Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

DIE BOLSCHEWIKI



Studie von Josef Maria Mayer


ERSTES KAPITEL
LENIN

Lenin stammte aus einer sozial und kulturell liberalen Familie, die einst in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Seine deutsch erzogene Mutter wuchs in einem Dorf auf und erhielt eine häusliche Bildung. Als Autodidaktin erlernte sie mehrere Fremdsprachen. Sie heiratete den Mathematik- und Physiklehrer Uljanow. Obwohl sie im selben Jahr als Externe das Lehrerinnenexamen ablegte, worauf sie sich selbstständig vorbereitet hatte, widmete sie sich ganz ihrer Familie.
Lenins Vater hatte die Kasaner Universität absolviert. Er gab seine langjährige Lehrtätigkeit an höheren Schulen in Pensa und Nischni Nowgorod auf und wurde zunächst Inspektor, später Direktor von Volksschuleinrichtungen in Simbirsk. Er wurde dann in den erblichen Adelsstand erhoben. In fast zwanzig Jahren seiner Tätigkeit stieg die Zahl der Schulen im Gouvernement Simbirsk bedeutend. Außerdem erzog er viele „fortschrittliche Lehrer“, die „Uljanows“ genannt wurden.
Die Eltern Lenins lebten in Simbirsk. Die Familie Uljanow hatte dabei eine Geschichte des sozialen Aufstiegs hinter sich. Lenins Großvater väterlicherseits war ein aus der Leibeigenschaft befreiter Bauer, der sich als Schneider niederließ.
Nach zaristischer Rangordnung war Lenin ein Adliger, auch wenn erst der Vater in den Adelsstand erhoben worden war und die Familie nicht recht an die höhere Gesellschaft anschließen konnte. Sein Vater verstarb unerwartet an einer Hirnblutung. Lenins älterer Bruder Alexander, Student an der Mathematisch-Physikalischen Fakultät an der Universität Sankt Petersburg, hatte sich einer revolutionären Gruppe angeschlossen, die den Zaren Alexander III. ermorden wollte. Er wurde hingerichtet. Die Familie wurde anschließend fast vollständig gemieden, lebte aber trotz des Todes des Vaters und der Schande der Hinrichtung des Sohnes in materiellem Wohlstand. Neben einer stattlichen Rente hatte sie Einkünfte aus dem Besitz eines Landguts, das noch zu Lebzeiten des Vaters aus der Mitgift der Mutter erworben worden war.
Zusammen mit dem frühen Tod des Vaters prägte die Hinrichtung seines Bruders den jungen Lenin entscheidend. Sein Bruder wurde drei Tage nach dem Beginn der Abschlussprüfungen Lenins an der Schule gehängt. Lenin bestand dies Prüfung trotzdem. Er studierte die Bücher, die Alexander hinterlassen hatte, vor allem die des verbannten Revolutionärs Tschernyschewski, der für eine klassenlose Gesellschaft eintrat. Lenin hatte viele intellektuelle Interessen wie Literatur und Altphilologie und war auch ein geschickter Schachspieler.
Lenin konnte nicht in Sankt Petersburg studieren und schrieb sich an der Universität Kasan für das Studium der Jurisprudenz ein. Schon in seinem ersten Jahr beteiligte Lenin sich an einem Studentenprotest und wurde zusammen mit anderen Studenten von der Universität verwiesen. Lenin nahm bei diesem Treffen keine führende Rolle ein. Seine Bestrafung durch die Behörden war vor allem durch die Geschichte seines Bruders motiviert. Der Vater des späteren Ministerpräsidenten Kerenski der Provisorischen Regierung, der Lenin am Gymnasium unterrichtet hatte, setzte sich vergeblich für die Aufhebung des Urteils ein.
Bei Samara bezog die Familie ein Gut, das sie mit ihrem Kapital erworben hatte; bald darauf aber verpachtete sie es. Lenin erwies sich als ungeeignet zum Gutsverwalter und gab sich auch keine Mühe. Entgegen einer später von den Kommunisten verbreiteten Behauptung hat er keine Kontakte zu Bauernfamilien gehabt, sein Wissen über das Bauerntum stammte vielmehr nur aus Büchern. Diese äußerten sich negativ über die russischen Bauern, denen sie Trunksucht, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit unterstellten.
Lenin lebte vom Vermögen der Familie, unternahm lange Wanderungen, gab den jüngeren Geschwistern Nachhilfe, las politische Literatur und setzte sein Jurastudium fort. Er durfte die Prüfungen abschließen, was ihm auch gelang. Die spätere kommunistische Propaganda verschwieg, dass auch Kirchenrecht zu seinen Fächern gehörte. Dann nahm Lenin eine Tätigkeit als Advokatengehilfe auf. Er betätigte sich auch in einigen wenigen Fällen als Advokat und nahm zwei Fälle an, einmal gegen Bauern, die ihr Vieh unberechtigterweise auf dem Anwesen seiner Familie hatten weiden lassen, ein anderes Mal klagte er gegen einen ehemaligen französischen Adligen, der ihn bei einem Besuch in Paris mit seinem Auto angefahren hatte.
Lenin beschäftigte sich bereits in jungen Jahren mit verschiedenen politischen Theorien. Einerseits setzte er sich kritisch mit den russischen „Bauernsozialisten“ (Narodniki), andererseits mit den Thesen von Karl Marx, die er bereits theoretisch interpretierte, auseinander. Lenin hielt Russland für wirtschaftlich und sozial fortgeschrittener als es tatsächlich war, sodass er an eine baldige proletarische Revolution glaubte. Andere Revolutionäre fanden, Lenins Marxismus setze zu sehr auf die terroristischen Aspekte der Narodniki, zum Beispiel wiederholte Lenin immer wieder den Satz „das ganze Haus Romanow“ müsse getötet werden.
Lenin verurteilte die Hilfsaktionen der gebildeten Schicht anlässlich der Hungersnot in der Provinz Samara, in der er als Advokat tätig war. Er wertete die Hungersnot als Schritt in Richtung Sozialismus, da sie den Glauben an den allmächtigen Gott und den gottbegnadeten Zaren zerstöre. Vom Pächter seines eigenen Landgutes forderte er die volle vereinbarte Summe, der wiederum die Bauern trotz der Hungersnot voll zahlen ließ.
Lenin zog nach Sankt Petersburg. Dort studierte er die Theorien von Plechanow, dem er später in der Schweiz auch selber begegnete. Nach einer mehrmonatigen Europareise durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz gründete er den „Bund für die Befreiung der Arbeiterklasse“. Sobald er im Herbst nach Russland zurückgekommen war, nahm er seine demagogische Tätigkeit wieder auf.
Während der Vorbereitung einer illegalen Zeitung wurde er verhaftet (die Anklage lautete: Demagogie). Im Untersuchungsgefängnis richtete er sich eine Bibliothek in seinem „Studierzimmer“ ein. Anschließend wurde er für drei Jahre nach Südsibirien verbannt, wo er unter Polizeiaufsicht leben musste. In Ufa traf er Nadeschda Krupskaja, die er in der Verbannung heiratete.
Sofort nach der Rückkehr aus der Verbannung suchte Lenin nach einer Möglichkeit, eine von der Zensur unabhängige Zeitung herauszubringen. In Russland war das nicht möglich, und so ging er für über fünf Jahre ins Ausland. Nach einem kürzeren Aufenthalt in Genf, wo er sich mit Plechanow über die Herausgabe der Zeitung „Der Funke“ einigte, ließ sich Lenin in München illegal nieder. Dort erschien die von ihm mit herausgegebene Zeitung „Morgenröte“.
Er veröffentlichte in der bayerischen Landeshauptstadt die programmatische Schrift „Was tun?“ unter dem Decknamen „Lenin“. Sie machte ihn unter den Revolutionären bekannt, polarisierte aber auch stark. Denn darin entwarf er das Konzept einer geheim agierenden, disziplinierten und zentralisierten Klassenkampf-Partei, bestehend aus Berufsrevolutionären. Die Partei sollte in ideologischen und strategischen Fragen geeint auftreten und die ungebildeten Masse der Bevölkerung auf dem Weg zur Revolution anführen. Die Notwendigkeit einer solchen konspirativen Organisation begründete Lenin damit, dass im Autokratischen Zarenreich keine andere Partei erfolgreich einen Umsturz einleiten könne. Lenin wandte sich in seiner Schrift explizit gegen die liberale Linke, die eine Veränderung durch demokratische Organisation und Gewerkschaften erwirken wollte. Die Idee der Partei als straff geführte Geheimorganisation war bei den Organisationsbereiten unter Russlands Linken nicht strittig, und Lenin bemühte sich mit Zitaten von Marx und Engels, die Forderungen marxistisch zu begründen. Manchen russischen Sozialdemokraten empörte es, dass Lenin dabei terroristische Bauernführer und den Massenterror lobte. Lenins Betonung der Konspiration musste als Aufruf zu Verschwörungen interpretiert werden. Später wurde Lenins Organisationsmodell als „demokratischer“ Zentralismus bekannt.
Seit München verwendete er den Kampfnamen „Lenin“. Man sagt, dass er sich dabei auf den sibirischen Strom Lena bezog. Lenin bedeutet russisch: „Der vom Fluss Lena Stammende“. Nach Sibirien verbannt zu werden, bedeutete damals praktisch, dass man im Heiligen Russischen Zarenreich als Oppositioneller galt. Andere sagen, dass er mehr an sein Kindermädchen Lena dachte, und dass er bereits als kleiner Junge auf die Frage, „wessen Kind er sei“, zu antworten pflegte: „Lenin!“, zu deutsch: „Lenas!“
Lenin hatte mehrere Decknamen, beispielsweise lebte er im Münchner Stadtteil Schwabing als Jordan Jordanow und andernorts in München unter dem Namen Mayer.
Lenin betrieb den Aufbau einer streng organisierten Kaderpartei aus Berufsrevolutionären und wurde wegen seiner vom russischen revolutionären Terrorismus inspirierten Rigorosität und wegen seiner radikalen theoretischen Positionen der aufsehenerregendste linke Sozialdemokrat.
Die Ansichten und Absichten Lenins führten auf dem zweiten Parteitag in London zur faktischen Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Lenin hatte mit erfolgreicher List seine Anhänger in das Organisationskomitee platziert. Unterstützt von Plechanow und durch den Auszug der reformorientierten Ökonomisten und der jüdischen Delegierten vom Bund gelang es Lenin, seine Hauptforderungen in das Parteiprogramm und das Statut zu bringen, unter anderem die Betonung der Diktatur des Proletariats. Lenin nannte aufgrund der Abstimmungsmehrheit seine Gruppe Bolschewiki (Mehrheit) und die Gemäßigten Menschewiki (Minderheit).
1905 brach eine russische Revolution aus, während das Land sich im Krieg mit Japan befand. Für Lenin stand nicht der innenpolitische Kampf gegen die Regierung, sondern der Kampf gegen die Menschewiki im Vordergrund, während er außenpolitisch für Japan Partei ergriff. So wird er auch später im Ersten Weltkrieg die Feinde des Zaristischen Russlands unterstützen. Diese Haltungen Lenins haben bei anderen Parteimitgliedern nicht viel Verständnis gefunden; einige von Lenins engsten Mitarbeitern wollten einen dritten Parteitag vorbereiten und dort die Versöhnung der Bolschewiki mit den Menschewiki bewirken. Einen schroffen Brief an die Bolschewiki, der Lenin vollkommen isoliert hätte, schwächte er in einem späteren Entwurf ab. Trotzdem haben sich die Bolschewiki über Lenins Realitätsferne gewundert.
In dieser Zeit nahm Lenin auch den Sowjet-Gedanken auf, während viele Bolschewiki einer Verschwörung im Geheimen den Vorzug gaben. Nach dem Moskauer Aufstandsversuch der Bolschewiki im Dezember 1905 war Lenin skeptisch, was Aufstände anging, die Partei solle sich besser in das Parlament wählen lassen. Er befürwortete damals noch die Zusammenarbeit mit den Menschewiki.
Dann musste Lenin vor der russischen Geheimpolizei nach Finnland fliehen, nach Helsinki, ein Jahr später zog er nach Genf.
Im Laufe der Jahre wurden die Unterschiede zwischen den beiden Lagern immer größer, so dass bei der sechsten Gesamtrussischen Parteikonferenz in Prag die Menschewiki ausgeschlossen wurden. Sie bildeten daraufhin eine eigene Partei. Erst nach der Oktoberrevolution nannten die Bolschewisten ihre Partei in Kommunistische Partei Russlands um.
