution versuchte Lenin, die russische Wirtschaft per Dekret in eine
zentrale Planwirtschaft umzuwandeln. Als Erstes wurden die Banken
verstaatlicht. Gemäß dem Parteiprogramm der Bolschewiki sollte das Geld als
Zahlungsmittel komplett abgeschafft werden. Da das Geld nicht per Dekret
abgeschafft werden konnte, ließ die Regierung durch zusätzliches Gelddrucken
eine Hyperinflation herbeiführen, die alle umlaufenden Geldmittel entwertete.
Lenin beauftragte Juri Larin damit, eine zentrale Planungsinstanz für die
Verstaatlichung der Industrie zu schaffen. Hieraus ging der Oberste
Wirtschaftsrat hervor, der die Enteignung der privaten Unternehmen umsetzte,
deren Eigentümer in der Regel ihre Betriebe entschädigungslos abtreten mussten.
Das Firmenvermögen wurde vom Staat eingezogen.
Neben diesem Umbau in der
Wirtschaft führte Lenin auch Reformen im Bildungswesen durch. Die
Alphabetisierung des Landes wurde von ihm energisch vorangetrieben. Er schuf
per Dekret verpflichtende Unterrichtskurse für Analphabeten. Es wurde die
Einrichtung eines Netzes von Kleinbibliotheken geschaffen, das jedem den Zugang
zu Büchern sichern sollte. Auf der Ebene der Hochschulbildung öffnete Lenins
Regierung den Zugang für ärmere Bevölkerungsschichten und schaffte das
mehrgliederige Schulsystem ab. Es wurden Arbeiterfakultäten eingeführt, die
auch Erwachsenen, denen ein Studium nicht möglich gewesen war, den Zugang zu
universitärer Bildung öffneten.
Gegen die bolschewistische
Regierung formierte sich in vielen Landesteilen Widerstand. Um ihre Macht zu
sichern und den Widerstand zu brechen, setzte die Regierung die vom
Volkskommissar für Kriegswesen Trotzki aufgestellte Rote Armee ein. So
entwickelte sich ein Bürgerkrieg, in den sich Amerika, Großbritannien und
zahlreiche andere Staaten durch die massive Unterstützung der Weißen Truppen
einmischten. Dieser Bürgerkrieg war durch große militärische Härte (Roter
Terror) geprägt und endete mit der Niederlage der Weißen Truppen.
Lenin selbst beschränkte sich
während des Bürgerkriegs weitgehend auf die politische Führung des
Sowjetstaates. Nach seiner eigenen Aussage war es für ihn zu spät, sich
militärische Kenntnisse anzueignen. Er begnügte sich damit, die grobe Strategie
zu bestimmen, in die Planung der militärischen Operationen mischte er sich
dagegen kaum ein. Auf Besuche an der Front verzichtete er während des gesamten
Krieges.
Im Rahmen seiner Weisungsbefugnis
als Staatschef regte er allerdings an, Geiseln unter Zivilisten und Angehörigen
von Offiziersfamilien nehmen zu lassen, da er Hochverrat unter den im alten
Regime ausgebildeten Offizieren fürchtete. Lenin förderte und verlangte als
Staatschef den Roten Terror im Bürgerkrieg. So ordnete er in einem Schreiben an
die Behörden von Nischni Nowgorod an: „Organisiert umgehend Massenterror,
erschießt und deportiert die Hundertschaften von Prostituierten, die die
Soldaten in Trunkenbolde verwandeln, genauso wie frühere Offiziere, und so
weiter.“ Er ordnete gegenüber den Behörden von Pensa die Einrichtung eines
Konzentrationslagers an. Lenin legitimierte den Roten Terror als vorübergehend
notwendige Maßnahme im Bürgerkrieg, er diene der Verteidigung gegen die Weißen
Truppen. So erklärte er „Der Rote Terror wurde uns durch den Terrorismus der
stärksten Mächte der Welt aufgezwungen, die vor nichts zurückschreckend, mit
ihren Horden über uns herfielen. Wir hätten uns keine zwei Tage halten können,
wären wir diesen Versuchen der Offiziere und Weißgardisten nicht ohne Erbarmen
begegnet, und das bedeutet Roter Terror..“ Später sagte Lenin, dass er
keineswegs die Abschaffung des Terrors vorsah: In einem Brief zur Reform der
Justiz äußerte er die Absicht, den Terror staatlichem Konventionen zu
unterwerfen, die Idee ihn abzuschaffen bezeichnete er hingegen als
Selbsttäuschung.
Lenin unternahm nach
innerparteilichen Auseinandersetzungen den Versuch, den Kommunismus im Ausland
zu etablieren. Nachdem polnische Einheiten und ukrainische Nationalisten
vergeblich versucht hatten, die Ukraine zu besetzen und aus dem sowjetischen
Staatenbund zu lösen, ließ die Partei die Rote Armee in Polen einmarschieren.
Die Hoffnung auf eine einsetzende Revolution dort erfüllte sich aber nicht. Die
katholischen und patriotischen Polen kämpften, unabhängig von ihrer
Klassenzugehörigkeit, gegen den sowjetischen Einmarsch. Die Rote Armee wurde
von polnischen Truppen unter Marschall Pilsudski vernichtend geschlagen (das
„Wunder an der Weichsel“).
Während des Bürgerkrieges kam es
zu einer Versorgungskrise. Ursächlich dafür war die Agrarpolitik der
Bolschewiki. Gemäß den Lehren des Marxismus betrachteten sie die
selbstständigen Bauern als eine kleinbürgerliche Klasse ohne Zukunft. Im Zuge
der Zentralisierung der Landwirtschaft sollten die Bauern ihre Erträge zu
niedrigen Festpreisen an die staatlichen Behörden abgeben. Als die Bauern dies
verweigerten, ließ Lenin die Erträge durch bewaffnete Kommandos aus den Städten
einsammeln. Dieses Vorgehen forderte zahlreiche Menschenleben. Die Bauern
reagierten auf die Zwangsmaßnahmen mit militärischem Widerstand und der
Verkleinerung der Anbauflächen, was wiederum zu noch geringeren Erträgen und
vor allem in den Städten zu Hungersnöten führte. Verschärft wurde die
Ernährungslage durch den andauernden Bürgerkrieg.
Dann kam es zum Kronstädter
Matrosenaufstand, der für die Bolschewiki gefährlich war, weil er von Teilen
der eigenen Basis kam. Er wurde blutig niedergeschlagen. Die Bolschewiki
richteten zu ihrer Herrschaftssicherung Konzentrationslager für Regimegegner
ein, die Vorläufer der später von Stalin eingerichteten und umfassenden
Arbeitslager, den Gulags.
Während des Bürgerkrieges
verfolgte Lenin gegenüber der Russisch-Orthodoxen Kirche anfangs noch eine
zurückhaltende Politik. Auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress sprach
sich Lenin dafür aus, die Religion mit gewaltlosen Mitteln der Agitation zu
bekämpfen. Kurz nach seiner Machtübernahme setzte er per Dekret die Trennung
von Kirche und Staat durch. Ein Jahr nach dem Bürgerkrieg dirigierte Lenin eine
groß angelegte Kampagne des Staates und der Partei gegen die Heilige Kirche
Christi. Als Vorwand diente die in weiten Teilen des Landes herrschende
Hungersnot. Führende Kirchenhierarchen hatten als Hilfe für die Hungernden
freiwillig Teile des Kirchenbesitzes als Spenden freigegeben. Lenin verschärfte
diese Maßnahme dadurch, dass er die notfalls gewaltsame Konfiskation sämtlicher
Kirchengüter, inklusive geweihter Gegenstände, anordnete. Diese Maßnahmen
trafen bei großen Teilen der Bevölkerung auf Widerstand.
So äußerte sich Lenin in einem
Brief an das Politbüro bezüglich des Vorgehens in der Stadt Schuja, wo es zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Soldaten, die Kirchenbesitz
einziehen sollten, und gläubigen Christen gekommen war, folgendermaßen: „Je
mehr Vertreter des Priesterstands an die Wand gestellt werden, desto besser für
uns. Wir müssen all diesen Leuten unverzüglich eine solche Lektion erteilen,
dass sie auf Jahrzehnte hinaus nicht mehr an irgendwelchen Widerstand denken
werden“. Dieses Vorgehen führte im ganzen sowjetischen Staatsgebiet zu
staatlich gelenkten Pogromen gegen gläubige Christen, Priester und Ordensleute.
Die Zahl der geöffneten orthodoxen Gotteshäuser fiel von hunderttausend auf
zehntausend. Über fünfzehntausend orthodoxe Priester, Mönche und Nonnen und
Laien wurden dabei von staatlichen Organen ermordet. Auch die katholischen,
jüdischen und muslimischen Minderheiten des Staates wurden ermordet. Auf Lenins
Initiative wurde der einflussreiche Patriarch von Moskau, Tichon, inhaftiert.
Die Orthodoxe Kirche war seit
Gründung des Heiligen Russischen Reiches immer eine Stütze des Zaren gewesen.
In seinem Geheimbrief legte Lenin seine Befürchtung einer vom Klerus geleiteten
Konterrevolution dar und bekräftigte, dass der Klerus bekämpft werden müsse.
Lenin war auch an der Kontrolle
des intellektuellen Lebens im Sinne der Partei maßgeblich beteiligt. Das
Politbüro fasste unter seinem Vorsitz den Beschluss, wissenschaftliche
Kongresse nur noch nach Genehmigung der Geheimpolizei zuzulassen. Lenin
dirigierte eine Repressionswelle gegen führende Wissenschaftler, Künstler und
Studenten des Landes. Ein Teil der Opfer wurde ins Ausland oder innerhalb des
Sowjetstaates verbannt. Es kam auch zu Gefängnisstrafen und zu Erschießungen.
