Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

SOPHIAS WELT


Eine philosophische Studie

Von Anonymus

Herausgegeben von Josef Maria Mayer


ERSTER TEIL


ERSTES KAPITEL
PYTHAGORAS
Da keine Schriften des Pythagoras überliefert sind, stößt eine Rekonstruktion seiner Lehre auf Schwierigkeiten. Die uns bekannte antike Überlieferung besteht größtenteils aus späten Quellen, die erst in der römischen Kaiserzeit entstanden sind. Die antiken Hinweise und Berichte sind voller Widersprüche und stark von Legenden durchsetzt. Das Ziel vieler Autoren war die Verherrlichung des Pythagoras, einige wollten ihn verunglimpfen.
Im 5. Jahrhundert v. Chr. behauptete der Dichter Ion von Chios, Pythagoras habe Gedichte verfasst, und Autoren der römischen Kaiserzeit nannten Titel von Werken, die er angeblich geschrieben hatte. Zu den Gedichten, die ihm zugeschrieben wurden, gehörte insbesondere eine „Heilige Rede“, deren erster Vers überliefert ist, sowie die „Goldenen Verse“, ein in der Antike beliebtes und mehrmals kommentiertes Gedicht (71 Hexameter). Es enthält Lebensregeln und religiöse Verheißungen und bietet eine zusammenfassende Einführung in pythagoreisches Gedankengut. 
Die These, Pythagoras sei ein religiöser Geisterseher und Magier gewesen kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Pythagoras hat sehr wahrscheinlich keinen einzigen Beitrag zur Arithmetik, Geometrie, Musiktheorie und Astronomie geleistet und dies auch gar nicht beabsichtigt. Sein Anliegen war kein wissenschaftliches, sondern es ging ihm um spekulative Kosmologie, um Zahlensymbolik und besonders um die Anwendung magischer Techniken. Für seine Anhänger war er ein übermenschliches Wesen und hatte Zugang zu unfehlbarem göttlichem Wissen. Der Legitimierung dieses Anspruchs dienten ihm zugeschriebene Wundertaten. Die Pythagoreer bildeten eine Kultgemeinschaft, die hinsichtlich ihrer Riten den Mitgliedern ein rigoroses Schweigegebot auferlegte, und waren an zahlreiche im Alltag streng zu befolgende Regeln gebunden. Der Zweck der Schule war primär religiös, schloss aber auch politische Aktivitäten ein. Wissenschaftliche Bestrebungen traten erst nach dem Tod des Pythagoras hinzu. Von einer pythagoreischen Philosophie kann zu Lebzeiten des Pythagoras nicht gesprochen werden, sondern erst ab der Zeit des Pythagoreers Philolaos. Das Weltverständnis des Pythagoras war insgesamt ein vorwissenschaftlich-mythisches.
Dieser Auffassung entgegengesetzt ist die Wissenschaftsthese. Sie besagt, dass es im griechischsprachigen Kulturraum zur Zeit des Pythagoras die für Geistersehertum typischen Phänomene nicht gab. Dieser Auffassung zufolge sind die Berichte über den Glauben der Schüler des Pythagoras an übermenschliche Fähigkeiten und Taten ihres Lehrers und die Beschreibungen der Schule als religiöser Bund mit einer Geheimlehre und seltsamen Tabus unglaubwürdig. Dieses Bild stammte teils von spottlustigen Komödiendichtern, teils war es Ausdruck entsprechender Neigungen in der römischen Kaiserzeit. Der historische Pythagoras war ein Philosoph, der sich um Mathematik, Musiktheorie und Astronomie bemühte und dessen Schüler einschlägige Forschungen durchführten. Unter anderem dürften manche Theoreme Euklids auf Pythagoras zurückgehen. Es gab keinen spezifisch pythagoreischen Kult und Ritus, die Schule war keine Kultgemeinschaft, sondern ein lockerer Zusammenschluss (Hetairie) von Forschern. Diese waren nicht auf Dogmen des Schulgründers eingeschworen, sondern vertraten unterschiedliche Meinungen.
Für die These vom Magier Pythagoras werden die Legenden angeführt, die von Wundertaten und spektakulären Fähigkeiten des Meisters handeln, darunter Wahrsagen, Bilokation und die Fähigkeit, mit Tieren zu reden. Die Legende, er habe einen goldenen Schenkel gehabt, diente dazu, ihn mit Apollon zu identifizieren; manche betrachteten ihn als Sohn Apollons. Andererseits schrieb der Zeitgenosse Heraklit, Pythagoras habe mehr Studien betrieben als irgendein anderer Mensch. Diese Aussage wird zugunsten der Wissenschaftsthese angeführt, gerade weil sie von einem zeitgenössischen Gegner stammt, der Pythagoras keineswegs loben will, sondern ihm Vielwisserei vorwirft. Heraklit beschuldigt Pythagoras des Plagiats, womit er anscheinend Verwertung von naturphilosophischem und naturkundlichem Prosaschrifttum meint.