Die Parteispaltung war von der zaristischen Geheimpolizei gefördert worden; Lenins enger Mitarbeiter Roman Malinowski war ihr Agent. Mitglieder der Bolschewiki verdächtigten Malinowski als Spion, nachdem einige Parteimitglieder verhaftet worden waren. Lenin tat diese Vorwürfe im Rahmen einer partei-internen Untersuchung mit Verweis auf dessen Herkunft aus einer Arbeiterfamilie ab.
Lenin gab nun die „Prawda“ heraus. In der Folgezeit widmete er sich im Schweizer Exil wieder marxistischen Studien, es entstand vor allem seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, die die Grundlage der marxistischen Theorie des Imperialismus sowie der darauf basierenden Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus bildete. Dieses Werk vollendete er in Zürich, wohin er umziehen durfte, nachdem er ein entsprechendes Ersuchen mit dem Wunsch nach Nutzung der dortigen Zentralbibliothek begründet hatte.
Im August 1914 begann der Erste Weltkrieg. Lenin hatte über einen österreichisch-russischen Krieg spekuliert, ihn aber in einem Brief an Maxim Gorki für unwahrscheinlich gehalten:
„Ein Krieg zwischen Österreich und Russland wäre für die Revolution in ganz Osteuropa sehr nützlich, aber es ist kaum anzunehmen, dass uns Franz Joseph und unser Freund Nikolaus dieses Vergnügen bereiten.“
Die Bolschewiki waren international die einzige sozialdemokratische Parteiorganisation, die von Anfang an gegen die Kriegspolitik der eigenen Regierung mobilisierte. Dennoch gelang es der Partei nicht, sich einen nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung zu verschaffen. Ihre Mitgliederzahl, ihre Akzeptanz und ihr Einfluss blieben gering.
Die deutsche Oberste Heeresleitung ermöglichte den Bolschewiki, unter den russischen Kriegsgefangenen Propaganda zu betreiben, und nach der Februarrevolution ließ sie Lenin und andere russische Revolutionäre aus der Schweiz durch Deutschland reisen, weiter ging es über Stockholm nach Russland.
Diese Reise war vom deutschen Kaiser Wilhelm II. persönlich an die Bedingung geknüpft, dass Lenin einen Separatfrieden anstrebe, was dieser vorher kategorisch abgelehnt hatte und nach seiner Ankunft in Russland auch weiterhin dementierte. Um nicht in den Verdacht des Vaterlandsverrats zu kommen, bezeichnete Lenin die finanzielle Unterstützung der Bolschewiki durch das deutsche Kaiserreich wider besseres Wissen öffentlich als Lüge.
Nachdem in der Februarrevolution der heilige Zar gestürzt worden war, die russische Armee aber noch weiterkämpfte, kehrten Lenin und andere Kommunisten mit Unterstützung der deutschen Obersten Heeresleitung aus der Schweiz über das Gebiet des Kriegsgegners Deutschland, über Schweden und Finnland nach Russland zurück. Sie fuhren in einem versiegelten Zug, der zu exterritorialem Gebiet erklärt worden war. Außerdem transferierte die deutsche Regierung auch mehrere Millionen Goldmark, um die mit der Revolution einhergehende Destabilisierung voranzutreiben. Lenin erreichte im April mit einigen seiner Genossen den Finnischen Bahnhof in Sankt Petersburg und propagierte die Revolution zur Machtergreifung der Arbeiter, Bauern und Soldaten. In seinen Aprilthesen forderte er umfangreiche Enteignungen, eine Machtübertragung an die Sowjets und den Sturz der provisorischen Regierung.
Lenin stellte sich gegen die provisorische Regierung unter Kerenski, den er öffentlich als Dummkopf schmähte. Bereits im Juni verkündete Lenin im Rahmen des Vierten Allrussischen Sowjetkongresses die Ambition der Bolschewiki, die Macht im Land zu übernehmen. Seine Forderungen nach einer Verteilung des Landes an die Bauern ohne Entschädigung und nach der Enteignung der reichsten Bevölkerungsschicht wurden rasch populär. Die Bolschewiki agitierten in der russischen Armee gegen die Weiterführung des Krieges, auch wenn Lenin einen Separatfrieden noch öffentlich ablehnte. Als sich das Scheitern der Angriffsoperationen abzeichnete, warf Lenin der Provisorischen Regierung vor, Tausende Menschen in ein blutiges Gemetzel getrieben zu haben. Im Juli versuchte Lenin den Prestigeverlust der Regierung für die Ziele der Bolschewiki auszunutzen. In der Hauptstadt Sankt Petersburg forderte die Partei zu Massendemonstrationen auf. Diese führten aber nicht zum Umsturz, sondern schlugen sich nur in chaotischen bewaffneten Auseinandersetzungen und Plünderungen nieder. Lenin stellte fest, dass ein Aufstand besser organisiert werden müsse, um effektiv zu sein. Er selbst befand sich zu Beginn der Demonstrationen nicht in der Hauptstadt, sondern zur Erholung in Finnland. Die Provisorische Regierung setzte Militär ein und brachte die Stadt so wieder zur Ruhe. Zudem wurde ein Gerichtsverfahren gegen Lenin wegen Hochverrats anberaumt. Die Partei der Bolschewiki und ihr Hauptpresseorgan, die „Prawda“, wurden offiziell von der Regierung verboten. Der Partei gelang es allerdings durch eine Namensänderung der Partei sowie der „Prawda“, weitgehend ihre Aktivitäten aufrechtzuerhalten.
Lenin fürchtete nach diesem Scheitern die Todesstrafe, falls er sich der Anklage stellen würde, und begab sich in den Untergrund. Er nahm nach den Maßnahmen der Regierung gegen die Bolschewiki einen Strategiewechsel vor, den er selbst wie folgt zusammenfasste:
„Alle Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung der russischen Revolution sind nutzlos verschwunden. Dies ist die objektive Situation: Entweder vollständiger Sieg der Militärdiktatur oder der Sieg für den bewaffneten Aufstand.“ Er drängte somit auf einen bewaffneten Aufstand.
Nach weiteren militärischen Fehlschlägen der gemäßigt sozialistisch-liberalen „Provisorischen revolutionären Regierung“ unter Kerenski gelang es den Bolschewiki und den neu gegründeten Sowjets am 7. November 1917 , die bürgerliche Regierung zu stürzen. Trotzki, Lenins Vertrauter, organisierte den Aufstand, der auf wenig Gegenwehr stieß. Bei diesem Auftakt zur Oktoberrevolution wurden sechs Menschen getötet. Einen Tag später tagte in Sankt Petersburg auch der Zweite Allrussische Sowjetkongress. Die Bolschewiki besaßen in diesem zentralen Arbeiter- und Soldaten-Sowjet zunächst keine Mehrheit. Aus Protest gegen das Vorgehen der Bolschewiki verließen jedoch viele Abgeordnete, darunter die Menschewiki, den Sitzungssaal und überließen den Bolschewiki das Feld. Lenin wurde über Nacht als Vorsitzender des Sowjets der Volkskommissare der Regierungschef Russlands. „Ein steiler Aufstieg aus dem Keller an die Macht“, sagte er, „mir dreht sich der Kopf“.
Auf dem Zweiten Sowjetkongress legte Lenin noch dar, dass seine Regierung die Russische konstituierende Versammlung respektieren werde und sich lediglich als Provisorium bis zu deren Wahl verstehe. Die Wahl lief selbst demokratisch und ohne Zwischenfälle ab. Sie brachte den Bolschewiki aber eine empfindliche Niederlage ein, da die Mehrheit der Stimmen an die Sozialrevolutionäre ging und Lenins Partei nur rund ein Viertel der Sitze gewann. Legal war eine Machtübernahme damit unmöglich. Daraufhin ließ Lenin, der bereits zuvor die Legitimation der Versammlung kritisiert hatte, sie am Tag nach der Wahl gewaltsam auflösen. In Sankt Petersburg kam es daraufhin zu Demonstrationen und gewalttätigen Zusammenstößen, in deren Verlauf mehrere Menschen zu Tode kamen.
Der sofortige Friedensschluss, die Verteilung des Bodens an die Bauern und die Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter waren die unmittelbar wirkenden Losungen. Die Partei etablierte unter Lenins Vorsitz den Rat der Volkskommissare als bolschewistische Regierung. Im Februar entstanden zu ihrer Unterstützung die Rote Armee unter der Führung Trotzkis und die Geheimpolizei Tscheka unter Dserschinski. Im März beendete das Abkommen von Brest-Litowsk den Krieg mit Deutschland unter massiven Gebietsverlusten für Russland.
Lenin wurde bei einem Attentat durch zwei Schüsse verletzt. Die Projektile trafen ihn in Schulter und Hals. Als Attentäterin verhaftete man kurz darauf Fanny Kaplan, eine Anhängerin der Sozialrevolutionäre, die als Anhängerin der gewaltsam aufgelösten konstituierenden Versammlung Lenin für einen Verräter an der Revolution hielt. Nach einem Verhör durch die Tscheka wurde sie ohne ein Gerichtsverfahren exekutiert.
Später wurde die Kugel im Hals operativ entfernt, nachdem Lenin einem Neuropathologen berichtet, er habe an Zwangsvorstellungen zu leiden.
Einen Monat nach der Operation erlitt Lenin einen schweren Schlaganfall. Der Schlaganfall lähmte Lenin rechtsseitig, erschwerte das Sprechen, verwirrte den Geist und machte eine Genesung fraglich. Lenin dachte an Selbstmord und bat Stalin um Gift.
Wie lange der Bürgerkrieg dauerte, ist schwer zu sagen. Geprägt war der Bürgerkrieg von den Konfliktparteien der Weißen, der Roten und mit den Grünen auch durch Kampfhandlungen der ländlichen Bevölkerung gegen Rote und Weiße Truppen. Nationale Erhebungen und anarchistische Strömungen spielten gleichfalls eine Rolle. Um den Krieg zu gewinnen, griff die bolschewistische Partei zu Maßnahmen des Kriegskommunismus und setzte sich militärisch erfolgreich durch. Lenin war in diesen Jahren trotz vieler offen ausgetragener Meinungsunterschiede die unumstrittene Führungspersönlichkeit der Partei und der Regierung und wurde auch als die höchste Autorität der dritten Kommunistischen Internationale angesehen.
Bereits kurz nach der Oktoberrevolution versuchte Lenin, die russische Wirtschaft per Dekret in eine zentrale Planwirtschaft umzuwandeln. Als Erstes wurden die Banken verstaatlicht. Gemäß dem Parteiprogramm der Bolschewiki sollte das Geld als Zahlungsmittel komplett abgeschafft werden. Da das Geld nicht per Dekret abgeschafft werden konnte, ließ die Regierung durch zusätzliches Gelddrucken eine Hyperinflation herbeiführen, die alle umlaufenden Geldmittel entwertete. Lenin beauftragte Juri Larin damit, eine zentrale Planungsinstanz für die Verstaatlichung der Industrie zu schaffen. Hieraus ging der Oberste Wirtschaftsrat hervor, der die Enteignung der privaten Unternehmen umsetzte, deren Eigentümer in der Regel ihre Betriebe entschädigungslos abtreten mussten. Das Firmenvermögen wurde vom Staat eingezogen.
Neben diesem Umbau in der Wirtschaft führte Lenin auch Reformen im Bildungswesen durch. Die Alphabetisierung des Landes wurde von ihm energisch vorangetrieben. Er schuf per Dekret verpflichtende Unterrichtskurse für Analphabeten. Es wurde die Einrichtung eines Netzes von Kleinbibliotheken geschaffen, das jedem den Zugang zu Büchern sichern sollte. Auf der Ebene der Hochschulbildung öffnete Lenins Regierung den Zugang für ärmere Bevölkerungsschichten und schaffte das mehrgliederige Schulsystem ab. Es wurden Arbeiterfakultäten eingeführt, die auch Erwachsenen, denen ein Studium nicht möglich gewesen war, den Zugang zu universitärer Bildung öffneten.