Lenin redigierte die erstellten Listen der Opfer selbst. Auf Beschwerden des
kommunistischen Schriftstellers Maxim Gorki rechtfertigte sich der Führer in
einem Brief wie folgt: „Die intellektuellen Kräfte der Arbeiter und Bauern
wachsen im Kampf gegen die Bourgeoisie und ihre Helfershelfer, die sogenannten
Intellektuellen, die Lakaien des Kapitals, die sich als Gehirn der Nation
wähnen. In Wirklichkeit sind sie doch nur der Unrat der Nation.“
Lenin ist aber auch bestrebt
gewesen, die Intelligenz für die Revolution zu gewinnen, so meinte er: „Die
neue Gesellschaft kann nicht aufgebaut werden ohne Wissen, Technik und Kultur,
diese aber sind im Besitz der bürgerlichen Spezialisten. Die meisten von ihnen
sympathisieren nicht mit der Sowjetmacht, doch ohne sie können wir den
Kommunismus nicht aufbauen.“ Die Spezialisten müssen also von „Dienern des
Kapitalismus, zu Dienern der werktätigen Masse, zu ihren Ratgebern gemacht
werden.“ Lenin forderte sogar von der kommunistischen Partei, „dass wir jeden
Spezialisten, der gewissenhaft, mit Sachkenntnis und Hingabe arbeitet, auch wenn
seine Ideologie dem Kommunismus völlig fremd ist, wie unseren Augapfel hüten.“
Dort wo die Arbeiter den
Vorstellungen der Bolschewiki nicht folgen wollten, zeigten diese wenig
Hemmungen, auch gegen Angehörige der Arbeiterklasse mit Gewalt vorzugehen: Nachdem
in den Sankt Petersburger Putilow-Werken mehrere tausend Arbeiter in den Streik
getreten waren, sich in ihren Forderungen gegen die diktatorische Herrschaft
der Bolschewiki gewandt hatten und Lenins Versuch, sie persönlich mit einer
Rede zu disziplinieren, in den Protestrufen der Arbeiter untergegangen war,
wurden Panzerwagen in die Werke entsandt und Einheiten der Tscheka
herbeigeordert, die die Streikführer festnahmen und erschossen.
Gegenüber der Landbevölkerung
verfolgte Lenin eine schwankende Politik. Er befahl er die Gründung von
Komitees der Dorfarmut. Lenin teilte zur damaligen Zeit das Dorf in ärmere
Bauern und Landarbeiter ein, welche mittelständischen Bauern und wohlhabenden
Kulaken gegenüberstünden. Mithilfe der Komitees wollte er die beiden Ersteren
an die Bolschewiki binden. Ebenso sollten sie der Durchsetzung der
Zwangseinziehung von Nahrungsmitteln auf dem Dorf dienen. Um Motivation bei den
Mitgliedern der Komitees zu wecken, durften sie einen Anteil des requirierten
Getreides ihrer Dorfgenossen selbst behalten. Die Komitees erzielten aber nicht
die gewünschte Wirkung, da in den meisten Fällen die Bindung der ärmeren Bauern
an die Dorfgemeinschaft größer war als die Loyalität zum kommunistischen
Regime. Lenin wertete die Komitees in der Öffentlichkeit als großen Erfolg,
schaffte sie aber de facto wieder ab. Dann änderte Lenin seine Politik und
konzentrierte sich darauf, die Mehrheit der Bauernschaft für sich zu gewinnen.
Wegen der gleichzeitigen Zwangseinziehung von Getreide blieb es aber trotz
dieser Wende bei einer tiefen Spaltung zwischen Lenins Regime und den Bauern.
Um die schlechte Versorgungslage
nach dem gewonnenen Bürgerkrieg zu verbessern, setzten Lenin und Trotzki die
Neue Ökonomische Politik gegen eigene Bedenken und große Widerstände in der
Partei durch. Sie ersetzte die Requirierungen des Kriegskommunismus durch eine
Naturalsteuer und erlaubte den Bauern mit den Überschüssen im begrenzten Umfang
Handel. Für Lenin war das ein zeitweiliger taktischer Schritt zurück aus pragmatischen
Gründen des Machterhalts. Er sagte: „Es ist ein großer Fehler zu meinen, dass
die Neue Ökonomische Politik das Ende des Terrors bedeutet“. Und sagte weiter:
„Wir werden zum Terror, auch zum wirtschaftlichen Terror, zurückkehren“.
Parallel dazu wurde auf dem
zehnten Parteitag jede innerparteiliche Fraktionsbildung verboten und damit de
facto die freie Meinungsäußerung bei der Willensbildung der Partei.
Nach Lenins erstem schweren
Schlaganfall schirmte ihn das Politbüro von der Außenwelt ab, um seine Genesung
zu begünstigen. Er weigerte sich jedoch, die Arbeit einzustellen und ließ sich
weiterhin über die Politik auf dem Laufenden halten. Er erholte sich etwas und
nahm wieder an Diskussionen teil, wie über die Verfassungsfrage und das
Außenhandelsmonopol. Lenin hatte sieben Schlaganfälle. Nach einem weiteren
Schlaganfall verschlechterte sich sein Gesundheitszustand noch einmal
erheblich, und er konnte sich kaum noch verständlich machen.
Er verstarb 1924 im Alter von
dreiundfünfzig Jahren. Nach Lenins Tod entbrannte ein Machtkampf in der
kommunistischen Partei zwischen Anhängern des Lagers um Stalin und der
Opposition um Trotzki.
In einem als politisches
Testament angesehenen Brief an den Parteitag schätzte Lenin seine potentiellen
Nachfolger so ein:
„Genosse Stalin hat dadurch, dass
er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen
konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von
dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. Andererseits zeichnet sich
Genosse Trotzki nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist
er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen Zentralkomitee, aber auch ein
Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewusstsein und eine übermäßige Leidenschaft
für rein administrative Maßnahmen hat.“
In einer Nachschrift wurde Lenin
in Bezug auf Stalin deutlicher: „Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, der in
unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten erträglich ist, kann in
der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich
den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand
anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von dem Genossen
Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er
toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger
launenhaft ist..“
Trotz Lenins Versuch, Stalins
Aufstieg zu verhindern, war Stalin auch ein legitimer Spross Lenins. Er hat nur
skrupelloser und konsequenter als andere die Möglichkeiten ausgeschöpft, die
sich einem Machtmenschen im kommunistischen Russland innerhalb des von Lenin
selbst geschaffenen allmächtigen Parteiapparates anboten.
ZWEITES KAPITEL
TROTZKI
Bronstein wurde als Kind jüdischer Kolonisten in der Ukraine
geboren und besuchte die Realschule. Sein Vater David Bronstein war Landwirt,
der es zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Der Religion gleichgültig
gegenüberstehend, bewirtschaftete er mit Hilfe von Lohnarbeitern den größeren
Hof.
Seine Mutter Anna kam aus kleinbürgerlicher
Familie und war eine gebildete, in der Stadt aufgewachsene Frau, die der
jüdisch-orthodoxen Religion anhing.
Die Jahre in der Provinz erlebte
er weder als unbeschwert noch als bedrückend. Er berichtete in seiner
Autobiografie von einer biederen Kleinbürgerkindheit, farblos in der
Schattierung, beschränkt in der Moral, nicht von Kälte und Not, aber auch nicht
von Liebe und Freiheit geprägt.
Bronstein besuchte den Cheder,
eine religiöse Grundschule, wo er Russisch, Arithmetik und Bibel-Hebräisch
erlernte. Er absolvierte die deutsch-lutherische Realschule zum Heiligen Paulus
in der Hafenstadt Odessa. Dort lernte er das ländliche, orthodoxe Judentum, wie
es seine Familie praktizierte, aus der aufgeklärten Sicht des Bürgertums zu
sehen und begann, sich für ein weltoffenes Judentum einzusetzen. Neun Jahre
später bestand er das Abitur als Bester seines Jahrgangs.
Der Siebzehnjährige begann, sich
politisch von einem radikaldemokratischen Oppositionellen zum Volkstümler zu
entwickeln. Das Volkstümlertum gehörte mit dem Marxismus zu den beiden
populärsten oppositionellen Richtungen jener Tage. Er trat einem
Diskussionszirkel junger Oppositioneller bei, in dem er die Positionen der
Volkstümler vertrat. Seine Kontrahentin und spätere Frau war die sieben Jahre
ältere Alexandra, die sich als Marxistin verstand und ihn von der marxistischen
Theorie überzeugte. Als Bronstein sich politisch betätigte, stellten seine
Eltern ihre Unterhaltszahlungen ein.
Bronstein war nunmehr als
Sozialist maßgeblich an der Gründung des sozialdemokratischen südrussischen
Arbeiterbundes beteiligt. Er fungierte in dieser Organisation als Propagandist.
Die zaristische Polizei nahm
Bronstein im Rahmen von Massenverhaftungen fest und ließ ihn in verschiedenen
Gefängnissen einsitzen. Er wurde zur Verbannung nach Sibirien verurteilt, wo er
seiner Fundamentalkritik am Sankt Petersburger Zarenthron mit intensiven
Studien des dialektischen und historischen Materialismus sowie der
marxistischen Weltanschauung ein theoretisches Fundament gab.
Im Moskauer Überführungsgefängnis
heiratete der Revolutionär Alexandra, die ihn wenig später in die Verbannung
begleitete. Ein Jahr darauf wurde ihre erste Tochter Sinaida geboren und drauf
die zweite Tochter Nina.
Er verließ wegen seiner
revolutionären Arbeit seine Frau und die beiden kleinen Töchter und floh aus
der Verbannung. Um die Flucht zu bewerkstelligen, legte er sich einen
gefälschten Pass auf den Namen „Trotzki“ zu, womit er sich nach dem
Oberaufseher des Gefängnisses in Odessa benannte.
Wenig später kam er, der Einladung von Lenin
folgend, nach London und wohnte mit ihm zusammen.
In der Emigration übernahm
Trotzki die Rolle des leitenden Redakteurs der Zeitung „Funke“, eine Tätigkeit,
die ihm den Spitznamen „Leninscher Knüppel“ einbrachte. Bald schon trat er der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bei.
In dieser Zeit lernte Trotzki
auch Parvus kennen, der ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammte und der
in der deutschen Sozialdemokratie sein politisches Betätigungsfeld gefunden hatte.