Gegen die bolschewistische Regierung formierte sich in vielen Landesteilen Widerstand. Um ihre Macht zu sichern und den Widerstand zu brechen, setzte die Regierung die vom Volkskommissar für Kriegswesen Trotzki aufgestellte Rote Armee ein. So entwickelte sich ein Bürgerkrieg, in den sich Amerika, Großbritannien und zahlreiche andere Staaten durch die massive Unterstützung der Weißen Truppen einmischten. Dieser Bürgerkrieg war durch große militärische Härte (Roter Terror) geprägt und endete mit der Niederlage der Weißen Truppen.
Lenin selbst beschränkte sich während des Bürgerkriegs weitgehend auf die politische Führung des Sowjetstaates. Nach seiner eigenen Aussage war es für ihn zu spät, sich militärische Kenntnisse anzueignen. Er begnügte sich damit, die grobe Strategie zu bestimmen, in die Planung der militärischen Operationen mischte er sich dagegen kaum ein. Auf Besuche an der Front verzichtete er während des gesamten Krieges.
Im Rahmen seiner Weisungsbefugnis als Staatschef regte er allerdings an, Geiseln unter Zivilisten und Angehörigen von Offiziersfamilien nehmen zu lassen, da er Hochverrat unter den im alten Regime ausgebildeten Offizieren fürchtete. Lenin förderte und verlangte als Staatschef den Roten Terror im Bürgerkrieg. So ordnete er in einem Schreiben an die Behörden von Nischni Nowgorod an: „Organisiert umgehend Massenterror, erschießt und deportiert die Hundertschaften von Prostituierten, die die Soldaten in Trunkenbolde verwandeln, genauso wie frühere Offiziere, und so weiter.“ Er ordnete gegenüber den Behörden von Pensa die Einrichtung eines Konzentrationslagers an. Lenin legitimierte den Roten Terror als vorübergehend notwendige Maßnahme im Bürgerkrieg, er diene der Verteidigung gegen die Weißen Truppen. So erklärte er „Der Rote Terror wurde uns durch den Terrorismus der stärksten Mächte der Welt aufgezwungen, die vor nichts zurückschreckend, mit ihren Horden über uns herfielen. Wir hätten uns keine zwei Tage halten können, wären wir diesen Versuchen der Offiziere und Weißgardisten nicht ohne Erbarmen begegnet, und das bedeutet Roter Terror..“ Später sagte Lenin, dass er keineswegs die Abschaffung des Terrors vorsah: In einem Brief zur Reform der Justiz äußerte er die Absicht, den Terror staatlichem Konventionen zu unterwerfen, die Idee ihn abzuschaffen bezeichnete er hingegen als Selbsttäuschung.
Lenin unternahm nach innerparteilichen Auseinandersetzungen den Versuch, den Kommunismus im Ausland zu etablieren. Nachdem polnische Einheiten und ukrainische Nationalisten vergeblich versucht hatten, die Ukraine zu besetzen und aus dem sowjetischen Staatenbund zu lösen, ließ die Partei die Rote Armee in Polen einmarschieren. Die Hoffnung auf eine einsetzende Revolution dort erfüllte sich aber nicht. Die katholischen und patriotischen Polen kämpften, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, gegen den sowjetischen Einmarsch. Die Rote Armee wurde von polnischen Truppen unter Marschall Pilsudski vernichtend geschlagen (das „Wunder an der Weichsel“).
Während des Bürgerkrieges kam es zu einer Versorgungskrise. Ursächlich dafür war die Agrarpolitik der Bolschewiki. Gemäß den Lehren des Marxismus betrachteten sie die selbstständigen Bauern als eine kleinbürgerliche Klasse ohne Zukunft. Im Zuge der Zentralisierung der Landwirtschaft sollten die Bauern ihre Erträge zu niedrigen Festpreisen an die staatlichen Behörden abgeben. Als die Bauern dies verweigerten, ließ Lenin die Erträge durch bewaffnete Kommandos aus den Städten einsammeln. Dieses Vorgehen forderte zahlreiche Menschenleben. Die Bauern reagierten auf die Zwangsmaßnahmen mit militärischem Widerstand und der Verkleinerung der Anbauflächen, was wiederum zu noch geringeren Erträgen und vor allem in den Städten zu Hungersnöten führte. Verschärft wurde die Ernährungslage durch den andauernden Bürgerkrieg.
Dann kam es zum Kronstädter Matrosenaufstand, der für die Bolschewiki gefährlich war, weil er von Teilen der eigenen Basis kam. Er wurde blutig niedergeschlagen. Die Bolschewiki richteten zu ihrer Herrschaftssicherung Konzentrationslager für Regimegegner ein, die Vorläufer der später von Stalin eingerichteten und umfassenden Arbeitslager, den Gulags.
Während des Bürgerkrieges verfolgte Lenin gegenüber der Russisch-Orthodoxen Kirche anfangs noch eine zurückhaltende Politik. Auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress sprach sich Lenin dafür aus, die Religion mit gewaltlosen Mitteln der Agitation zu bekämpfen. Kurz nach seiner Machtübernahme setzte er per Dekret die Trennung von Kirche und Staat durch. Ein Jahr nach dem Bürgerkrieg dirigierte Lenin eine groß angelegte Kampagne des Staates und der Partei gegen die Heilige Kirche Christi. Als Vorwand diente die in weiten Teilen des Landes herrschende Hungersnot. Führende Kirchenhierarchen hatten als Hilfe für die Hungernden freiwillig Teile des Kirchenbesitzes als Spenden freigegeben. Lenin verschärfte diese Maßnahme dadurch, dass er die notfalls gewaltsame Konfiskation sämtlicher Kirchengüter, inklusive geweihter Gegenstände, anordnete. Diese Maßnahmen trafen bei großen Teilen der Bevölkerung auf Widerstand.
So äußerte sich Lenin in einem Brief an das Politbüro bezüglich des Vorgehens in der Stadt Schuja, wo es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Soldaten, die Kirchenbesitz einziehen sollten, und gläubigen Christen gekommen war, folgendermaßen: „Je mehr Vertreter des Priesterstands an die Wand gestellt werden, desto besser für uns. Wir müssen all diesen Leuten unverzüglich eine solche Lektion erteilen, dass sie auf Jahrzehnte hinaus nicht mehr an irgendwelchen Widerstand denken werden“. Dieses Vorgehen führte im ganzen sowjetischen Staatsgebiet zu staatlich gelenkten Pogromen gegen gläubige Christen, Priester und Ordensleute. Die Zahl der geöffneten orthodoxen Gotteshäuser fiel von hunderttausend auf zehntausend. Über fünfzehntausend orthodoxe Priester, Mönche und Nonnen und Laien wurden dabei von staatlichen Organen ermordet. Auch die katholischen, jüdischen und muslimischen Minderheiten des Staates wurden ermordet. Auf Lenins Initiative wurde der einflussreiche Patriarch von Moskau, Tichon, inhaftiert.
Die Orthodoxe Kirche war seit Gründung des Heiligen Russischen Reiches immer eine Stütze des Zaren gewesen. In seinem Geheimbrief legte Lenin seine Befürchtung einer vom Klerus geleiteten Konterrevolution dar und bekräftigte, dass der Klerus bekämpft werden müsse.
Lenin war auch an der Kontrolle des intellektuellen Lebens im Sinne der Partei maßgeblich beteiligt. Das Politbüro fasste unter seinem Vorsitz den Beschluss, wissenschaftliche Kongresse nur noch nach Genehmigung der Geheimpolizei zuzulassen. Lenin dirigierte eine Repressionswelle gegen führende Wissenschaftler, Künstler und Studenten des Landes. Ein Teil der Opfer wurde ins Ausland oder innerhalb des Sowjetstaates verbannt. Es kam auch zu Gefängnisstrafen und zu Erschießungen. Lenin redigierte die erstellten Listen der Opfer selbst. Auf Beschwerden des kommunistischen Schriftstellers Maxim Gorki rechtfertigte sich der Führer in einem Brief wie folgt: „Die intellektuellen Kräfte der Arbeiter und Bauern wachsen im Kampf gegen die Bourgeoisie und ihre Helfershelfer, die sogenannten Intellektuellen, die Lakaien des Kapitals, die sich als Gehirn der Nation wähnen. In Wirklichkeit sind sie doch nur der Unrat der Nation.“
Lenin ist aber auch bestrebt gewesen, die Intelligenz für die Revolution zu gewinnen, so meinte er: „Die neue Gesellschaft kann nicht aufgebaut werden ohne Wissen, Technik und Kultur, diese aber sind im Besitz der bürgerlichen Spezialisten. Die meisten von ihnen sympathisieren nicht mit der Sowjetmacht, doch ohne sie können wir den Kommunismus nicht aufbauen.“ Die Spezialisten müssen also von „Dienern des Kapitalismus, zu Dienern der werktätigen Masse, zu ihren Ratgebern gemacht werden.“ Lenin forderte sogar von der kommunistischen Partei, „dass wir jeden Spezialisten, der gewissenhaft, mit Sachkenntnis und Hingabe arbeitet, auch wenn seine Ideologie dem Kommunismus völlig fremd ist, wie unseren Augapfel hüten.“
Dort wo die Arbeiter den Vorstellungen der Bolschewiki nicht folgen wollten, zeigten diese wenig Hemmungen, auch gegen Angehörige der Arbeiterklasse mit Gewalt vorzugehen: Nachdem in den Sankt Petersburger Putilow-Werken mehrere tausend Arbeiter in den Streik getreten waren, sich in ihren Forderungen gegen die diktatorische Herrschaft der Bolschewiki gewandt hatten und Lenins Versuch, sie persönlich mit einer Rede zu disziplinieren, in den Protestrufen der Arbeiter untergegangen war, wurden Panzerwagen in die Werke entsandt und Einheiten der Tscheka herbeigeordert, die die Streikführer festnahmen und erschossen.
Gegenüber der Landbevölkerung verfolgte Lenin eine schwankende Politik. Er befahl er die Gründung von Komitees der Dorfarmut. Lenin teilte zur damaligen Zeit das Dorf in ärmere Bauern und Landarbeiter ein, welche mittelständischen Bauern und wohlhabenden Kulaken gegenüberstünden. Mithilfe der Komitees wollte er die beiden Ersteren an die Bolschewiki binden. Ebenso sollten sie der Durchsetzung der Zwangseinziehung von Nahrungsmitteln auf dem Dorf dienen. Um Motivation bei den Mitgliedern der Komitees zu wecken, durften sie einen Anteil des requirierten Getreides ihrer Dorfgenossen selbst behalten. Die Komitees erzielten aber nicht die gewünschte Wirkung, da in den meisten Fällen die Bindung der ärmeren Bauern an die Dorfgemeinschaft größer war als die Loyalität zum kommunistischen Regime. Lenin wertete die Komitees in der Öffentlichkeit als großen Erfolg, schaffte sie aber de facto wieder ab. Dann änderte Lenin seine Politik und konzentrierte sich darauf, die Mehrheit der Bauernschaft für sich zu gewinnen. Wegen der gleichzeitigen Zwangseinziehung von Getreide blieb es aber trotz dieser Wende bei einer tiefen Spaltung zwischen Lenins Regime und den Bauern.
Um die schlechte Versorgungslage nach dem gewonnenen Bürgerkrieg zu verbessern, setzten Lenin und Trotzki die Neue Ökonomische Politik gegen eigene Bedenken und große Widerstände in der Partei durch. Sie ersetzte die Requirierungen des Kriegskommunismus durch eine Naturalsteuer und erlaubte den Bauern mit den Überschüssen im begrenzten Umfang Handel. Für Lenin war das ein zeitweiliger taktischer Schritt zurück aus pragmatischen Gründen des Machterhalts. Er sagte: „Es ist ein großer Fehler zu meinen, dass die Neue Ökonomische Politik das Ende des Terrors bedeutet“. Und sagte weiter: „Wir werden zum Terror, auch zum wirtschaftlichen Terror, zurückkehren“.
Parallel dazu wurde auf dem zehnten Parteitag jede innerparteiliche Fraktionsbildung verboten und damit de facto die freie Meinungsäußerung bei der Willensbildung der Partei.
Nach Lenins erstem schweren Schlaganfall schirmte ihn das Politbüro von der Außenwelt ab, um seine Genesung zu begünstigen. Er weigerte sich jedoch, die Arbeit einzustellen und ließ sich weiterhin über die Politik auf dem Laufenden halten. Er erholte sich etwas und nahm wieder an Diskussionen teil, wie über die Verfassungsfrage und das Außenhandelsmonopol. Lenin hatte sieben Schlaganfälle. Nach einem weiteren Schlaganfall verschlechterte sich sein Gesundheitszustand noch einmal erheblich, und er konnte sich kaum noch verständlich machen.
Er verstarb 1924 im Alter von dreiundfünfzig Jahren. Nach Lenins Tod entbrannte ein Machtkampf in der kommunistischen Partei zwischen Anhängern des Lagers um Stalin und der Opposition um Trotzki.
In einem als politisches Testament angesehenen Brief an den Parteitag schätzte Lenin seine potentiellen Nachfolger so ein:
„Genosse Stalin hat dadurch, dass er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. Andererseits zeichnet sich Genosse Trotzki nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen Zentralkomitee, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewusstsein und eine übermäßige Leidenschaft für rein administrative Maßnahmen hat.“
In einer Nachschrift wurde Lenin in Bezug auf Stalin deutlicher: „Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von dem Genossen Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft ist..“
Trotz Lenins Versuch, Stalins Aufstieg zu verhindern, war Stalin auch ein legitimer Spross Lenins. Er hat nur skrupelloser und konsequenter als andere die Möglichkeiten ausgeschöpft, die sich einem Machtmenschen im kommunistischen Russland innerhalb des von Lenin selbst geschaffenen allmächtigen Parteiapparates anboten.


ZWEITES KAPITEL
TROTZKI

Bronstein wurde als Kind jüdischer Kolonisten in der Ukraine geboren und besuchte die Realschule. Sein Vater David Bronstein war Landwirt, der es zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Der Religion gleichgültig gegenüberstehend, bewirtschaftete er mit Hilfe von Lohnarbeitern den größeren Hof.
Seine Mutter Anna kam aus kleinbürgerlicher Familie und war eine gebildete, in der Stadt aufgewachsene Frau, die der jüdisch-orthodoxen Religion anhing.
Die Jahre in der Provinz erlebte er weder als unbeschwert noch als bedrückend. Er berichtete in seiner Autobiografie von einer biederen Kleinbürgerkindheit, farblos in der Schattierung, beschränkt in der Moral, nicht von Kälte und Not, aber auch nicht von Liebe und Freiheit geprägt.
Bronstein besuchte den Cheder, eine religiöse Grundschule, wo er Russisch, Arithmetik und Bibel-Hebräisch erlernte. Er absolvierte die deutsch-lutherische Realschule zum Heiligen Paulus in der Hafenstadt Odessa. Dort lernte er das ländliche, orthodoxe Judentum, wie es seine Familie praktizierte, aus der aufgeklärten Sicht des Bürgertums zu sehen und begann, sich für ein weltoffenes Judentum einzusetzen. Neun Jahre später bestand er das Abitur als Bester seines Jahrgangs.
Der Siebzehnjährige begann, sich politisch von einem radikaldemokratischen Oppositionellen zum Volkstümler zu entwickeln. Das Volkstümlertum gehörte mit dem Marxismus zu den beiden populärsten oppositionellen Richtungen jener Tage. Er trat einem Diskussionszirkel junger Oppositioneller bei, in dem er die Positionen der Volkstümler vertrat. Seine Kontrahentin und spätere Frau war die sieben Jahre ältere Alexandra, die sich als Marxistin verstand und ihn von der marxistischen Theorie überzeugte. Als Bronstein sich politisch betätigte, stellten seine Eltern ihre Unterhaltszahlungen ein.
Bronstein war nunmehr als Sozialist maßgeblich an der Gründung des sozialdemokratischen südrussischen Arbeiterbundes beteiligt. Er fungierte in dieser Organisation als Propagandist.
Die zaristische Polizei nahm Bronstein im Rahmen von Massenverhaftungen fest und ließ ihn in verschiedenen Gefängnissen einsitzen. Er wurde zur Verbannung nach Sibirien verurteilt, wo er seiner Fundamentalkritik am Sankt Petersburger Zarenthron mit intensiven Studien des dialektischen und historischen Materialismus sowie der marxistischen Weltanschauung ein theoretisches Fundament gab.
Im Moskauer Überführungsgefängnis heiratete der Revolutionär Alexandra, die ihn wenig später in die Verbannung begleitete. Ein Jahr darauf wurde ihre erste Tochter Sinaida geboren und drauf die zweite Tochter Nina.
Er verließ wegen seiner revolutionären Arbeit seine Frau und die beiden kleinen Töchter und floh aus der Verbannung. Um die Flucht zu bewerkstelligen, legte er sich einen gefälschten Pass auf den Namen „Trotzki“ zu, womit er sich nach dem Oberaufseher des Gefängnisses in Odessa benannte.
             Wenig später kam er, der Einladung von Lenin folgend, nach London und wohnte mit ihm zusammen.
In der Emigration übernahm Trotzki die Rolle des leitenden Redakteurs der Zeitung „Funke“, eine Tätigkeit, die ihm den Spitznamen „Leninscher Knüppel“ einbrachte. Bald schon trat er der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bei.
In dieser Zeit lernte Trotzki auch Parvus kennen, der ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammte und der in der deutschen Sozialdemokratie sein politisches Betätigungsfeld gefunden hatte. Parvus prägte den jungen Trotzki sehr stark. Dessen Theorie der permanenten Revolution basiert auf einer Konzeption von Parvus.
Auf dem zweiten Parteitag kam es zur Spaltung der Partei. Bei der Abstimmung siegten die Anhänger Lenins, die in der Folge Bolschewiki genannt wurden; ihnen standen die Menschewiki entgegen. Trotzki neigte stark in die Nähe der Menschewiki. Er verfasste Schriften, in denen er Lenin Machtgier als Grundlage seiner Politik unterstellte und ihn einen Diktatorenkandidaten oder auch „Maximilien de Lénine“ nannte als Anspielung auf den französischen Revolutionär Maximilien de Robespierre. Das Verhältnis der beiden künftigen Revolutionsführer war durch diese Polemiken lange Zeit belastet.
Dann hielt sich Trotzki zeitweise in Paris auf, wo er die Kunstgeschichtsstudentin Natalja kennen lernte. Sie blieb bis zu seinem Lebensende an seiner Seite.
Dann wohnte Trotzki ein halbes Jahr lang in München.
Damals brach er mit den Menschewiki und behauptete in der Theorie der permanenten Revolution, dass das russische Bürgertum einen Umsturz nach dem Muster der Französischen Revolution nicht wagen werde. Vielmehr werde die Arbeiterklasse eine bedeutende Rolle im Bündnis mit den ärmsten Schichten der Bauernschaft und den Landproletariern bei der Errichtung der „Diktatur des Proletariats, gestützt auf den Bauernkrieg“ spielen. Dies stellt eine entscheidende Weiterentwicklung des Marxismus dar, da sich Marx in einem industriell rückständigen Land keine proletarische Revolution vorstellte. Marx war der Ansicht, dass erst nach einem weiten Fortschreiten des Kapitalismus die Gesellschaft für einen kommunistischen Umsturz bereit wäre.
            Während der Revolution von 1905 kehrte Trotzki nach dem Sankt Petersburger Aufstand nach Russland zurück, wo er zusammen mit Parvus Mitglied des Sankt Petersburger Sowjets wurde. Trotzki übernahm den Vorsitz des Sowjets. Nach seiner Verhaftung wurde Parvus sein Nachfolger. In der Verbannung verfasste Trotzki die Schrift „Russland in der Revolution“. Ein Jahr später wurde sein drittes Kind, ein Junge, geboren. Wieder ein Jahr später folgte das vierte Kind, auch ein Sohn.
Die von Trotzki beeinflusste Bewegung wurde zerschlagen. Trotzki, der inzwischen zum Vorsitzenden des Sowjets aufgestiegen war und sich in den Dezemberaufständen engagiert hatte, wurde nach einem Schauprozess ein zweites Mal zu lebenslanger Verbannung verurteilt. Er floh bereits beim Transport und entkam, ebenso wie Parvus, in das habsburgische Wien.
Auf dem nächsten Parteitag, in London, schloss sich Trotzki weder den Bolschewiki noch den Menschewiki an, sondern stand einer mittleren Fraktion vor. Er gab eine Zeitung mit Namen Prawda („Wahrheit“) heraus, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen von Lenin herausgegebenen Zeitung, die später erschien. In jener Zeit versuchte vor allem Kamenew, Trotzki von der bolschewistischen Fraktion und den Positionen Lenins zu überzeugen; Trotzki blieb allerdings Kritiker Lenins, ebenso wie Lenin die Positionen Trotzkis verurteilte.
Trotzki führte nun das Leben eines rastlosen Emigranten; zeitweise arbeitete er als Kriegsberichterstatter auf dem Balkan, wo er erste militärische Erfahrungen sammelte.
Es kam zum Bruch zwischen Trotzki und Parvus. Letzterer vertrat ein anderes Konzept der Theorie der permanenten Revolution. Parvus schloss sich den Jungtürken an und beteiligte sich an der Revolution gegen das Osmanische Reich in Konstantinopel. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er mit amtlichen deutschen Stellen zusammen.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges floh Trotzki vor der in Österreich drohenden Verhaftung in die neutrale Schweiz und zog weiter nach Paris, um über den Krieg zu berichten. Er gab dort eine Zeitung heraus, die als Organ der internationalistischen Menschewiki fungierte. Auf einer Parteikonferenz gehörte er mit Lenin, dem er sich stetig annäherte, zu den Unterzeichnern des von ihm verfassten Internationalen Sozialistischen Antikriegsmanifestes. Wegen seiner gegen den Krieg gerichteten Agitation wurde er von den französischen Behörden nach Spanien abgeschoben. Dort wurde er verhaftet und in die Vereinigten Staaten deportiert.
In New York, wo er mit seiner Lebensgefährtin Natalja wohnte, arbeitete Trotzki für russischsprachige Zeitungen. Er erhielt die Nachricht von der russischen Februarrevolution, durch welche die bürgerliche Provisorische Regierung unter dem Fürsten Lwow und seinem sozialdemokratischen Kriegsminister Kerenski an die Macht kam.
Auf dem Weg nach Russland wurde Trotzki in Kanada festgenommen und in ein Internierungslager für deutsche Kriegsgefangene gebracht. Allerdings setzte der Sankt Petersburger Sowjet die Provisorische Regierung unter Druck, sich für Trotzki einzusetzen. Nach seiner Freilassung kam er in Sankt Petersburg an. Dort schloss er sich erneut einer Arbeiterpartei an, die das Ziel hatte, die Bolschewiki und Menschewiki auszusöhnen. Nach einigen Auseinandersetzungen schloss sich die Organisation unter der Führung Trotzkis den Bolschewiki an. Trotzki selbst wurde auf dem sechsten Parteitag der Bolschewiki in absentia in die Partei aufgenommen und erhielt einen Platz im Zentralkomitee.
Nachdem die Bolschewiki eine Mehrheit im Sankt Petersburger Sowjet erreicht hatten, wurde Trotzki zu dessen Vorsitzenden gewählt und organisierte in dieser Funktion die Kampfverbände der Roten Garde. Damit wurde er rasch zu einem der wichtigsten Männer in der Partei. Als im Oktober das Zentralkomitee der Partei den Entschluss zu einem bewaffneten Aufstand gegen die Regierung von Kerenski fasste, stimmte Trotzki mit der Mehrheit seiner Genossen dafür. Die später von der stalinistischen Propaganda verbreitete Behauptung, Trotzki habe sich gegen die Revolution ausgesprochen, ist unwahr.
Unter seiner Federführung wurde das Militärrevolutionäre Komitee des Sankt Petersburger Sowjets gegründet. Dieses Komitee setzte den Befehl der Provisorischen Regierung, zwei Drittel der Sankt Petersburger Garnison an die Front des Ersten Weltkriegs zu beordern, außer Kraft. Dies war der Beginn der Revolte des Militärrevolutionären Komitees im Smolny-Institut, wo Boten mit Nachrichten aus den verschiedenen Teilen der Stadt eintrafen, um über die Ereignisse und Erfolge der Aufständischen zu informieren. Nach der Übernahme von Bahnhöfen, Postämtern, Telegrafenamt, Ministerien und der Staatsbank sowie dem Sturm auf den Winterpalast etablierte der zweite gesamtrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten eine Koalitionsregierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären unter dem Namen Sowjet der Volkskommissare. Gleich danach wurden die Dekrete „Über den Frieden“ und „Über den Grund und Boden“ verabschiedet. Die Parteien der einflusslosen Duma verweigerten den Entscheidungen des Kongresses und der Regierung die Anerkennung.