Parvus prägte den jungen Trotzki sehr stark. Dessen Theorie der permanenten
Revolution basiert auf einer Konzeption von Parvus.
Auf dem zweiten Parteitag kam es
zur Spaltung der Partei. Bei der Abstimmung siegten die Anhänger Lenins, die in
der Folge Bolschewiki genannt wurden; ihnen standen die Menschewiki entgegen.
Trotzki neigte stark in die Nähe der Menschewiki. Er verfasste Schriften, in
denen er Lenin Machtgier als Grundlage seiner Politik unterstellte und ihn
einen Diktatorenkandidaten oder auch „Maximilien de Lénine“ nannte als
Anspielung auf den französischen Revolutionär Maximilien de Robespierre. Das
Verhältnis der beiden künftigen Revolutionsführer war durch diese Polemiken
lange Zeit belastet.
Dann hielt sich Trotzki zeitweise
in Paris auf, wo er die Kunstgeschichtsstudentin Natalja kennen lernte. Sie
blieb bis zu seinem Lebensende an seiner Seite.
Dann wohnte Trotzki ein halbes
Jahr lang in München.
Damals brach er mit den
Menschewiki und behauptete in der Theorie der permanenten Revolution, dass das
russische Bürgertum einen Umsturz nach dem Muster der Französischen Revolution
nicht wagen werde. Vielmehr werde die Arbeiterklasse eine bedeutende Rolle im
Bündnis mit den ärmsten Schichten der Bauernschaft und den Landproletariern bei
der Errichtung der „Diktatur des Proletariats, gestützt auf den Bauernkrieg“
spielen. Dies stellt eine entscheidende Weiterentwicklung des Marxismus dar, da
sich Marx in einem industriell rückständigen Land keine proletarische
Revolution vorstellte. Marx war der Ansicht, dass erst nach einem weiten
Fortschreiten des Kapitalismus die Gesellschaft für einen kommunistischen
Umsturz bereit wäre.
Während der
Revolution von 1905 kehrte Trotzki nach dem Sankt Petersburger Aufstand nach
Russland zurück, wo er zusammen mit Parvus Mitglied des Sankt Petersburger
Sowjets wurde. Trotzki übernahm den Vorsitz des Sowjets. Nach seiner Verhaftung
wurde Parvus sein Nachfolger. In der Verbannung verfasste Trotzki die Schrift
„Russland in der Revolution“. Ein Jahr später wurde sein drittes Kind, ein
Junge, geboren. Wieder ein Jahr später folgte das vierte Kind, auch ein Sohn.
Die von Trotzki beeinflusste
Bewegung wurde zerschlagen. Trotzki, der inzwischen zum Vorsitzenden des
Sowjets aufgestiegen war und sich in den Dezemberaufständen engagiert hatte,
wurde nach einem Schauprozess ein zweites Mal zu lebenslanger Verbannung
verurteilt. Er floh bereits beim Transport und entkam, ebenso wie Parvus, in
das habsburgische Wien.
Auf dem nächsten Parteitag, in
London, schloss sich Trotzki weder den Bolschewiki noch den Menschewiki an,
sondern stand einer mittleren Fraktion vor. Er gab eine Zeitung mit Namen
Prawda („Wahrheit“) heraus, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen von
Lenin herausgegebenen Zeitung, die später erschien. In jener Zeit versuchte vor
allem Kamenew, Trotzki von der bolschewistischen Fraktion und den Positionen
Lenins zu überzeugen; Trotzki blieb allerdings Kritiker Lenins, ebenso wie
Lenin die Positionen Trotzkis verurteilte.
Trotzki führte nun das Leben
eines rastlosen Emigranten; zeitweise arbeitete er als Kriegsberichterstatter
auf dem Balkan, wo er erste militärische Erfahrungen sammelte.
Es kam zum Bruch zwischen Trotzki
und Parvus. Letzterer vertrat ein anderes Konzept der Theorie der permanenten
Revolution. Parvus schloss sich den Jungtürken an und beteiligte sich an der
Revolution gegen das Osmanische Reich in Konstantinopel. Während des Ersten
Weltkrieges arbeitete er mit amtlichen deutschen Stellen zusammen.
Nach Ausbruch des Ersten
Weltkrieges floh Trotzki vor der in Österreich drohenden Verhaftung in die
neutrale Schweiz und zog weiter nach Paris, um über den Krieg zu berichten. Er
gab dort eine Zeitung heraus, die als Organ der internationalistischen
Menschewiki fungierte. Auf einer Parteikonferenz gehörte er mit Lenin, dem er
sich stetig annäherte, zu den Unterzeichnern des von ihm verfassten
Internationalen Sozialistischen Antikriegsmanifestes. Wegen seiner gegen den
Krieg gerichteten Agitation wurde er von den französischen Behörden nach
Spanien abgeschoben. Dort wurde er verhaftet und in die Vereinigten Staaten
deportiert.
In New York, wo er mit seiner
Lebensgefährtin Natalja wohnte, arbeitete Trotzki für russischsprachige
Zeitungen. Er erhielt die Nachricht von der russischen Februarrevolution, durch
welche die bürgerliche Provisorische Regierung unter dem Fürsten Lwow und
seinem sozialdemokratischen Kriegsminister Kerenski an die Macht kam.
Auf dem Weg nach Russland wurde
Trotzki in Kanada festgenommen und in ein Internierungslager für deutsche
Kriegsgefangene gebracht. Allerdings setzte der Sankt Petersburger Sowjet die
Provisorische Regierung unter Druck, sich für Trotzki einzusetzen. Nach seiner
Freilassung kam er in Sankt Petersburg an. Dort schloss er sich erneut einer
Arbeiterpartei an, die das Ziel hatte, die Bolschewiki und Menschewiki
auszusöhnen. Nach einigen Auseinandersetzungen schloss sich die Organisation
unter der Führung Trotzkis den Bolschewiki an. Trotzki selbst wurde auf dem
sechsten Parteitag der Bolschewiki in absentia in die Partei aufgenommen und
erhielt einen Platz im Zentralkomitee.
Nachdem die Bolschewiki eine
Mehrheit im Sankt Petersburger Sowjet erreicht hatten, wurde Trotzki zu dessen
Vorsitzenden gewählt und organisierte in dieser Funktion die Kampfverbände der
Roten Garde. Damit wurde er rasch zu einem der wichtigsten Männer in der
Partei. Als im Oktober das Zentralkomitee der Partei den Entschluss zu einem
bewaffneten Aufstand gegen die Regierung von Kerenski fasste, stimmte Trotzki
mit der Mehrheit seiner Genossen dafür. Die später von der stalinistischen
Propaganda verbreitete Behauptung, Trotzki habe sich gegen die Revolution
ausgesprochen, ist unwahr.
Unter seiner Federführung wurde
das Militärrevolutionäre Komitee des Sankt Petersburger Sowjets gegründet.
Dieses Komitee setzte den Befehl der Provisorischen Regierung, zwei Drittel der
Sankt Petersburger Garnison an die Front des Ersten Weltkriegs zu beordern,
außer Kraft. Dies war der Beginn der Revolte des Militärrevolutionären Komitees
im Smolny-Institut, wo Boten mit Nachrichten aus den verschiedenen Teilen der
Stadt eintrafen, um über die Ereignisse und Erfolge der Aufständischen zu
informieren. Nach der Übernahme von Bahnhöfen, Postämtern, Telegrafenamt,
Ministerien und der Staatsbank sowie dem Sturm auf den Winterpalast etablierte
der zweite gesamtrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten eine
Koalitionsregierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären unter dem
Namen Sowjet der Volkskommissare. Gleich danach wurden die Dekrete „Über den
Frieden“ und „Über den Grund und Boden“ verabschiedet. Die Parteien der
einflusslosen Duma verweigerten den Entscheidungen des Kongresses und der
Regierung die Anerkennung.
Nachdem die
Bolschewiki die Macht erlangt hatten, wurde Trotzki zum Volkskommissar für
äußere Angelegenheiten ernannt. Seine Hauptaufgabe sah er darin, Frieden mit
dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn zu schließen. Er sorgte für die
Ausrufung eines Waffenstillstands zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten
und leitete die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Er versuchte aufgrund
der schwachen Position des revolutionären Russlands und der Position der
deutschen Obersten Heeresleitung in der Frage der Gebietszugehörigkeit der
Ukraine eine Übereinkunft hinauszuzögern. Trotzkis Verhandlungspartner auf
deutscher Seite war General Ludendorff, der dessen Taktik durchschaute.
Deutsche Truppen überschritten die russisch-deutsche Frontlinie und besetzten
die Ukraine, die sich bereits für unabhängig erklärt hatte. Aufgrund der
militärischen Überlegenheit der Mittelmächte musste Sowjetrussland den sehr
nachteiligen Friedensvertrag von Brest-Litowsk schließen, der den Verlust der
Ukraine und weiterer Gebiete für Sowjetrussland zur Folge hatte.
Das Verhalten Trotzkis während
der Verhandlungen war innerhalb der Regierung und des Zentralkomitees der
Kommunistischen Partei stark umstritten. Während es auf der einen Seite eine
Gruppierung um Radek und Bucharin gab, die die unbedingte Fortführung des
Revolutionären Krieges und die Expansion des Sowjetgebietes forderte, ohne die
verzweifelte Lage der eigenen Truppen zu berücksichtigen, wurde von einer
Minderheit um Lenin eine riskante Verschleppungstaktik in der Hoffnung auf eine
baldige proletarische Revolution in Deutschland und Österreich-Ungarn favorisiert.
Trotzki enthielt sich auf der entscheidenden Abstimmung im Zentralkomitee, um
Lenin die Mehrheit zu sichern, und trat freiwillig aus diplomatisch-taktischen
Gründen vom Amt des Volkskommissars für äußere Angelegenheiten zurück.
Nach dem Friedensvertrag von
Brest-Litowsk, den Trotzki als persönliche Niederlage betrachtete, setzte er
sich für den Sieg der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg ein, bei dem sich
die sowjetischen Roten und die zaristisch-bürgerlichen Weißen gegenüberstanden.
Trotzki wurde zum Volkskommissar für das Kriegswesen ernannt und begann mit dem
Aufbau der Roten Armee.
Trotzki trug mit seinem
energischen und gnadenlosen Vorgehen entscheidend zum militärischen Sieg der
Bolschewiki bei. Er organisierte die Umwandlung der bisher zerstreuten,
desorganisierten Roten Garden in ein straff geführtes Heer; unter anderem ließ
er wieder militärische Ränge, Abzeichen und die Todesstrafe in der Armee
einführen. Er befahl darüber hinaus, dass bei einem aus Sicht des Oberkommandos
unnötigen Rückzug einer Einheit zuerst der Kommissar und dann der militärische
Befehlshaber sofort hinzurichten seien. Das Kommandopersonal wurde bis dahin
von den Soldaten gewählt. Dieser demokratische Ansatz behinderte aber die
Umwandlung in eine neue, zentral geführte Armee. Trotzki schaffte die
demokratischen Strukturen daher ab, entließ die konservativen Kosaken aus der
Kavallerie und verband die Verteidigung der neuen Regierung mit dem
Freiheitskampf verschiedener Nationalitäten des ehemaligen Zarenreiches.
Unter Exilrussen hieß es, die
Bolschewiki kämpften „mit lettischen Stiefeln und chinesischem Opium“, denn aus
Mangel an erfahrenen Offizieren förderte Trotzki den Eintritt von Offizieren
der alten zaristischen Armee in die Rote Armee. Bis Kriegsende dienten 80.000
im Roten Offizierskorps. Manche meldeten sich freiwillig, andere wurden
eingezogen. Trotzki befahl, zu ihrer Kontrolle ihre Familien in Sippenhaft zu
nehmen, sofern die Offiziere zu den Weißen überlaufen sollten. Die offiziell
als "Militärspezialisten" bezeichneten Offiziere wurden zusätzlich
der Kontrolle durch Politkommissare unterworfen. Gerade dieser Aspekt führte zu
harscher Kritik innerhalb der Partei; besonders Stalin, der Kommissar der Roten
Armee war, beklagte sich über die Einsetzung eines Generals bei der
Verteidigung der Revolution. Er und die übrigen Opponenten der neuen
Militärorganisation fanden aber aufgrund der militärischen Erfolge Trotzkis
kein Gehör bei Lenin.
Trotzki übernahm nun auch noch
das Ressort für Marineangelegenheiten. Die Regierung war von Sankt Petersburg
nach Moskau umgezogen. Die Bolschewiki nannten sich nun Kommunistische Partei
Russlands, nach Lenins Tod Kommunistische Partei der Sowjetunion.
Unangefochtener Führer war Lenin, der sich mit Trotzki inzwischen weitgehend
ausgesöhnt hatte.
Zunächst standen die Bolschewiki
unter großem Druck. Das Territorium der Sowjets wurde zeitweise durch die
Weißen Armeen auf das Gebiet der alten Moskauer Fürstentümer reduziert. Die
Versorgungslage der Städte war schlecht. Zusätzlich griffen die Siegermächte
des Ersten Weltkriegs durch eigene Truppenkontingente in die Kämpfe zugunsten
der Weißen Armeen ein. So befanden sich japanische, amerikanische, britische,
italienische und französische Truppenkontingente auf russischem Gebiet. Der
Roten Armee, die aus den Roten Garden hervorgegangen war, stand jedoch ein
Gegner gegenüber, der über keine einheitliche Führung verfügte und
widersprüchliche Zielsetzungen verfolgte.
Es gelang der Roten Armee in
einem sehr verlustreichen Kampf, die Weißen Truppen bis in den Osten des
russischen Reiches zurückzudrängen. Die Weiße Armee erlitt eine schwere
Niederlage in Sibirien. Trotzki proklamierte nun den Krieg gegen Polen und
dessen ukrainische Verbündeten und machte ihn zur Chefsache im
Kriegskommissariat. Durch das „Wunder an der Weichsel“ wurde die Rote Armee
allerdings empfindlich getroffen und vernichtend geschlagen. Die Offensive
gegen Polen musste abgebrochen werden. Im Vertrag von Riga erwarben die Sowjets
aber Weißrussland und die Ukraine.
Dann fiel die Krim, die letzte
Festung der Weißen Armee. Bis zum Ende des Russischen Bürgerkriegs eroberten
die Roten Truppen unter Trotzkis Führung Aserbaidschan, Armenien und Georgien,
deren Regierungen, teils sozialdemokratisch, teils nationalistisch geprägt, die
staatliche Unabhängigkeit angestrebt hatten. In Georgien fand ein vergeblicher
Aufstand gegen die Rote Armee statt, die in den neu eroberten Ländern zum Teil
als Besatzungsmacht wahrgenommen wurde.
Der Aufstand der Kronstädter
Matrosen – sie forderten sofortige gleiche und geheime Neuwahlen der Sowjets,
Redefreiheit, Pressefreiheit für alle anarchistischen und linkssozialistischen
Parteien, Versammlungsfreiheit, freie Gewerkschaften und eine gerechtere
Verteilung von Brot – wurde von der Roten Armee unter Trotzkis Führung mit
erbarmungsloser Härte und Massenerschießungen unterdrückt. Auch für die blutige
Niederschlagung von Bauernaufständen mit Tausenden Toten im Gebiet der Ukraine,
die sich vor allem gegen die Kornkonfiskationen richteten, wurde Trotzki als
oberster Heeresführer verantwortlich gemacht. Später kritisierten verschiedene
Kommunisten Trotzkis Rolle bei der brutalen Niederschlagung, die sie als Beginn
des Stalinismus und als Vorläufer des Großen Terrors ansahen. Trotzki
rechtfertigte sein Vorgehen:
„Ich weiß nicht, ob es
unschuldige Opfer in Kronstadt gab. Ich bin bereit, zuzugeben, dass ein
Bürgerkrieg keine Schule für menschliches Verhalten ist. Idealisten und
Pazifisten haben der Revolution immer Exzesse vorgeworfen. Die Schwierigkeit
der Sache liegt darin, dass die Ausschreitungen der eigentlichen Natur der
Revolution entspringen, die selbst ein Exzess der Geschichte ist. Mögen jene,
die dazu Lust haben, die Revolution aus diesem Grund verwerfen. Ich verwerfe
sie nicht.“
Später wurde der Kriegskommunismus
von der Neuen Ökonomischen Politik abgelöst.
Nach der Gründung der Sowjetunion
begann Trotzki, die entstehende Bürokratie, den Totalitarismus der Bolschewiki
und den aufkommenden russischen Nationalismus zu kritisieren. Damit stieß er
sowohl auf Zustimmung als auch auf Ablehnung innerhalb der Partei. Er richtete
seine Kritik hauptsächlich gegen Stalin.
Lenin äußerte Vorbehalte wegen
Trotzkis „übermäßigen Selbstvertrauens“ und seiner „übermäßigen Leidenschaft
für rein administrative Maßnahmen“, sagte aber auch, dass Trotzki sich „durch
hervorragende Fähigkeiten“ auszeichne und „persönlich wohl der fähigste Mann im
gegenwärtigen Zentralkomitee“ sei. Bucharin sei der Liebling der Partei. Nach
dem Verlesen des politischen Testaments, in dem Lenin Stalin als zu „grob“
bezeichnete, bot Stalin seinen Rücktritt an, doch der Rücktritt wurde mit
großer Mehrheit abgelehnt. In der Folge begann Stalin gemeinsam mit Sinowjew
und Kamenew, Trotzki endgültig von der Macht zu verdrängen. Dazu gehörte, dass
Lenins Testament in der Parteipresse und später in den Werkausgaben nicht
gedruckt wurde. Lediglich Trotzki und diejenigen, die besser beurteilt worden
waren als Stalin, zitierten Lenins letzten Willen in ihren Schriften. Erst ab
dem Beginn der Entstalinisierung waren diese Schriftstücke parteiintern und
öffentlich zugänglich.
Trotzki griff das von Stalin
dominierte Zentralkomitee an, worauf eine heftige Gegenreaktion erfolgte. Von
diesem Zeitpunkt an verlor er auf Betreiben Stalins immer mehr an Einfluss
innerhalb der Partei. In dieser Zeit arbeitete Trotzki auch wieder theoretisch
und veröffentlichte sein Werk „Literatur und Revolution“. Darin schrieb er,
dass der gesellschaftliche Aufbau der Sowjetunion die physisch-psychische
Selbsterziehung des Einzelnen und vor allem die Künste einen „neuen Menschen“
schaffen würden:
„Der Mensch wird unvergleichlich
viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine
Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Der
durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau von Aristoteles, Goethe
und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“
Nach dem Tode Lenins brach
schließlich ein offener Machtkampf zwischen Trotzki und Stalin über die Zukunft
der Sowjetunion und die theoretischen Grundlagen für den angestrebten
Kommunismus aus. Auf dem fünfzehnten Parteitag der Kommunistischen Partei
Russlands erhielt die Opposition um Trotzki keine einzige Stimme und war somit
völlig isoliert.
Stalin begann, den sogenannten „Sozialismus
in einem Land“ mit Gewalt durchzusetzen, während Trotzki weder den Apparat der
Partei noch die Bevölkerung mehrheitlich an sich binden konnte. Stalin festigte
mit seinen von Amts wegen gegebenen Möglichkeiten bürokratischer und
militärischer Art die Diktatur in der Sowjetunion. Trotzki vertrat das Erbe des
Marxismus in anderer Interpretation und berief sich auf den Imperativ der
Weltrevolution und die Arbeiterdemokratie, gemäß der Parole aus dem
Kommunistischen Manifest „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Er
versuchte, sich gegen alle von ihm so genannten „reaktionären Angriffe“ durch
Stalin zu verteidigen. Sein Ziel war es, der internationalen Arbeiterschaft zum
Sieg zu verhelfen. Er ging wie Lenin davon aus, dass nur eine weltweite Revolution
den Sieg des Sozialismus ermöglichen könne.