            Nachdem die Bolschewiki die Macht erlangt hatten, wurde Trotzki zum Volkskommissar für äußere Angelegenheiten ernannt. Seine Hauptaufgabe sah er darin, Frieden mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn zu schließen. Er sorgte für die Ausrufung eines Waffenstillstands zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten und leitete die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Er versuchte aufgrund der schwachen Position des revolutionären Russlands und der Position der deutschen Obersten Heeresleitung in der Frage der Gebietszugehörigkeit der Ukraine eine Übereinkunft hinauszuzögern. Trotzkis Verhandlungspartner auf deutscher Seite war General Ludendorff, der dessen Taktik durchschaute. Deutsche Truppen überschritten die russisch-deutsche Frontlinie und besetzten die Ukraine, die sich bereits für unabhängig erklärt hatte. Aufgrund der militärischen Überlegenheit der Mittelmächte musste Sowjetrussland den sehr nachteiligen Friedensvertrag von Brest-Litowsk schließen, der den Verlust der Ukraine und weiterer Gebiete für Sowjetrussland zur Folge hatte.
Das Verhalten Trotzkis während der Verhandlungen war innerhalb der Regierung und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei stark umstritten. Während es auf der einen Seite eine Gruppierung um Radek und Bucharin gab, die die unbedingte Fortführung des Revolutionären Krieges und die Expansion des Sowjetgebietes forderte, ohne die verzweifelte Lage der eigenen Truppen zu berücksichtigen, wurde von einer Minderheit um Lenin eine riskante Verschleppungstaktik in der Hoffnung auf eine baldige proletarische Revolution in Deutschland und Österreich-Ungarn favorisiert. Trotzki enthielt sich auf der entscheidenden Abstimmung im Zentralkomitee, um Lenin die Mehrheit zu sichern, und trat freiwillig aus diplomatisch-taktischen Gründen vom Amt des Volkskommissars für äußere Angelegenheiten zurück.
Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk, den Trotzki als persönliche Niederlage betrachtete, setzte er sich für den Sieg der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg ein, bei dem sich die sowjetischen Roten und die zaristisch-bürgerlichen Weißen gegenüberstanden. Trotzki wurde zum Volkskommissar für das Kriegswesen ernannt und begann mit dem Aufbau der Roten Armee.
Trotzki trug mit seinem energischen und gnadenlosen Vorgehen entscheidend zum militärischen Sieg der Bolschewiki bei. Er organisierte die Umwandlung der bisher zerstreuten, desorganisierten Roten Garden in ein straff geführtes Heer; unter anderem ließ er wieder militärische Ränge, Abzeichen und die Todesstrafe in der Armee einführen. Er befahl darüber hinaus, dass bei einem aus Sicht des Oberkommandos unnötigen Rückzug einer Einheit zuerst der Kommissar und dann der militärische Befehlshaber sofort hinzurichten seien. Das Kommandopersonal wurde bis dahin von den Soldaten gewählt. Dieser demokratische Ansatz behinderte aber die Umwandlung in eine neue, zentral geführte Armee. Trotzki schaffte die demokratischen Strukturen daher ab, entließ die konservativen Kosaken aus der Kavallerie und verband die Verteidigung der neuen Regierung mit dem Freiheitskampf verschiedener Nationalitäten des ehemaligen Zarenreiches.
Unter Exilrussen hieß es, die Bolschewiki kämpften „mit lettischen Stiefeln und chinesischem Opium“, denn aus Mangel an erfahrenen Offizieren förderte Trotzki den Eintritt von Offizieren der alten zaristischen Armee in die Rote Armee. Bis Kriegsende dienten 80.000 im Roten Offizierskorps. Manche meldeten sich freiwillig, andere wurden eingezogen. Trotzki befahl, zu ihrer Kontrolle ihre Familien in Sippenhaft zu nehmen, sofern die Offiziere zu den Weißen überlaufen sollten. Die offiziell als "Militärspezialisten" bezeichneten Offiziere wurden zusätzlich der Kontrolle durch Politkommissare unterworfen. Gerade dieser Aspekt führte zu harscher Kritik innerhalb der Partei; besonders Stalin, der Kommissar der Roten Armee war, beklagte sich über die Einsetzung eines Generals bei der Verteidigung der Revolution. Er und die übrigen Opponenten der neuen Militärorganisation fanden aber aufgrund der militärischen Erfolge Trotzkis kein Gehör bei Lenin.
Trotzki übernahm nun auch noch das Ressort für Marineangelegenheiten. Die Regierung war von Sankt Petersburg nach Moskau umgezogen. Die Bolschewiki nannten sich nun Kommunistische Partei Russlands, nach Lenins Tod Kommunistische Partei der Sowjetunion. Unangefochtener Führer war Lenin, der sich mit Trotzki inzwischen weitgehend ausgesöhnt hatte.
Zunächst standen die Bolschewiki unter großem Druck. Das Territorium der Sowjets wurde zeitweise durch die Weißen Armeen auf das Gebiet der alten Moskauer Fürstentümer reduziert. Die Versorgungslage der Städte war schlecht. Zusätzlich griffen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs durch eigene Truppenkontingente in die Kämpfe zugunsten der Weißen Armeen ein. So befanden sich japanische, amerikanische, britische, italienische und französische Truppenkontingente auf russischem Gebiet. Der Roten Armee, die aus den Roten Garden hervorgegangen war, stand jedoch ein Gegner gegenüber, der über keine einheitliche Führung verfügte und widersprüchliche Zielsetzungen verfolgte.
Es gelang der Roten Armee in einem sehr verlustreichen Kampf, die Weißen Truppen bis in den Osten des russischen Reiches zurückzudrängen. Die Weiße Armee erlitt eine schwere Niederlage in Sibirien. Trotzki proklamierte nun den Krieg gegen Polen und dessen ukrainische Verbündeten und machte ihn zur Chefsache im Kriegskommissariat. Durch das „Wunder an der Weichsel“ wurde die Rote Armee allerdings empfindlich getroffen und vernichtend geschlagen. Die Offensive gegen Polen musste abgebrochen werden. Im Vertrag von Riga erwarben die Sowjets aber Weißrussland und die Ukraine.
Dann fiel die Krim, die letzte Festung der Weißen Armee. Bis zum Ende des Russischen Bürgerkriegs eroberten die Roten Truppen unter Trotzkis Führung Aserbaidschan, Armenien und Georgien, deren Regierungen, teils sozialdemokratisch, teils nationalistisch geprägt, die staatliche Unabhängigkeit angestrebt hatten. In Georgien fand ein vergeblicher Aufstand gegen die Rote Armee statt, die in den neu eroberten Ländern zum Teil als Besatzungsmacht wahrgenommen wurde.
Der Aufstand der Kronstädter Matrosen – sie forderten sofortige gleiche und geheime Neuwahlen der Sowjets, Redefreiheit, Pressefreiheit für alle anarchistischen und linkssozialistischen Parteien, Versammlungsfreiheit, freie Gewerkschaften und eine gerechtere Verteilung von Brot – wurde von der Roten Armee unter Trotzkis Führung mit erbarmungsloser Härte und Massenerschießungen unterdrückt. Auch für die blutige Niederschlagung von Bauernaufständen mit Tausenden Toten im Gebiet der Ukraine, die sich vor allem gegen die Kornkonfiskationen richteten, wurde Trotzki als oberster Heeresführer verantwortlich gemacht. Später kritisierten verschiedene Kommunisten Trotzkis Rolle bei der brutalen Niederschlagung, die sie als Beginn des Stalinismus und als Vorläufer des Großen Terrors ansahen. Trotzki rechtfertigte sein Vorgehen:
„Ich weiß nicht, ob es unschuldige Opfer in Kronstadt gab. Ich bin bereit, zuzugeben, dass ein Bürgerkrieg keine Schule für menschliches Verhalten ist. Idealisten und Pazifisten haben der Revolution immer Exzesse vorgeworfen. Die Schwierigkeit der Sache liegt darin, dass die Ausschreitungen der eigentlichen Natur der Revolution entspringen, die selbst ein Exzess der Geschichte ist. Mögen jene, die dazu Lust haben, die Revolution aus diesem Grund verwerfen. Ich verwerfe sie nicht.“
Später wurde der Kriegskommunismus von der Neuen Ökonomischen Politik abgelöst.
Nach der Gründung der Sowjetunion begann Trotzki, die entstehende Bürokratie, den Totalitarismus der Bolschewiki und den aufkommenden russischen Nationalismus zu kritisieren. Damit stieß er sowohl auf Zustimmung als auch auf Ablehnung innerhalb der Partei. Er richtete seine Kritik hauptsächlich gegen Stalin.
Lenin äußerte Vorbehalte wegen Trotzkis „übermäßigen Selbstvertrauens“ und seiner „übermäßigen Leidenschaft für rein administrative Maßnahmen“, sagte aber auch, dass Trotzki sich „durch hervorragende Fähigkeiten“ auszeichne und „persönlich wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen Zentralkomitee“ sei. Bucharin sei der Liebling der Partei. Nach dem Verlesen des politischen Testaments, in dem Lenin Stalin als zu „grob“ bezeichnete, bot Stalin seinen Rücktritt an, doch der Rücktritt wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. In der Folge begann Stalin gemeinsam mit Sinowjew und Kamenew, Trotzki endgültig von der Macht zu verdrängen. Dazu gehörte, dass Lenins Testament in der Parteipresse und später in den Werkausgaben nicht gedruckt wurde. Lediglich Trotzki und diejenigen, die besser beurteilt worden waren als Stalin, zitierten Lenins letzten Willen in ihren Schriften. Erst ab dem Beginn der Entstalinisierung waren diese Schriftstücke parteiintern und öffentlich zugänglich.
Trotzki griff das von Stalin dominierte Zentralkomitee an, worauf eine heftige Gegenreaktion erfolgte. Von diesem Zeitpunkt an verlor er auf Betreiben Stalins immer mehr an Einfluss innerhalb der Partei. In dieser Zeit arbeitete Trotzki auch wieder theoretisch und veröffentlichte sein Werk „Literatur und Revolution“. Darin schrieb er, dass der gesellschaftliche Aufbau der Sowjetunion die physisch-psychische Selbsterziehung des Einzelnen und vor allem die Künste einen „neuen Menschen“ schaffen würden:
„Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau von Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“
Nach dem Tode Lenins brach schließlich ein offener Machtkampf zwischen Trotzki und Stalin über die Zukunft der Sowjetunion und die theoretischen Grundlagen für den angestrebten Kommunismus aus. Auf dem fünfzehnten Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands erhielt die Opposition um Trotzki keine einzige Stimme und war somit völlig isoliert.
Stalin begann, den sogenannten „Sozialismus in einem Land“ mit Gewalt durchzusetzen, während Trotzki weder den Apparat der Partei noch die Bevölkerung mehrheitlich an sich binden konnte. Stalin festigte mit seinen von Amts wegen gegebenen Möglichkeiten bürokratischer und militärischer Art die Diktatur in der Sowjetunion. Trotzki vertrat das Erbe des Marxismus in anderer Interpretation und berief sich auf den Imperativ der Weltrevolution und die Arbeiterdemokratie, gemäß der Parole aus dem Kommunistischen Manifest „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Er versuchte, sich gegen alle von ihm so genannten „reaktionären Angriffe“ durch Stalin zu verteidigen. Sein Ziel war es, der internationalen Arbeiterschaft zum Sieg zu verhelfen. Er ging wie Lenin davon aus, dass nur eine weltweite Revolution den Sieg des Sozialismus ermöglichen könne.
Dies entsprach nicht allein der bisherigen marxistischen Tradition, sondern auch der eigenen Theorie der permanenten Revolution. Sie besagte im Wesentlichen, dass die Revolution in rückständigen Ländern eine bürgerlich-demokratische und eine proletarische Phase ohne Unterbrechung durchlaufen müsse, zum erfolgreichen sozialistischen Aufbau der Sieg der Revolution wenigstens in den fortgeschrittensten Ländern notwendig wäre und sich schließlich auch in Arbeiterstaaten politische, kulturelle und wirtschaftliche Revolutionen vollziehen könnten und müssten, um zum Sozialismus überzugehen.
Nachdem Stalin immer mächtiger geworden war, verlor Trotzki sein Amt als Kriegskommissar und musste in den nächsten Jahren verschiedene untergeordnete Tätigkeiten im Staatsdienst ausüben. Es folgte die Kennzeichnung von „Trotzkismus“ als „Abweichlertum“ und „Verrat“. Alle Schriften und Werke des „jüdischen Verschwörers“ und „Lakaien des Faschismus“ galten als Irrlehre. Stalin ließ Trotzkis Namen und Fotos aus allen offiziellen Dokumenten und Texten tilgen. Außerdem leugnete er dessen Rolle beim Oktoberaufstand und im Bürgerkrieg.
Trotzki wurde nun aus dem Politbüro und auch aus der Partei ausgeschlossen, worauf eine Verbannung mit anderen Oppositionellen nach Alma-Ata in Kasachstan folgte. Von dort wurde Trotzki in die Türkei ausgewiesen. In Konstantinopel begann er mit der Arbeit an seiner Autobiografie.
Stalin begann nun, die Neue Ökonomische Politik zu revidieren, mit großer Grausamkeit die Kollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen und mit Arbeitsarmeen die Schwerindustrie der Sowjetunion zu errichten. Auch dies wurde von Trotzki und seinen Anhängern einer scharfen Kritik unterzogen. Trotzki hatte sich für eine umfassende Industrialisierung in einem langsameren Tempo und eine freiwillige Kollektivierung der Bauernschaft auf der Basis einer neu zu errichtenden Sowjetdemokratie ausgesprochen.
Nach seiner Ausbürgerung verfiel Trotzki in der Sowjetunion zunehmend der damnatio memoriae: Seine Leistungen für die Partei und die prominente Rolle, die er beim Oktoberaufstand, beim Aufbau der Roten Armee oder bei der blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstands gespielt hatte, wurden verschwiegen, geleugnet oder denunziert. Im Kurzen Lehrgang der Geschichte der Partei, einer unter der Ägide Stalins erschienenen offiziellen Darstellung, wurde seine Rolle im Oktober auf die eines Widersachers Lenins und eines Großmauls reduziert, das den Termin des Aufstands verraten und dessen Erfolg dadurch gefährdet habe. Noch radikaler wurde die Erinnerung an Trotzki aus dem sowjetischen Bildgedächtnis getilgt. Fotos, auf denen er zusammen mit Lenin oder Stalin zu sehen war, wurden kupiert oder retuschiert. Trotzki schrieb im Exil Pamphlete gegen Stalin, die unter anderem exklusiv in der New York Times veröffentlicht wurden.
Der türkische Staat unter Atatürk gewährte Trotzki politisches Asyl. Er verbrachte die Jahre bis 1933 in der Türkei. In der Zeit setzte sich Trotzki intensiv mit dem deutschen Nationalsozialismus auseinander, den er als vom Kleinbürgertum getragene, autonom von der Bourgeoisie entstandene Massenbewegung analysierte, deren objektive Funktion die Zerschlagung der gesamten Arbeiterbewegung sei. Als Gegenstrategie setzte sich Trotzki in Schriften für eine Einheitsfront von Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaften gegen die Nationalsozialisten ein.
Trotzki wurde auch die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt, womit gleichzeitig die Verfolgung durch den sowjetischen Geheimdienst begann. Mit der kampflosen Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung, die Trotzki im Wesentlichen als Resultat des Versagens der Kommunisten ansah, nahm Trotzki von seiner Strategie einer Reform der stalinistischen Parteien Abstand und nahm Kurs auf die Gründung einer neuen kommunistischen Internationale.
Die französische Regierung gewährte ihm Asyl in Frankreich. Für Paris erhielt er aber keine Zugangserlaubnis. Es wurde ihm aber bald signalisiert, dass sein Aufenthalt in Frankreich nicht länger erwünscht sei. Er nahm ein Angebot Norwegens auf Asyl an. Er lebte dort bei Oslo. Mit seiner regen publizistischen Tätigkeit griff er den Stalinismus mit den Moskauer Prozessen an, in denen er als Haupt einer großen Verschwörung gegen Stalin und sein System in Abwesenheit angeklagt worden war. Infolge des von der Sowjetunion ausgeübten diplomatischen Drucks wurde Trotzki von den norwegischen Behörden unter Hausarrest gesetzt. Nach Verhandlungen mit der norwegischen Regierung konnte er nach Mexiko unter der Auflage strenger Geheimhaltung auf einem Frachtschiff ausreisen.
Gemeinsam mit Frida Kahlo hatte sich Diego Rivera beim mexikanischen Präsidenten dafür eingesetzt, Trotzki politisches Asyl in Mexiko zu gewähren. Unter der Bedingung, dass jener sich nicht politisch betätigen würde, stimmte der Präsident dem Gesuch zu. Trotzki und seine Frau Natalja wurden in Frida Kahlos blauem Haus empfangen. Damals beherbergte Diego Rivera auch den surrealistischen Vordenker André Breton und dessen Frau Jacqueline. Die beiden Künstler unterzeichneten ein von Trotzki verfasstes Manifest für eine revolutionäre Kunst.
In seinem Exil agitierte er weiterhin gegen Stalin, deckte nach seinen Möglichkeiten die Verbrechen des Geheimdienstes und der Gulags auf und veröffentlichte verschiedene kommunistische Schriften, zum Beispiel „Die verratene Revolution“, in der er die Sowjetunion als bürokratisch degenerierten Arbeiterstaat bezeichnete und die sowjetische Arbeiterklasse zu einer politischen Revolution gegen die stalinistische Bürokratie und zur Wiederherstellung der Rätedemokratie aufrief.
Trotzki gründete die Vierte Internationale, um der inzwischen unter Stalins Dominanz stehenden Dritten Internationalen entgegenzuwirken. Für die neugegründete Organisation verfasste Trotzki mit dem Manifest der vierten Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution ein programmatisches Dokument. Daneben widmete er sich in seinem letzten Lebensjahr der Auseinandersetzung mit der These, dass sich die Sowjetunion zu einer stabilen neuen Form von Klassengesellschaft entwickelt habe.
Trotzki überlebte einen Angriff auf sein Haus. Er wurde von mehreren, von Stalin gesandten und als mexikanische Polizisten getarnten Agenten attackiert, allerdings so dilettantisch, dass man vielfach an eine Inszenierung glaubte, die Trotzki international wieder in den Mittelpunkt rücken sollte. Aus Angst vor weiteren Anschlägen ließ er danach das Haus ausbauen und bewachen: Die Mauern wurden erhöht, Holztüren durch Eisentüren ersetzt, Fenster teilweise zugemauert. Sieben Wachleute schützten freiwillig und unbezahlt das kleine Anwesen rund um die Uhr.
Dann hatte ein von Stalin beauftragter Mordanschlag Erfolg: Ein Sowjetagent hatte sich mit einer Sekretärin Trotzkis verlobt und so Zugang zu dessen Anwesen erhalten. Er besuchte Trotzki und bat um Durchsicht eines von ihm verfassten politischen Artikels. Kurz danach griff der Mann Trotzki in dessen Arbeitszimmer mit einem Eispickel an, wobei Trotzki schwer am Kopf verletzt wurde. Seine Leibwächter fanden ihn blutüberströmt, aber noch bei Bewusstsein. Einen Tag später starb Trotzki an den Folgen dieses Anschlags.


DRITTES KAPITEL
STALIN

Stalins Vater Dschugaschwili war ein Schuhmacher. Seine Mutter Ketewan war die Tochter eines Leibeigenen. Stalin wuchs als Einzelkind auf.
Das Familienleben war zunächst von Wohlstand geprägt. Der Vater machte sich selbstständig, beschäftigte zehn Arbeiter und verschiedene Lehrlinge. Er hat sich aber zum streitsüchtigen Alkoholiker entwickelt haben, der sein Vermögen verlor und Frau und Sohn regelmäßig verprügelte. Ein Jugendfreund Stalins schrieb später: „Diese unverdienten und schrecklichen Prügel machten den Jungen genauso hart und gefühllos wie seinen Vater.“ Er habe Stalin nie weinen sehen. Ein anderer Freund Stalins schrieb, dass die Prügel auch einen Hass auf Autoritäten in Stalin hervorriefen, da jeder Mensch, der mehr Macht als er selbst gehabt hätte, ihn an seinen Vater erinnert habe. Stalins Vater ging fort und ließ seine Familie zurück.
Der junge Stalin half seiner Mutter beim Wäschewaschen und bei ihrer Arbeit als Putzfrau. Einer ihrer Kunden, der jüdische Kaufmann David, unterstützte den Knaben mit Geld und Büchern.
Dann ging er zur Schule. Stalins Klasse war eine ethnisch gemischte Gruppe von Schülern, die viele verschiedene Zungen sprachen. In der Schule war jedoch Russisch als Sprache vorgeschrieben. Seine Mitschüler waren mehrheitlich sozial besser gestellt und haben sich anfangs über seine abgetragene Schuluniform und sein pockennarbiges Gesicht lustig gemacht haben. Er konnte jedoch bald die Führungsrolle in seiner Klasse übernehmen. Er verließ die Schule als bester Schüler und wurde für den Besuch des orthodoxen Priesterseminars vorgeschlagen, damals die bedeutendste höhere Bildungsanstalt Georgiens und ein Zentrum der Opposition gegen den Zaren.
Nachdem Stalin das zweite Studienjahr des Seminars absolviert hatte, bekam er Kontakt mit geheimen marxistischen Zirkeln. Er besuchte eine Buchhandlung, in der er Zugang zu revolutionärer Literatur hatte. Er las Victor Hugos „Die Arbeiter des Meeres“.
Er wurde mit achtzehn Jahren in die erste sozialistische Organisation Georgiens aufgenommen. Im folgenden Jahr leitete Stalin einen Studienzirkel für Arbeiter. Zu dieser Zeit las er schon die ersten Schriften Lenins. Er trat in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands ein. Dann wurde er aus dem Priesterseminar ausgeschlossen, weil er aufgrund dieser politischen Tätigkeiten bei mehreren wichtigen Prüfungen gefehlt hatte. Statt Priester wurde Stalin Berufsrevolutionär.
Daraufhin arbeitete Stalin als Propagandist der Partei und organisierte Streiks und Demonstrationen unter den Eisenbahnarbeitern. Dann wurde er erstmals festgenommen, weil er eine Arbeiterdemonstration angeführt hatte, und anschließend nach Sibirien verbannt. Nachdem er aus der Verbannung fliehen konnte, wurde er immer wieder verhaftet und in die Verbannung geschickt, konnte aber jedes Mal wieder fliehen.
Um in Kontakt mit Lenin zu bleiben und sich der Verfolgung durch die zaristische Polizei zu entziehen, floh er nach Österreich-Ungarn. Dort verbrachte er einige Monate in Krakau und in Wien. Er gab sich als Grieche aus dem Kaukasus aus.
Als er wieder nach Russland zurückkehrte, wurde er verhaftet. Daraufhin verbrachte er die Jahre bis 1917 in der Verbannung. Für diese häufigen Verhaftungen und Fluchten gibt es mehrere Erklärungen.
Ein möglicher Grund wird zum Beispiel in der schlechten Organisation der zaristischen Polizei gesehen. Als eine weitere Erklärung für sein schnelles Freikommen werden ihm Kontakte zur zaristischen Geheimpolizei nachgesagt.
Im Falle von Stalins letztem Verbannungsaufenthalt war auch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Ursache für sein Verbleiben. Er fürchtete, nach seiner nächsten Verhaftung in die russische Armee eingezogen zu werden.
Nach der auf dem Parteitag in London erfolgten Spaltung der Partei in Menschewiki und Bolschewiki schloss Stalin sich dem bolschewistischen Flügel unter Lenin an, der die Meinung vertrat, dass der politische Umsturz in Russland nur durch eine von professionellen Revolutionären zentral geführte Partei zustande kommen würde. Im Jahr 1905 begegnete er auf der allrussischen Konferenz der Bolschewiki zum ersten Mal Lenin persönlich. In dieser vorrevolutionären Zeit, in der Stalin schon viele Streiks organisiert hatte, zeigte er sich nicht als großer Theoretiker, sondern unterstützte die zum großen Teil illegalen Aktionen der Bolschewiki praktisch.