Dies entsprach nicht allein der
bisherigen marxistischen Tradition, sondern auch der eigenen Theorie der
permanenten Revolution. Sie besagte im Wesentlichen, dass die Revolution in
rückständigen Ländern eine bürgerlich-demokratische und eine proletarische
Phase ohne Unterbrechung durchlaufen müsse, zum erfolgreichen sozialistischen
Aufbau der Sieg der Revolution wenigstens in den fortgeschrittensten Ländern
notwendig wäre und sich schließlich auch in Arbeiterstaaten politische,
kulturelle und wirtschaftliche Revolutionen vollziehen könnten und müssten, um
zum Sozialismus überzugehen.
Nachdem Stalin immer mächtiger
geworden war, verlor Trotzki sein Amt als Kriegskommissar und musste in den
nächsten Jahren verschiedene untergeordnete Tätigkeiten im Staatsdienst
ausüben. Es folgte die Kennzeichnung von „Trotzkismus“ als „Abweichlertum“ und
„Verrat“. Alle Schriften und Werke des „jüdischen Verschwörers“ und „Lakaien
des Faschismus“ galten als Irrlehre. Stalin ließ Trotzkis Namen und Fotos aus
allen offiziellen Dokumenten und Texten tilgen. Außerdem leugnete er dessen
Rolle beim Oktoberaufstand und im Bürgerkrieg.
Trotzki wurde nun aus dem
Politbüro und auch aus der Partei ausgeschlossen, worauf eine Verbannung mit
anderen Oppositionellen nach Alma-Ata in Kasachstan folgte. Von dort wurde
Trotzki in die Türkei ausgewiesen. In Konstantinopel begann er mit der Arbeit
an seiner Autobiografie.
Stalin begann nun, die Neue
Ökonomische Politik zu revidieren, mit großer Grausamkeit die Kollektivierung
der Landwirtschaft durchzusetzen und mit Arbeitsarmeen die Schwerindustrie der
Sowjetunion zu errichten. Auch dies wurde von Trotzki und seinen Anhängern
einer scharfen Kritik unterzogen. Trotzki hatte sich für eine umfassende
Industrialisierung in einem langsameren Tempo und eine freiwillige
Kollektivierung der Bauernschaft auf der Basis einer neu zu errichtenden
Sowjetdemokratie ausgesprochen.
Nach seiner Ausbürgerung verfiel
Trotzki in der Sowjetunion zunehmend der damnatio memoriae: Seine Leistungen
für die Partei und die prominente Rolle, die er beim Oktoberaufstand, beim
Aufbau der Roten Armee oder bei der blutigen Niederschlagung des Kronstädter
Aufstands gespielt hatte, wurden verschwiegen, geleugnet oder denunziert. Im
Kurzen Lehrgang der Geschichte der Partei, einer unter der Ägide Stalins
erschienenen offiziellen Darstellung, wurde seine Rolle im Oktober auf die
eines Widersachers Lenins und eines Großmauls reduziert, das den Termin des
Aufstands verraten und dessen Erfolg dadurch gefährdet habe. Noch radikaler
wurde die Erinnerung an Trotzki aus dem sowjetischen Bildgedächtnis getilgt.
Fotos, auf denen er zusammen mit Lenin oder Stalin zu sehen war, wurden kupiert
oder retuschiert. Trotzki schrieb im Exil Pamphlete gegen Stalin, die unter
anderem exklusiv in der New York Times veröffentlicht wurden.
Der türkische Staat unter Atatürk
gewährte Trotzki politisches Asyl. Er verbrachte die Jahre bis 1933 in der
Türkei. In der Zeit setzte sich Trotzki intensiv mit dem deutschen
Nationalsozialismus auseinander, den er als vom Kleinbürgertum getragene,
autonom von der Bourgeoisie entstandene Massenbewegung analysierte, deren
objektive Funktion die Zerschlagung der gesamten Arbeiterbewegung sei. Als
Gegenstrategie setzte sich Trotzki in Schriften für eine Einheitsfront von
Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaften gegen die Nationalsozialisten
ein.
Trotzki wurde auch die
sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt, womit gleichzeitig die Verfolgung
durch den sowjetischen Geheimdienst begann. Mit der kampflosen Niederlage der
deutschen Arbeiterbewegung, die Trotzki im Wesentlichen als Resultat des
Versagens der Kommunisten ansah, nahm Trotzki von seiner Strategie einer Reform
der stalinistischen Parteien Abstand und nahm Kurs auf die Gründung einer neuen
kommunistischen Internationale.
Die französische Regierung
gewährte ihm Asyl in Frankreich. Für Paris erhielt er aber keine
Zugangserlaubnis. Es wurde ihm aber bald signalisiert, dass sein Aufenthalt in
Frankreich nicht länger erwünscht sei. Er nahm ein Angebot Norwegens auf Asyl
an. Er lebte dort bei Oslo. Mit seiner regen publizistischen Tätigkeit griff er
den Stalinismus mit den Moskauer Prozessen an, in denen er als Haupt einer
großen Verschwörung gegen Stalin und sein System in Abwesenheit angeklagt
worden war. Infolge des von der Sowjetunion ausgeübten diplomatischen Drucks
wurde Trotzki von den norwegischen Behörden unter Hausarrest gesetzt. Nach
Verhandlungen mit der norwegischen Regierung konnte er nach Mexiko unter der Auflage
strenger Geheimhaltung auf einem Frachtschiff ausreisen.
Gemeinsam mit Frida Kahlo hatte
sich Diego Rivera beim mexikanischen Präsidenten dafür eingesetzt, Trotzki
politisches Asyl in Mexiko zu gewähren. Unter der Bedingung, dass jener sich
nicht politisch betätigen würde, stimmte der Präsident dem Gesuch zu. Trotzki
und seine Frau Natalja wurden in Frida Kahlos blauem Haus empfangen. Damals
beherbergte Diego Rivera auch den surrealistischen Vordenker André Breton und
dessen Frau Jacqueline. Die beiden Künstler unterzeichneten ein von Trotzki
verfasstes Manifest für eine revolutionäre Kunst.
In seinem Exil agitierte er
weiterhin gegen Stalin, deckte nach seinen Möglichkeiten die Verbrechen des
Geheimdienstes und der Gulags auf und veröffentlichte verschiedene
kommunistische Schriften, zum Beispiel „Die verratene Revolution“, in der er
die Sowjetunion als bürokratisch degenerierten Arbeiterstaat bezeichnete und
die sowjetische Arbeiterklasse zu einer politischen Revolution gegen die
stalinistische Bürokratie und zur Wiederherstellung der Rätedemokratie aufrief.
Trotzki gründete die Vierte
Internationale, um der inzwischen unter Stalins Dominanz stehenden Dritten
Internationalen entgegenzuwirken. Für die neugegründete Organisation verfasste
Trotzki mit dem Manifest der vierten Internationale zum imperialistischen Krieg
und zur proletarischen Weltrevolution ein programmatisches Dokument. Daneben
widmete er sich in seinem letzten Lebensjahr der Auseinandersetzung mit der
These, dass sich die Sowjetunion zu einer stabilen neuen Form von
Klassengesellschaft entwickelt habe.
Trotzki überlebte einen Angriff
auf sein Haus. Er wurde von mehreren, von Stalin gesandten und als mexikanische
Polizisten getarnten Agenten attackiert, allerdings so dilettantisch, dass man
vielfach an eine Inszenierung glaubte, die Trotzki international wieder in den
Mittelpunkt rücken sollte. Aus Angst vor weiteren Anschlägen ließ er danach das
Haus ausbauen und bewachen: Die Mauern wurden erhöht, Holztüren durch
Eisentüren ersetzt, Fenster teilweise zugemauert. Sieben Wachleute schützten
freiwillig und unbezahlt das kleine Anwesen rund um die Uhr.
Dann hatte ein von Stalin
beauftragter Mordanschlag Erfolg: Ein Sowjetagent hatte sich mit einer
Sekretärin Trotzkis verlobt und so Zugang zu dessen Anwesen erhalten. Er
besuchte Trotzki und bat um Durchsicht eines von ihm verfassten politischen
Artikels. Kurz danach griff der Mann Trotzki in dessen Arbeitszimmer mit einem
Eispickel an, wobei Trotzki schwer am Kopf verletzt wurde. Seine Leibwächter
fanden ihn blutüberströmt, aber noch bei Bewusstsein. Einen Tag später starb
Trotzki an den Folgen dieses Anschlags.
DRITTES KAPITEL
STALIN
Stalins Vater Dschugaschwili war ein Schuhmacher. Seine
Mutter Ketewan war die Tochter eines Leibeigenen. Stalin wuchs als Einzelkind
auf.
Das Familienleben war zunächst
von Wohlstand geprägt. Der Vater machte sich selbstständig, beschäftigte zehn
Arbeiter und verschiedene Lehrlinge. Er hat sich aber zum streitsüchtigen
Alkoholiker entwickelt haben, der sein Vermögen verlor und Frau und Sohn
regelmäßig verprügelte. Ein Jugendfreund Stalins schrieb später: „Diese
unverdienten und schrecklichen Prügel machten den Jungen genauso hart und
gefühllos wie seinen Vater.“ Er habe Stalin nie weinen sehen. Ein anderer
Freund Stalins schrieb, dass die Prügel auch einen Hass auf Autoritäten in
Stalin hervorriefen, da jeder Mensch, der mehr Macht als er selbst gehabt
hätte, ihn an seinen Vater erinnert habe. Stalins Vater ging fort und ließ
seine Familie zurück.
Der junge Stalin half seiner
Mutter beim Wäschewaschen und bei ihrer Arbeit als Putzfrau. Einer ihrer
Kunden, der jüdische Kaufmann David, unterstützte den Knaben mit Geld und
Büchern.
Dann ging er zur Schule. Stalins
Klasse war eine ethnisch gemischte Gruppe von Schülern, die viele verschiedene
Zungen sprachen. In der Schule war jedoch Russisch als Sprache vorgeschrieben.