So beteiligte er sich in den folgenden Jahren an der Organisation verschiedener Banküberfälle, um die Parteikasse aufzufüllen. Bei dem Überfall auf die Bank von Tiflis, der vierzig Menschen das Leben kostete, erbeuteten die Revolutionäre unter Stalins Führung viele hunderttausend Rubel. Bald gehörte er nach dem Willen Lenins zum Zentralkomitee der Bolschewiki und nahm den Namen „Stalin“ (der Stählerne) an.
Während seines letzten Verbannungsaufenthaltes lernte er Kamenew kennen und freundete sich mit ihm an. Er verließ gemeinsam mit Kamenew seinen Verbannungsort. Er wurde von einer Einberufungskommission als wehrdienstuntauglich freigestellt. Nach der Februarrevolution ging er nach Sankt Petersburg. Er gehörte nun zur Redaktion der Zeitung „Prawda“. In Sankt Petersburg stieß Sinowjew zu Stalin und Kamenew. Diese später als Triumvirat bezeichnete Gruppe sollte in der Folgezeit eine bedeutende Rolle in der sowjetischen Politik spielen.
Im Juni wurde Stalin auf dem ersten Allrussischen Sowjetkongress zum Mitglied des Zentralexekutivkomitees gewählt. Er verfolgte neben anderen Bolschewiki zunächst eine Politik der Zusammenarbeit mit der provisorischen Regierung unter Kerenski. Als Lenin aus dem Exil zurückkehrte und die Unterstützung Kerenskis als Verrat an den Bolschewiki brandmarkte, änderte Stalin seinen Kurs und unterstützte Lenin. Er verteidigte Lenins Ideen auf den großen Debatten der Bolschewiki im September und Oktober. Er hatte jedoch sehr wenig mit der Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution zu tun. Die zentrale Rolle bei dem Umsturz kam Trotzki als Chef des Militärischen Komitees des Sankt Petersburger Sowjets zu.
In der am 7. November installierten provisorischen ersten Sowjetregierung erhielt er zum Dank für seine Loyalität den Posten des Volkskommissars für Nationalitätenfragen. Stalin wollte in dieser Position eine Allianz zwischen Russland und allen Minderheiten des Landes schaffen. Diese Allianz war jedoch dahingehend eingeschränkt, dass ihre Mitglieder sozialistisch zu sein hatten.
Doch es kam anders. Zunächst waren die sowjetische Zentralregierung und die neu geschaffene Rote Armee sehr schwach. Sie kontrollierten ein Gebiet, das die Größe des alten russischen Großfürstentums hatte. Viele der Nationalitäten im zaristischen Russland sahen nun die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen und erklärten ihre Unabhängigkeit, ohne die Sowjetregierung zu konsultieren. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Ukraine, die in Kiew ihr eigenes Parlament schuf und sich unabhängig erklärte. Die tatsächliche Aufgabe Stalins bestand in den nächsten Jahren darin, die verlorengegangenen Gebiete in die Sowjetunion einzugliedern. Nachdem sich diese Situation abgezeichnet hatte, änderte er seine Haltung gegenüber den Minderheiten und beschloss, jedes Mittel einzusetzen, um die Unabhängigkeit dieser Staaten rückgängig zu machen.
Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges wurde Stalin Befehlshaber in der von Trotzki neu geschaffenen Roten Armee. Er wurde im Juli als Kommandeur an die Südfront geschickt, um dort das einzige bedeutende Getreideanbaugebiet, das in den Händen der Sowjetregierung lag, zu sichern. Er verließ sich dabei auf die Hilfe eines ehemaligen zaristischen Generals, der von Trotzki zum Kommandant der Südfront berufen worden war. Mit dem General geriet er jedoch bald in eine Auseinandersetzung, da er Offiziere der Roten Armee erschießen ließ, die bereits vorher in der Armee des Zaren Offiziere gewesen waren. Es gelang aber dennoch, die Stadt gegen die Weißen Truppen zu verteidigen.
Stalin wurde Mitglied des neuen Inneren Direktoriums der Sowjetregierung. Hier hatte er den ersten heftigen Zusammenstoß mit seinem Hauptrivalen Trotzki. Trotzki gliederte ehemalige Offiziere des zaristischen Heeres in die Rote Armee ein, um die Organisation dieser Truppe zu straffen und sie somit kampfkräftiger werden zu lassen. Stalin wehrte sich zwar gegen dieses Vorgehen, hielt sich aber angesichts der militärischen Erfolge Trotzkis zurück.
Als Kommandeur der Südfront konzentrierte sich Stalin nach der erfolgreichen Verteidigung des späteren Stalingrad darauf, die Eingliederung der kaukasischen Völker in die Sowjetunion voranzutreiben. Es wurde der Nordkaukasus an die Sowjetunion angegliedert. Dieses geschah zunächst auf freiwilliger Basis, da die Nordkaukasier gegen einen konterrevolutionären Weißen General revoltiert hatten. Die Tschetschenen erhoben sich aber wieder gegen die Sowjetmacht, und Stalin war bestrebt, die Stabilität der Sowjetherrschaft wiederherzustellen. Den Bergvölkern versprach Stalin folgendes auf dem Kongress der Völker:
„Jedes Volk muss seinen eigenen Sowjet haben. Sollte der Beweis erbracht werden, dass die Scharia notwendig ist, so mag es die Scharia geben.“
Bald gehörte der gesamte Kaukasus mit Ausnahme Georgiens zum Territorium der Sowjetunion. Mit Hilfe eines Parteifreundes aus seiner frühen Parteikarriere organisierte Stalin die Rückeroberung Georgiens.
Bereits nach der Februarrevolution gab es innerhalb des Zentralkomitees ein so genanntes Triumvirat, welches sich aus Stalin, Kamenew und Sinowjew zusammensetzte. Stalin war mit Kamenew zusammen in der Verbannung gewesen, Sinowjew stand diesen beiden in vielen Auffassungen nahe und war mit ihnen befreundet. Kurz nach der Oktoberrevolution im selben Jahr hatte Lenin gegen Sinowjew und Kamenew ein Parteiausschlussverfahren angestrengt, weil sie den geheimen Plan der Bolschewiki zum gewaltsamen Umsturz an die provisorische bürgerliche Regierung unter Kerenski verraten hätten. Stalin hatte dafür gesorgt, dass der Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Russlands verhindert wurde. Außerdem verband alle drei eine gemeinsame Abneigung gegen Trotzki, Stalins härtesten Widersacher um die Machtübernahme nach Lenins Tod.
Lenin zog sich wegen einer schweren Krankheit aus der Politik zurück. Das Triumvirat setzte sich an die Spitze der Macht innerhalb des Zentralkomitees und hielt gleichzeitig dessen andere Mitglieder wie die Anhänger Trotzkis von der Macht fern. Dabei trat Sinowjew vor allem als Redner auf, Kamenew führte den Vorsitz der Sitzungen und Stalin konzentrierte sich auf die Arbeit mit dem Parteiapparat. Damit lag die Auswahl von Funktionären für die zentralen und lokalen Posten in seinen Händen. Bereits zu Lebzeiten Lenins wurde Kritik am Triumvirat laut. Lenin äußerte sich in seinem sogenannten politischen Testament über Stalin. Zwar sei Trotzki persönlich der „fähigste Mann“ im gegenwärtigen Zentralkomitee, jedoch habe er ein übersteigertes Selbstbewusstsein und eine „übermäßige Leidenschaft für rein administrative Maßnahmen“. Stalin habe „dadurch, dass er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert“, von der er womöglich nicht immer vorsichtig genug Gebrauch machen werde. Andererseits kritisierte Lenin Trotzki, der gegen eine Entscheidung des Zentralkomitees gekämpft habe. In einer zweiten Notiz grenzt er sich schärfer gegenüber Stalin ab.
„Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von dem Genossen Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft ist. Es könnte so scheinen, als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit. Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung gewinnen kann.“
Stalin gelang es nach Lenins Tod, eine offene Auseinandersetzung über diese letzten politischen Aussagen Lenins mit Hilfe von Kamenew und Sinowjew zu unterdrücken, sodass der Inhalt zwar in der Sowjetunion bekannt wurde, jedoch nie eine negative Wirkung auf Stalins spätere Karriere hatte.
Auch andere Versuche, Stalins Macht einzuschränken, scheiterten. So fanden zum Beispiel geheime Unterredungen von Mitgliedern des Zentralkomitees statt, an denen unter anderen Sinowjew und Kamenew teilnahmen. Wegen der Meinungsverschiedenheiten unter Stalins Kritikern, aufgrund der Intrigen und Repressionsmittel, die ihm zur Verfügung standen, aber auch wegen der häufig loyalen und sogar begeisterten Haltung vieler Parteimitglieder gegenüber dem Generalsekretär, hatten diese Aktivitäten keinen Erfolg.
Stalins Gegner Trotzki wandte sich ebenso schriftlich an das Zentralkomitee und warf dem Triumvirat vor, ein Regime zu errichten, das weiter von der Arbeiterdemokratie entfernt sei als der sogenannte Kriegskommunismus. Er forderte die alte Garde auf, der noch unerfahrenen jüngeren Generation Platz zu machen und sah das Triumvirat als Entartung der Revolution. Nach dem offenen Ausbruch der innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten dauerte es indes noch mehrere Jahre, bis Stalin und seine Anhänger sich durchsetzen konnten und Trotzki aus der Partei ausgeschlossen wurde. Der „Verräter“ wurde zuerst nach Kasachstan verbannt, dann endgültig aus der Sowjetunion ausgewiesen.
Nach Lenins Tod zerfiel jedoch auch das von Trotzki angeprangerte Triumvirat. Kamenew und Sinowjew wurden zu innerparteilichen Gegnern Stalins, welcher wiederum Unterstützung bei Bucharin und Dzierzynski fand. Kamenew und Sinowjew wurden aus der Partei gedrängt.
Nun war Stalin somit uneingeschränkter Alleinherrscher in der Sowjetunion. Er war das Haupt der kommunistischen Partei. Im staatlichen Bereich beschränkte er sich lange Zeit auf das Amt eines stellvertretenden Ministerpräsidenten der Sowjetunion. Seit seinem fünfzigsten Geburtstag ließ er sich offiziell als „Führer“ titulieren.
Stalin trieb die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft unnachgiebig voran. Dabei brach er rücksichtslos den Widerstand von als wohlhabend geltenden Bauern, die er als „Kulaken“ diffamierte. Er betrieb er durch Verhaftungen, Enteignungen, Todesurteile und Verschleppungen die sogenannte „Entkulakisierung“. Folge, aber auch durchaus erwünschtes Hilfsmittel der Kollektivierung und Repression gegen die „Kulaken“ war eine riesige Hungersnot im ganzen Land, die besonders fürchterliche Ausmaße an der Wolga und in der Ukraine annahm. Sie kostete mehreren Millionen Menschen das Leben.
Die Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Kirow, der aufgrund seiner wachsenden Beliebtheit als Stalins Gegenspieler galt, lieferte den Vorwand für die Politik der berüchtigten „Säuberungen“. Nahezu alle Parteimitglieder des Parteitags wurden in öffentlichen Schauprozessen (den Moskauer Prozessen) zum Tode verurteilt und hingerichtet. Darunter war ein Großteil der höheren Parteifunktionäre und Minister im Staatsapparat der Sowjetunion.
Eckpfeiler seiner Theorie des Marxismus-Leninismus waren die Entwicklung des Sozialismus in einem Land und die Verschärfung des Klassenkampfes auf dem Weg zum Kommunismus, womit er seine Repressionen zu legitimieren suchte.
Die drei großen Schauprozesse, in deren Verlauf Sinowjew, Kamenew und Bucharin zum Tode verurteilt wurden, waren aufgrund vieler Ungereimtheiten in den Aussagen der Angeklagten von der Weltöffentlichkeit als Inszenierung entlarvt worden. Weiterhin wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Prozess gegen die Führungsspitze der Roten Armee geführt. Alle diese Prozesse waren der Auftakt zu allgemeinen, von Stalin gesteuerten „Säuberungen“, die jegliche Opposition in der Sowjetunion ausschalten sollten. Stalin überließ dabei den Chefs der Geheimpolizei die Durchführung seiner Instruktionen. Diese liefen meist darauf hinaus, dass die betreffenden Personen zumindest verhaftet, häufig aber erschossen wurden.
Nun wurde die sogenannte Stalin-Verfassung vom Sowjetkongress angenommen.
Es wurden in fünf Jahren schätzungsweise anderthalb Millionen Menschen umgebracht. Fraglich ist, ob man von Wahnvorstellungen Stalins reden muss. Das Ergebnis der „Säuberungen“ war, dass Stalin nun wirklich die absolute Macht in der Sowjetunion innehatte.
Stalin umgab sich in dieser Zeit mit einem immer größere Maße annehmenden Personenkult. Dieser äußerte sich unter anderem in der Kunst (Lobpreisungs- und Ergebenheitswerke in Literatur und bildender Kunst im Stil des sozialistischen Realismus) und in seiner allgegenwärtigen öffentlichen Präsenz. So wurden in fast allen Sowjetrepubliken einige Städte nach Stalin benannt, daneben öffentliche Gebäude, Werke, Sportstätten, Straßen und anderes mehr.
In dem in Moskau abgeschlossenen Nichtangriffspakt mit dem nationalsozialistischen Deutschland, dem Hitler-Stalin-Pakt, war ein Geheimabkommen enthalten, das die Interessensphären zwischen Deutschland und der Sowjetunion gegeneinander abgrenzte.
Stalin erklärte in der Prawda, „ dass nicht Deutschland Frankreich und England angegriffen hat, sondern dass Frankreich und England Deutschland angegriffen und damit die Verantwortung für den gegenwärtigen Krieg auf sich genommen haben.“
Nach dem deutschen Angriff auf Polen besetzte die Sowjetunion gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt Teile Ostpolens. Später wurden die baltischen Staaten und das rumänische Bessarabien, die im Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugesprochen worden waren, ebenfalls von der Roten Armee besetzt und der Sowjetunion einverleibt. Die neue Grenze wurde in einem Freundschaftsvertrag festgeschrieben. Dann wurden umfangreiche Handelsverträge geschlossen, mit denen das Dritte Reich die Fähigkeit erlangte, erfolgreich Krieg gegen Großbritannien zu führen.
In Finnland sah Stalin ebenso eine mögliche Gefährdung der Sicherheit des sowjetischen Staates. Er fürchtete die Nähe der finnischen Grenze zu Leningrad und Finnland als mögliche Basis für Luftangriffe fremder Mächte. Nachdem das Land nicht auf diplomatischem Wege zu Gebietsabtretungen zu bewegen war, ordnete Stalin ohne eine Kriegserklärung an, den Winterkrieg gegen Finnland zu beginnen. Diese Offensive scheiterte. Ein zweiter sowjetischer Angriff, nun mit mehr Truppen und anderem Schwerpunkt, zwang die finnische Regierung dazu, einen Teil ihres Territoriums abzutreten. Danach ließ Stalin sein Kriegsziel der Besetzung des gesamten Landes und der Errichtung einer kommunistischen Exilregierung fallen. Das aggressive Vorgehen der Sowjetunion gegen Finnland führte noch während der Kämpfe zu ihrem Ausschluss aus dem Völkerbund und zu empörten Reaktionen im westlichen Ausland.
Vom deutschen Angriff wurden Stalin und die Rote Armee überrascht, obwohl Stalin verschiedene Hinweise auf den bevorstehenden Angriff durch den Spion Richard Sorge erhalten hatte. Stalin war fest davon überzeugt, „dass Deutschland Russland nie aus eigenem Antrieb angreifen wird.“ Er drohte sowjetischen Militärführern an, „dass Köpfe rollen werden“, wenn sie ohne Erlaubnis Truppenbewegungen durchführen würden. Sechs Tage nach dem deutschen Überfall aber fluchte er nach einer Sitzung des Volkskommissariats für Verteidigung: „Lenin hat unseren Staat geschaffen, und wir haben ihn verschissen.“ Es war das Eingeständnis, dass die sowjetische Führung und er persönlich einer verhängnisvollen Fehleinschätzung erlegen waren. Stalin war überzeugt gewesen, den Konflikt mit Deutschland verschieben zu können und hatte dem alles andere untergeordnet.
            Während des „Großen Vaterländischen Krieges“ ließ sich Stalin zum Oberbefehlshaber der Roten Armee ernennen. Durch Appelle an den Patriotismus und durch die allgemeine Wut auf die deutsche Aggression zum einen und den Staatsterror zum anderen gelang es ihm, die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung zu erreichen. Jedoch kam es im Krieg immer wieder zu fatalen Fehleinschätzungen der Situation durch Stalin. So dachte er bei Kriegsbeginn, dass der Feind über den Süden in Russland einrücken würde, und ließ dementsprechend dort stärkere Truppen stationieren. Die Wehrmacht stieß aber mit ihrer Hauptmacht über den Norden, also das Baltikum und die weißrussischen Gebiete, vor.
Stalin erwies sich bei der Führung militärischer Verbände als unfähig. Außerdem hatte die Führung der Roten Armee zahlreiche seiner Befehle insgeheim ignoriert, weil sie unsinnig gewesen waren. Ebenso wurde nach dem Ende der Stalin-Ära hinter verschlossenen Türen Stalin und der damaligen Parteiführung vorgeworfen, das Leben von Soldaten sinnlos geopfert zu haben.
Auf den Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion reagierte Stalin anfangs gar nicht. Stalin wusste nicht, was er dem Volk sagen sollte. Stalin war überzeugt, dass die Deutschen keinen direkten Angriff wagen würden, sondern lediglich provozieren wollten. Er meinte sogar, dass sie selbst eigene Städte zum Zweck der Provokation bombardieren würden.
Anstelle Stalins wandte sich Außenminister Molotow als erster an die Menschen der Sowjetunion und informierte sie über den Angriff der Deutschen. Ein persönliches Auftreten Stalins in den ersten Tagen des Großen Vaterländischen Krieges hätte seine Politik der vergangenen Jahre zu stark in Zweifel gezogen, da die anfänglichen Niederlagen zu einem großen Teil auf die „Säuberungen“ innerhalb der Roten Armee zurückzuführen waren. Molotow sprach in seiner Rede erstmals vom Vaterländischen Krieg in Bezug auf den siegreichen Abwehrkrieg des Heiligen Russlands gegen Napoleon.
Erst später meldete sich Stalin zu Wort und hielt eine Radioansprache, der im Gegensatz zu früheren Reden jegliches Pathos fehlte. Viel erstaunlicher war allerdings der Inhalt der Rede. Neben den zu erwartenden Lügen über die tatsächliche Situation an der Front war vor allem die verwendete Sprache Stalins ein Novum. Statt wie gewohnt mit „Genossen“, redete Stalin seine Zuhörer an mit den Worten „Genossen! Bürger! Brüder und Schwestern! Kämpfer unserer Armee und Flotte, an Euch wende ich mich, meine Freunde.“ Angesichts des bisherigen Personenkultes um Stalin war diese Anrede, die faktisch auf Augenhöhe stattfand, sehr ungewöhnlich. In den Folgemonaten veränderte sich das Bild Stalins und der sowjetischen Propaganda völlig. Stalin trat in den Hintergrund, die Prawda veröffentlichte nur noch alte Fotos des Diktators, Reden wurden gar nicht mehr gehalten. Anstelle einer ideologisch motivierten Propaganda, die zum „neuen Menschen“ erziehen sollte, trat immer mehr eine patriotisch orientierte Kriegskampagne. Stalin verschwand größtenteils von Plakaten und aus Filmen und wurde durch die allgegenwärtige Mutter Heimat ersetzt. Der Personenkult um Stalin trat erst gegen Ende des Krieges in den Vordergrund, als ein Sieg der Roten Armee über das Dritte Reich als sicher galt.
Während des Kriegs veränderte sich auch der Terror. Von der Willkür des Großen Terrors fand ein Übergang auf gezielten Terror gegen einzelne Volksgruppen der Sowjetunion statt, die verdächtigt wurden, mit den Deutschen zu paktieren. Millionen von Menschen, ganze Völker und Volksgruppen wie die Krimtataren, die Russlanddeutschen oder die Tschetschenen wurden in dieser Zeit als potenzielle Kollaborateure nach Kasachstan und Zentralasien deportiert, wo viele der Deportierten einen grausamen Tod starben. Die baltischen Staaten verloren etwa zehn Prozent ihrer Einwohner.
Auf der Konferenz von Jalta 1945 legten die drei Siegermächte – darunter Stalin – die Grenzen Europas nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands fest. Daraufhin mussten mehrere Millionen Menschen in Osteuropa ihre Heimat verlassen (Heimatvertreibung).
Bereits die Schlacht um Stalingrad hatte zum Stillstand des deutschen Angriffs geführt. Die Rote Armee kam bis an die deutschen Reichsgrenzen heran. Wenige Monate später war mit der Schlacht um Berlin die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland beendet.
In den Verhandlungen mit den westlichen Alliierten (Konferenzen von Jalta und Potsdam) erreichte Stalin Zugeständnisse, die letztlich den Machtantritt kommunistischer Parteien in osteuropäischen Ländern begünstigten und so die Einflusssphäre der Sowjetunion weiter ausdehnten. Die Ausschaltung unabhängiger Kommunisten durch Schauprozesse in den von der Sowjetunion dominierten Ländern Osteuropas führte dort zur Alleinherrschaft der stalinistischen Kräfte. Aber es kam zum Bruch mit Marschall Tito, der einen Partisanenkampf gegen die nationalsozialistische deutsche und die faschistische italienische Besatzung im Zweiten Weltkrieg angeführt und die Volksrepublik Jugoslawien als einen von der Sowjetunion unabhängigen sozialistischen Staat etabliert hatte. Die von Stalin geführte Sowjetunion geriet in scharfen Gegensatz zu der von Amerika geführten westlichen Welt, der Kalte Krieg begann.
In der Sowjetunion und in den von ihr beherrschten osteuropäischen Staaten kam es erneut zu „Säuberungen“. Auch Geistliche, Angehörige nichtrussischer Völker und zahlreiche politische Gegner (unter anderem Zionisten) wurden inhaftiert und mitunter der Folter unterzogen, wobei viele Unschuldige sich des Vorwurfs der „konterrevolutionären Tätigkeit“ ausgesetzt sahen.
Zu seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag wurde Stalin von den Linken als Mann gewürdigt, „auf den alle friedliebenden Menschen der Welt blicken und hoffen.“ Derartige Formulierungen entsprachen dem damals propagierten Bild von Stalin. Im Zusammenhang mit dem Personenkult um Stalin wurden im Ostblock Schulen, Straßen und Städte nach ihm benannt. Viele dieser Ehrungen wurden erst geraume Zeit nach seinem Tod und nach der Entstalinisierung rückgängig gemacht.
Am Abend des 28. Februar 1953 traf sich Stalin mit Beria, dem Geheimdienstchef, und Chruschtschow zum Abendessen. Die Unterredung, gegen deren Ende Stalin in einem langen Monolog seine Mitarbeiter heftig kritisierte, dauerte bis vier Uhr am Morgen des 1. März 1953. Nach der Verabschiedung seiner Gäste erlitt Stalin in seinem Zimmer unbemerkt einen Schlaganfall. Erst um 23 Uhr wagte sich der diensthabende Mitarbeiter zu Stalin, den er im Unterhemd auf dem Fußboden liegend fand. Stalin war bei Bewusstsein, konnte aber nicht sprechen. Die Bediensteten legten ihn auf den Diwan, wo er das Bewusstsein verlor. Um drei Uhr morgens erschien Beria. Dieser verbot den Leibwachen und Hausbediensteten zu telefonieren und entfernte sich. Um neun Uhr kam Beria in Begleitung von Chruschtschow zurück, etwas später erschienen weitere Politbüromitglieder und Ärzte.
Einige Stunden später wurde eine Regierungsmitteilung veröffentlicht, in der mitgeteilt wurde, dass Stalin Gehirnblutungen erlitten hatte, die lebenswichtige Teile des Gehirns erfassten. Am 5. März 1953 verstarb Stalin im Alter von 74 Jahren.
Die Trauerbezeugungen unter Kommunisten in aller Welt und unter linken Intellektuellen waren außerordentlich. In dem bei der Beisetzung auf dem Roten Platz auftretenden Gedränge gab es etliche Tote. Nach den Trauerzeremonien brachte man Stalins Leiche in das Lenin-Mausoleum. Die Leiche wurde einbalsamiert und neben Lenins Leiche aufgebahrt.
Stalin hatte einmal spöttisch gefragt: „Wie viele Divisionen hat denn der Papst?“ Den Tod Stalins kommentierte Papst Pius XII so: „Und nun wird Herr Stalin die Divisionen des Papstes kennen lernen.“