Seine Mitschüler waren mehrheitlich sozial besser gestellt und haben sich
anfangs über seine abgetragene Schuluniform und sein pockennarbiges Gesicht lustig
gemacht haben. Er konnte jedoch bald die Führungsrolle in seiner Klasse
übernehmen. Er verließ die Schule als bester Schüler und wurde für den Besuch
des orthodoxen Priesterseminars vorgeschlagen, damals die bedeutendste höhere
Bildungsanstalt Georgiens und ein Zentrum der Opposition gegen den Zaren.
Nachdem Stalin das zweite
Studienjahr des Seminars absolviert hatte, bekam er Kontakt mit geheimen
marxistischen Zirkeln. Er besuchte eine Buchhandlung, in der er Zugang zu
revolutionärer Literatur hatte. Er las Victor Hugos „Die Arbeiter des Meeres“.
Er wurde mit achtzehn Jahren in
die erste sozialistische Organisation Georgiens aufgenommen. Im folgenden Jahr
leitete Stalin einen Studienzirkel für Arbeiter. Zu dieser Zeit las er schon
die ersten Schriften Lenins. Er trat in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei
Russlands ein. Dann wurde er aus dem Priesterseminar ausgeschlossen, weil er
aufgrund dieser politischen Tätigkeiten bei mehreren wichtigen Prüfungen
gefehlt hatte. Statt Priester wurde Stalin Berufsrevolutionär.
Daraufhin arbeitete Stalin als
Propagandist der Partei und organisierte Streiks und Demonstrationen unter den
Eisenbahnarbeitern. Dann wurde er erstmals festgenommen, weil er eine
Arbeiterdemonstration angeführt hatte, und anschließend nach Sibirien verbannt.
Nachdem er aus der Verbannung fliehen konnte, wurde er immer wieder verhaftet
und in die Verbannung geschickt, konnte aber jedes Mal wieder fliehen.
Um in Kontakt mit Lenin zu
bleiben und sich der Verfolgung durch die zaristische Polizei zu entziehen,
floh er nach Österreich-Ungarn. Dort verbrachte er einige Monate in Krakau und
in Wien. Er gab sich als Grieche aus dem Kaukasus aus.
Als er wieder nach Russland
zurückkehrte, wurde er verhaftet. Daraufhin verbrachte er die Jahre bis 1917 in
der Verbannung. Für diese häufigen Verhaftungen und Fluchten gibt es mehrere
Erklärungen.
Ein möglicher Grund wird zum
Beispiel in der schlechten Organisation der zaristischen Polizei gesehen. Als
eine weitere Erklärung für sein schnelles Freikommen werden ihm Kontakte zur
zaristischen Geheimpolizei nachgesagt.
Im Falle von Stalins letztem
Verbannungsaufenthalt war auch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Ursache
für sein Verbleiben. Er fürchtete, nach seiner nächsten Verhaftung in die
russische Armee eingezogen zu werden.
Nach der auf dem Parteitag in
London erfolgten Spaltung der Partei in Menschewiki und Bolschewiki schloss
Stalin sich dem bolschewistischen Flügel unter Lenin an, der die Meinung
vertrat, dass der politische Umsturz in Russland nur durch eine von
professionellen Revolutionären zentral geführte Partei zustande kommen würde.
Im Jahr 1905 begegnete er auf der allrussischen Konferenz der Bolschewiki zum
ersten Mal Lenin persönlich. In dieser vorrevolutionären Zeit, in der Stalin
schon viele Streiks organisiert hatte, zeigte er sich nicht als großer
Theoretiker, sondern unterstützte die zum großen Teil illegalen Aktionen der
Bolschewiki praktisch.
So beteiligte er sich in den
folgenden Jahren an der Organisation verschiedener Banküberfälle, um die
Parteikasse aufzufüllen. Bei dem Überfall auf die Bank von Tiflis, der vierzig
Menschen das Leben kostete, erbeuteten die Revolutionäre unter Stalins Führung
viele hunderttausend Rubel. Bald gehörte er nach dem Willen Lenins zum
Zentralkomitee der Bolschewiki und nahm den Namen „Stalin“ (der Stählerne) an.
Während seines letzten
Verbannungsaufenthaltes lernte er Kamenew kennen und freundete sich mit ihm an.
Er verließ gemeinsam mit Kamenew seinen Verbannungsort. Er wurde von einer
Einberufungskommission als wehrdienstuntauglich freigestellt. Nach der
Februarrevolution ging er nach Sankt Petersburg. Er gehörte nun zur Redaktion
der Zeitung „Prawda“. In Sankt Petersburg stieß Sinowjew zu Stalin und Kamenew.
Diese später als Triumvirat bezeichnete Gruppe sollte in der Folgezeit eine
bedeutende Rolle in der sowjetischen Politik spielen.
Im Juni wurde Stalin auf dem
ersten Allrussischen Sowjetkongress zum Mitglied des Zentralexekutivkomitees
gewählt. Er verfolgte neben anderen Bolschewiki zunächst eine Politik der
Zusammenarbeit mit der provisorischen Regierung unter Kerenski. Als Lenin aus
dem Exil zurückkehrte und die Unterstützung Kerenskis als Verrat an den
Bolschewiki brandmarkte, änderte Stalin seinen Kurs und unterstützte Lenin. Er
verteidigte Lenins Ideen auf den großen Debatten der Bolschewiki im September
und Oktober. Er hatte jedoch sehr wenig mit der Vorbereitung und Durchführung
der Oktoberrevolution zu tun. Die zentrale Rolle bei dem Umsturz kam Trotzki
als Chef des Militärischen Komitees des Sankt Petersburger Sowjets zu.
In der am 7. November
installierten provisorischen ersten Sowjetregierung erhielt er zum Dank für
seine Loyalität den Posten des Volkskommissars für Nationalitätenfragen. Stalin
wollte in dieser Position eine Allianz zwischen Russland und allen Minderheiten
des Landes schaffen. Diese Allianz war jedoch dahingehend eingeschränkt, dass
ihre Mitglieder sozialistisch zu sein hatten.
Doch es kam anders. Zunächst
waren die sowjetische Zentralregierung und die neu geschaffene Rote Armee sehr
schwach. Sie kontrollierten ein Gebiet, das die Größe des alten russischen
Großfürstentums hatte. Viele der Nationalitäten im zaristischen Russland sahen
nun die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen und erklärten ihre
Unabhängigkeit, ohne die Sowjetregierung zu konsultieren. Das bekannteste
Beispiel dafür ist die Ukraine, die in Kiew ihr eigenes Parlament schuf und
sich unabhängig erklärte. Die tatsächliche Aufgabe Stalins bestand in den
nächsten Jahren darin, die verlorengegangenen Gebiete in die Sowjetunion
einzugliedern. Nachdem sich diese Situation abgezeichnet hatte, änderte er
seine Haltung gegenüber den Minderheiten und beschloss, jedes Mittel
einzusetzen, um die Unabhängigkeit dieser Staaten rückgängig zu machen.
Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges
wurde Stalin Befehlshaber in der von Trotzki neu geschaffenen Roten Armee. Er
wurde im Juli als Kommandeur an die Südfront geschickt, um dort das einzige
bedeutende Getreideanbaugebiet, das in den Händen der Sowjetregierung lag, zu
sichern. Er verließ sich dabei auf die Hilfe eines ehemaligen zaristischen
Generals, der von Trotzki zum Kommandant der Südfront berufen worden war. Mit
dem General geriet er jedoch bald in eine Auseinandersetzung, da er Offiziere
der Roten Armee erschießen ließ, die bereits vorher in der Armee des Zaren
Offiziere gewesen waren. Es gelang aber dennoch, die Stadt gegen die Weißen
Truppen zu verteidigen.
Stalin wurde Mitglied des neuen
Inneren Direktoriums der Sowjetregierung. Hier hatte er den ersten heftigen
Zusammenstoß mit seinem Hauptrivalen Trotzki. Trotzki gliederte ehemalige
Offiziere des zaristischen Heeres in die Rote Armee ein, um die Organisation
dieser Truppe zu straffen und sie somit kampfkräftiger werden zu lassen. Stalin
wehrte sich zwar gegen dieses Vorgehen, hielt sich aber angesichts der
militärischen Erfolge Trotzkis zurück.
Als Kommandeur der Südfront
konzentrierte sich Stalin nach der erfolgreichen Verteidigung des späteren
Stalingrad darauf, die Eingliederung der kaukasischen Völker in die Sowjetunion
voranzutreiben. Es wurde der Nordkaukasus an die Sowjetunion angegliedert.
Dieses geschah zunächst auf freiwilliger Basis, da die Nordkaukasier gegen
einen konterrevolutionären Weißen General revoltiert hatten. Die Tschetschenen
erhoben sich aber wieder gegen die Sowjetmacht, und Stalin war bestrebt, die
Stabilität der Sowjetherrschaft wiederherzustellen. Den Bergvölkern versprach
Stalin folgendes auf dem Kongress der Völker:
„Jedes Volk muss seinen eigenen
Sowjet haben. Sollte der Beweis erbracht werden, dass die Scharia notwendig
ist, so mag es die Scharia geben.“
Bald gehörte der gesamte Kaukasus
mit Ausnahme Georgiens zum Territorium der Sowjetunion. Mit Hilfe eines
Parteifreundes aus seiner frühen Parteikarriere organisierte Stalin die
Rückeroberung Georgiens.
Bereits nach der
Februarrevolution gab es innerhalb des Zentralkomitees ein so genanntes
Triumvirat, welches sich aus Stalin, Kamenew und Sinowjew zusammensetzte.
Stalin war mit Kamenew zusammen in der Verbannung gewesen, Sinowjew stand
diesen beiden in vielen Auffassungen nahe und war mit ihnen befreundet. Kurz
nach der Oktoberrevolution im selben Jahr hatte Lenin gegen Sinowjew und
Kamenew ein Parteiausschlussverfahren angestrengt, weil sie den geheimen Plan
der Bolschewiki zum gewaltsamen Umsturz an die provisorische bürgerliche
Regierung unter Kerenski verraten hätten. Stalin hatte dafür gesorgt, dass der
Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Russlands verhindert wurde. Außerdem
verband alle drei eine gemeinsame Abneigung gegen Trotzki, Stalins härtesten
Widersacher um die Machtübernahme nach Lenins Tod.
Lenin zog sich wegen einer
schweren Krankheit aus der Politik zurück. Das Triumvirat setzte sich an die
Spitze der Macht innerhalb des Zentralkomitees und hielt gleichzeitig dessen
andere Mitglieder wie die Anhänger Trotzkis von der Macht fern. Dabei trat
Sinowjew vor allem als Redner auf, Kamenew führte den Vorsitz der Sitzungen und
Stalin konzentrierte sich auf die Arbeit mit dem Parteiapparat. Damit lag die
Auswahl von Funktionären für die zentralen und lokalen Posten in seinen Händen.
Bereits zu Lebzeiten Lenins wurde Kritik am Triumvirat laut. Lenin äußerte sich
in seinem sogenannten politischen Testament über Stalin. Zwar sei Trotzki
persönlich der „fähigste Mann“ im gegenwärtigen Zentralkomitee, jedoch habe er
ein übersteigertes Selbstbewusstsein und eine „übermäßige Leidenschaft für rein
administrative Maßnahmen“. Stalin habe „dadurch, dass er Generalsekretär
geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert“, von der er
womöglich nicht immer vorsichtig genug Gebrauch machen werde. Andererseits
kritisierte Lenin Trotzki, der gegen eine Entscheidung des Zentralkomitees
gekämpft habe. In einer zweiten Notiz grenzt er sich schärfer gegenüber Stalin
ab.
„Stalin ist zu grob, und dieser
Fehler, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten erträglich
ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb
schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte,
und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von
dem Genossen Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass
er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer,
weniger launenhaft ist. Es könnte so scheinen, als sei dieser Umstand eine
winzige Kleinigkeit. Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung
einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir oben geschilderten
Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit oder eine
solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung gewinnen kann.“
Stalin gelang es nach Lenins Tod,
eine offene Auseinandersetzung über diese letzten politischen Aussagen Lenins
mit Hilfe von Kamenew und Sinowjew zu unterdrücken, sodass der Inhalt zwar in
der Sowjetunion bekannt wurde, jedoch nie eine negative Wirkung auf Stalins
spätere Karriere hatte.
Auch andere Versuche, Stalins
Macht einzuschränken, scheiterten. So fanden zum Beispiel geheime Unterredungen
von Mitgliedern des Zentralkomitees statt, an denen unter anderen Sinowjew und
Kamenew teilnahmen. Wegen der Meinungsverschiedenheiten unter Stalins
Kritikern, aufgrund der Intrigen und Repressionsmittel, die ihm zur Verfügung
standen, aber auch wegen der häufig loyalen und sogar begeisterten Haltung
vieler Parteimitglieder gegenüber dem Generalsekretär, hatten diese Aktivitäten
keinen Erfolg.
Stalins Gegner Trotzki wandte
sich ebenso schriftlich an das Zentralkomitee und warf dem Triumvirat vor, ein
Regime zu errichten, das weiter von der Arbeiterdemokratie entfernt sei als der
sogenannte Kriegskommunismus. Er forderte die alte Garde auf, der noch
unerfahrenen jüngeren Generation Platz zu machen und sah das Triumvirat als
Entartung der Revolution. Nach dem offenen Ausbruch der innerparteilichen
Meinungsverschiedenheiten dauerte es indes noch mehrere Jahre, bis Stalin und
seine Anhänger sich durchsetzen konnten und Trotzki aus der Partei
ausgeschlossen wurde. Der „Verräter“ wurde zuerst nach Kasachstan verbannt,
dann endgültig aus der Sowjetunion ausgewiesen.
Nach Lenins Tod zerfiel jedoch
auch das von Trotzki angeprangerte Triumvirat. Kamenew und Sinowjew wurden zu
innerparteilichen Gegnern Stalins, welcher wiederum Unterstützung bei Bucharin
und Dzierzynski fand. Kamenew und Sinowjew wurden aus der Partei gedrängt.
Nun war Stalin somit
uneingeschränkter Alleinherrscher in der Sowjetunion. Er war das Haupt der
kommunistischen Partei. Im staatlichen Bereich beschränkte er sich lange Zeit
auf das Amt eines stellvertretenden Ministerpräsidenten der Sowjetunion. Seit
seinem fünfzigsten Geburtstag ließ er sich offiziell als „Führer“ titulieren.
Stalin trieb die
Zwangskollektivierung der Landwirtschaft unnachgiebig voran. Dabei brach er
rücksichtslos den Widerstand von als wohlhabend geltenden Bauern, die er als
„Kulaken“ diffamierte. Er betrieb er durch Verhaftungen, Enteignungen,
Todesurteile und Verschleppungen die sogenannte „Entkulakisierung“. Folge, aber
auch durchaus erwünschtes Hilfsmittel der Kollektivierung und Repression gegen
die „Kulaken“ war eine riesige Hungersnot im ganzen Land, die besonders
fürchterliche Ausmaße an der Wolga und in der Ukraine annahm. Sie kostete
mehreren Millionen Menschen das Leben.
Die Ermordung des Leningrader
Parteisekretärs Kirow, der aufgrund seiner wachsenden Beliebtheit als Stalins
Gegenspieler galt, lieferte den Vorwand für die Politik der berüchtigten
„Säuberungen“. Nahezu alle Parteimitglieder des Parteitags wurden in
öffentlichen Schauprozessen (den Moskauer Prozessen) zum Tode verurteilt und
hingerichtet. Darunter war ein Großteil der höheren Parteifunktionäre und
Minister im Staatsapparat der Sowjetunion.
Eckpfeiler seiner Theorie des
Marxismus-Leninismus waren die Entwicklung des Sozialismus in einem Land und
die Verschärfung des Klassenkampfes auf dem Weg zum Kommunismus, womit er seine
Repressionen zu legitimieren suchte.
Die drei großen Schauprozesse, in
deren Verlauf Sinowjew, Kamenew und Bucharin zum Tode verurteilt wurden, waren
aufgrund vieler Ungereimtheiten in den Aussagen der Angeklagten von der
Weltöffentlichkeit als Inszenierung entlarvt worden. Weiterhin wurde unter
Ausschluss der Öffentlichkeit ein Prozess gegen die Führungsspitze der Roten
Armee geführt. Alle diese Prozesse waren der Auftakt zu allgemeinen, von Stalin
gesteuerten „Säuberungen“, die jegliche Opposition in der Sowjetunion
ausschalten sollten. Stalin überließ dabei den Chefs der Geheimpolizei die
Durchführung seiner Instruktionen. Diese liefen meist darauf hinaus, dass die
betreffenden Personen zumindest verhaftet, häufig aber erschossen wurden.
Nun wurde die sogenannte
Stalin-Verfassung vom Sowjetkongress angenommen.
Es wurden in fünf Jahren
schätzungsweise anderthalb Millionen Menschen umgebracht. Fraglich ist, ob man
von Wahnvorstellungen Stalins reden muss. Das Ergebnis der „Säuberungen“ war,
dass Stalin nun wirklich die absolute Macht in der Sowjetunion innehatte.
Stalin umgab sich in dieser Zeit
mit einem immer größere Maße annehmenden Personenkult. Dieser äußerte sich
unter anderem in der Kunst (Lobpreisungs- und Ergebenheitswerke in Literatur
und bildender Kunst im Stil des sozialistischen Realismus) und in seiner
allgegenwärtigen öffentlichen Präsenz. So wurden in fast allen Sowjetrepubliken
einige Städte nach Stalin benannt, daneben öffentliche Gebäude, Werke, Sportstätten,
Straßen und anderes mehr.
In dem in Moskau abgeschlossenen
Nichtangriffspakt mit dem nationalsozialistischen Deutschland, dem
Hitler-Stalin-Pakt, war ein Geheimabkommen enthalten, das die Interessensphären
zwischen Deutschland und der Sowjetunion gegeneinander abgrenzte.
Stalin erklärte in der Prawda, „
dass nicht Deutschland Frankreich und England angegriffen hat, sondern dass
Frankreich und England Deutschland angegriffen und damit die Verantwortung für
den gegenwärtigen Krieg auf sich genommen haben.“
Nach dem deutschen Angriff auf
Polen besetzte die Sowjetunion gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt Teile Ostpolens.
Später wurden die baltischen Staaten und das rumänische Bessarabien, die im
Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugesprochen worden waren, ebenfalls von der
Roten Armee besetzt und der Sowjetunion einverleibt. Die neue Grenze wurde in
einem Freundschaftsvertrag festgeschrieben. Dann wurden umfangreiche
Handelsverträge geschlossen, mit denen das Dritte Reich die Fähigkeit erlangte,
erfolgreich Krieg gegen Großbritannien zu führen.
In Finnland sah Stalin ebenso
eine mögliche Gefährdung der Sicherheit des sowjetischen Staates. Er fürchtete
die Nähe der finnischen Grenze zu Leningrad und Finnland als mögliche Basis für
Luftangriffe fremder Mächte. Nachdem das Land nicht auf diplomatischem Wege zu
Gebietsabtretungen zu bewegen war, ordnete Stalin ohne eine Kriegserklärung an,
den Winterkrieg gegen Finnland zu beginnen. Diese Offensive scheiterte. Ein
zweiter sowjetischer Angriff, nun mit mehr Truppen und anderem Schwerpunkt,
zwang die finnische Regierung dazu, einen Teil ihres Territoriums abzutreten.
Danach ließ Stalin sein Kriegsziel der Besetzung des gesamten Landes und der
Errichtung einer kommunistischen Exilregierung fallen. Das aggressive Vorgehen
der Sowjetunion gegen Finnland führte noch während der Kämpfe zu ihrem
Ausschluss aus dem Völkerbund und zu empörten Reaktionen im westlichen Ausland.
Vom deutschen Angriff wurden
Stalin und die Rote Armee überrascht, obwohl Stalin verschiedene Hinweise auf
den bevorstehenden Angriff durch den Spion Richard Sorge erhalten hatte. Stalin
war fest davon überzeugt, „dass Deutschland Russland nie aus eigenem Antrieb
angreifen wird.“ Er drohte sowjetischen Militärführern an, „dass Köpfe rollen
werden“, wenn sie ohne Erlaubnis Truppenbewegungen durchführen würden. Sechs
Tage nach dem deutschen Überfall aber fluchte er nach einer Sitzung des
Volkskommissariats für Verteidigung: „Lenin hat unseren Staat geschaffen, und
wir haben ihn verschissen.“ Es war das Eingeständnis, dass die sowjetische
Führung und er persönlich einer verhängnisvollen Fehleinschätzung erlegen
waren. Stalin war überzeugt gewesen, den Konflikt mit Deutschland verschieben
zu können und hatte dem alles andere untergeordnet.
Während des
„Großen Vaterländischen Krieges“ ließ sich Stalin zum Oberbefehlshaber der
Roten Armee ernennen. Durch Appelle an den Patriotismus und durch die
allgemeine Wut auf die deutsche Aggression zum einen und den Staatsterror zum
anderen gelang es ihm, die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung zu
erreichen. Jedoch kam es im Krieg immer wieder zu fatalen Fehleinschätzungen
der Situation durch Stalin. So dachte er bei Kriegsbeginn, dass der Feind über
den Süden in Russland einrücken würde, und ließ dementsprechend dort stärkere
Truppen stationieren. Die Wehrmacht stieß aber mit ihrer Hauptmacht über den
Norden, also das Baltikum und die weißrussischen Gebiete, vor.
Stalin erwies sich bei der
Führung militärischer Verbände als unfähig. Außerdem hatte die Führung der
Roten Armee zahlreiche seiner Befehle insgeheim ignoriert, weil sie unsinnig
gewesen waren. Ebenso wurde nach dem Ende der Stalin-Ära hinter verschlossenen
Türen Stalin und der damaligen Parteiführung vorgeworfen, das Leben von
Soldaten sinnlos geopfert zu haben.
Auf den Überfall der Wehrmacht
auf die Sowjetunion reagierte Stalin anfangs gar nicht. Stalin wusste nicht,
was er dem Volk sagen sollte. Stalin war überzeugt, dass die Deutschen keinen
direkten Angriff wagen würden, sondern lediglich provozieren wollten. Er meinte
sogar, dass sie selbst eigene Städte zum Zweck der Provokation bombardieren
würden.
Anstelle Stalins wandte sich
Außenminister Molotow als erster an die Menschen der Sowjetunion und
informierte sie über den Angriff der Deutschen. Ein persönliches Auftreten
Stalins in den ersten Tagen des Großen Vaterländischen Krieges hätte seine
Politik der vergangenen Jahre zu stark in Zweifel gezogen, da die anfänglichen
Niederlagen zu einem großen Teil auf die „Säuberungen“ innerhalb der Roten
Armee zurückzuführen waren. Molotow sprach in seiner Rede erstmals vom
Vaterländischen Krieg in Bezug auf den siegreichen Abwehrkrieg des Heiligen
Russlands gegen Napoleon.
Erst später meldete sich Stalin
zu Wort und hielt eine Radioansprache, der im Gegensatz zu früheren Reden
jegliches Pathos fehlte. Viel erstaunlicher war allerdings der Inhalt der Rede.
Neben den zu erwartenden Lügen über die tatsächliche Situation an der Front war
vor allem die verwendete Sprache Stalins ein Novum. Statt wie gewohnt mit
„Genossen“, redete Stalin seine Zuhörer an mit den Worten „Genossen! Bürger!
Brüder und Schwestern! Kämpfer unserer Armee und Flotte, an Euch wende ich
mich, meine Freunde.“ Angesichts des bisherigen Personenkultes um Stalin war
diese Anrede, die faktisch auf Augenhöhe stattfand, sehr ungewöhnlich. In den
Folgemonaten veränderte sich das Bild Stalins und der sowjetischen Propaganda
völlig. Stalin trat in den Hintergrund, die Prawda veröffentlichte nur noch
alte Fotos des Diktators, Reden wurden gar nicht mehr gehalten. Anstelle einer
ideologisch motivierten Propaganda, die zum „neuen Menschen“ erziehen sollte,
trat immer mehr eine patriotisch orientierte Kriegskampagne. Stalin verschwand
größtenteils von Plakaten und aus Filmen und wurde durch die allgegenwärtige
Mutter Heimat ersetzt. Der Personenkult um Stalin trat erst gegen Ende des
Krieges in den Vordergrund, als ein Sieg der Roten Armee über das Dritte Reich
als sicher galt.
Während des Kriegs veränderte
sich auch der Terror. Von der Willkür des Großen Terrors fand ein Übergang auf
gezielten Terror gegen einzelne Volksgruppen der Sowjetunion statt, die
verdächtigt wurden, mit den Deutschen zu paktieren. Millionen von Menschen,
ganze Völker und Volksgruppen wie die Krimtataren, die Russlanddeutschen oder
die Tschetschenen wurden in dieser Zeit als potenzielle Kollaborateure nach
Kasachstan und Zentralasien deportiert, wo viele der Deportierten einen
grausamen Tod starben. Die baltischen Staaten verloren etwa zehn Prozent ihrer
Einwohner.
Auf der Konferenz von Jalta 1945
legten die drei Siegermächte – darunter Stalin – die Grenzen Europas nach der
Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands fest. Daraufhin mussten
mehrere Millionen Menschen in Osteuropa ihre Heimat verlassen
(Heimatvertreibung).
Bereits die Schlacht um
Stalingrad hatte zum Stillstand des deutschen Angriffs geführt. Die Rote Armee
kam bis an die deutschen Reichsgrenzen heran. Wenige Monate später war mit der
Schlacht um Berlin die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland
beendet.
In den Verhandlungen mit den
westlichen Alliierten (Konferenzen von Jalta und Potsdam) erreichte Stalin
Zugeständnisse, die letztlich den Machtantritt kommunistischer Parteien in
osteuropäischen Ländern begünstigten und so die Einflusssphäre der Sowjetunion
weiter ausdehnten. Die Ausschaltung unabhängiger Kommunisten durch
Schauprozesse in den von der Sowjetunion dominierten Ländern Osteuropas führte
dort zur Alleinherrschaft der stalinistischen Kräfte. Aber es kam zum Bruch mit
Marschall Tito, der einen Partisanenkampf gegen die nationalsozialistische
deutsche und die faschistische italienische Besatzung im Zweiten Weltkrieg
angeführt und die Volksrepublik Jugoslawien als einen von der Sowjetunion
unabhängigen sozialistischen Staat etabliert hatte. Die von Stalin geführte
Sowjetunion geriet in scharfen Gegensatz zu der von Amerika geführten
westlichen Welt, der Kalte Krieg begann.
In der Sowjetunion und in den von
ihr beherrschten osteuropäischen Staaten kam es erneut zu „Säuberungen“. Auch
Geistliche, Angehörige nichtrussischer Völker und zahlreiche politische Gegner
(unter anderem Zionisten) wurden inhaftiert und mitunter der Folter unterzogen,
wobei viele Unschuldige sich des Vorwurfs der „konterrevolutionären Tätigkeit“
ausgesetzt sahen.
Zu seinem zweiundsiebzigsten
Geburtstag wurde Stalin von den Linken als Mann gewürdigt, „auf den alle
friedliebenden Menschen der Welt blicken und hoffen.“ Derartige Formulierungen
entsprachen dem damals propagierten Bild von Stalin. Im Zusammenhang mit dem
Personenkult um Stalin wurden im Ostblock Schulen, Straßen und Städte nach ihm
benannt. Viele dieser Ehrungen wurden erst geraume Zeit nach seinem Tod und
nach der Entstalinisierung rückgängig gemacht.
Am Abend des 28. Februar 1953
traf sich Stalin mit Beria, dem Geheimdienstchef, und Chruschtschow zum
Abendessen. Die Unterredung, gegen deren Ende Stalin in einem langen Monolog
seine Mitarbeiter heftig kritisierte, dauerte bis vier Uhr am Morgen des 1.
März 1953. Nach der Verabschiedung seiner Gäste erlitt Stalin in seinem Zimmer
unbemerkt einen Schlaganfall. Erst um 23 Uhr wagte sich der diensthabende
Mitarbeiter zu Stalin, den er im Unterhemd auf dem Fußboden liegend fand.
Stalin war bei Bewusstsein, konnte aber nicht sprechen. Die Bediensteten legten
ihn auf den Diwan, wo er das Bewusstsein verlor. Um drei Uhr morgens erschien
Beria. Dieser verbot den Leibwachen und Hausbediensteten zu telefonieren und
entfernte sich. Um neun Uhr kam Beria in Begleitung von Chruschtschow zurück,
etwas später erschienen weitere Politbüromitglieder und Ärzte.
Einige Stunden später wurde eine
Regierungsmitteilung veröffentlicht, in der mitgeteilt wurde, dass Stalin
Gehirnblutungen erlitten hatte, die lebenswichtige Teile des Gehirns erfassten.
Am 5. März 1953 verstarb Stalin im Alter von 74 Jahren.
Die Trauerbezeugungen unter
Kommunisten in aller Welt und unter linken Intellektuellen waren
außerordentlich. In dem bei der Beisetzung auf dem Roten Platz auftretenden
Gedränge gab es etliche Tote. Nach den Trauerzeremonien brachte man Stalins
Leiche in das Lenin-Mausoleum. Die Leiche wurde einbalsamiert und neben Lenins
Leiche aufgebahrt.
Stalin hatte einmal spöttisch
gefragt: „Wie viele Divisionen hat denn der Papst?“ Den Tod Stalins
kommentierte Papst Pius XII so: „Und nun wird Herr Stalin die Divisionen des
Papstes kennen lernen.“