Einer in der Antike allgemein akzeptierten Überlieferung zufolge war Pythagoras der Erfinder der Begriffe „Philosophie“ und „Philosoph“. Herakleides Pontikos berichtet, Pythagoras habe auf die Unterscheidung zwischen dem „Weisen“ und einem nach Weisheit strebenden „Weisheitsfreund“ Wert gelegt, wobei er sich selbst zu den Philosophen zählte, da nur Gott wirklich weise sei.
Auch die Verwendung des Begriffs „Kosmos“ zur Bezeichnung des harmonisch geordneten Weltganzen hat nach antiken Angaben Pythagoras eingeführt.
Schon im 4. Jahrhundert v. Chr. führten Aristoteles und Aristoxenos die Anfänge der Mathematik bei den Griechen auf die Pythagoreer bzw. Pythagoras zurück. In der Spätantike und im Mittelalter war die Überzeugung allgemein verbreitet, Pythagoras sei der Begründer der Mathematik gewesen. Damit war auch die Geometrie gemeint, der für die antiken Griechen wichtigste Teil der Mathematik. Dazu passte die Überlieferung vom Aufenthalt des Pythagoras in Ägypten, denn schon Herodot war der Überzeugung, die Geometrie stamme ursprünglich aus Ägypten, sie sei ein Ergebnis der Notwendigkeit stets neuer Landvermessung nach den regelmäßigen Nilüberschwemmungen gewesen. Schon Isokrates nahm an, Pythagoras habe seine Mathematik und Astronomie den Ägyptern zu verdanken. Ferner galt Pythagoras auch als Vermittler mathematischen Wissens der Babylonier, denn man ging davon aus, dass er sich in seiner Jugend in Babylon aufgehalten hatte.
Die Einzelheiten sind umstritten, auch die Rolle des Pythagoras als Vermittler ägyptischen und orientalischen Wissens. Mancher hält die Berichte von den Studienreisen nach Ägypten und Babylon für unhistorisch. Sie weisen darauf hin, dass Griechen damals keine Fremdsprachen zu erlernen pflegten und dass es für Pythagoras äußerst schwierig gewesen wäre, sich Kenntnisse der akkadischen und der ägyptischen Sprache sowie der Hieroglyphen und der Keilschrift anzueignen und dann auch noch Fachliteratur zu verstehen. Daher betrachten sie die mathematischen Erkenntnisse des Pythagoras als dessen selbständige Leistungen. Die oft mit dem Pythagoreismus gleichgesetzte spekulative Zahlenlehre oder Zahlenmystik mit dem Grundsatz „Alles ist Zahl“ existierte nach Ansicht mancher in der frühpythagoreischen Zeit noch nicht, vielmehr gab erst der Platonismus den Anstoß zu ihrer Entstehung.
Die Argumentation anderer lautet folgendermaßen. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Pythagoras auch nur einen einzigen Beitrag zur Arithmetik oder zur Geometrie geleistet hat. Sein Interesse galt nicht der Mathematik als einer mit Quantitäten befassten, rechnenden und beweisenden Wissenschaft, sondern er betrachtete Zahlen unter qualitativen Gesichtspunkten. Dabei ging es ihm darum, verschiedenen Zahlen im Sinne einer Zahlensymbolik bestimmte nichtmathematische Eigenschaften wie „männlich“ und „Grenze bildend“ (für die ungeraden Zahlen), „weiblich“ und „unbegrenzt“ (für die geraden), „gerecht“ oder „jungfräulich“ zuzuweisen und so ein Ordnungsprinzip für seine Kosmologie zu gewinnen. Diese Herangehensweise, bei der es nicht um Quantität geht, sondern um die Ordnung des Kosmos und um qualitative Entsprechungen zwischen dessen Bestandteilen, vergleichen manche mit der chinesischen Auffassung von Yin und Yang. Ebenso wie in der pythagoreischen Zahlenlehre ist in der chinesischen der Urgegensatz von geraden und ungeraden Zahlen grundlegend und werden die ungeraden Zahlen als männlich angesehen. Die in diesem spekulativen, kosmologischen Sinn verstandene Aussage „Alles ist Zahl“ war nach der Deutung der These von Pythagoras als Magier ein Kernbestandteil seines Weltbildes.
Pythagoras gilt traditionell als der Entdecker des als Satz des Pythagoras bekannten Lehrsatzes der Euklidischen Geometrie über das rechtwinklige Dreieck. Dieser Satz war schon Jahrhunderte vor Pythagoras den Babyloniern bekannt. Ob sie aber einen Beweis für den Satz kannten, ist unbekannt.
Ein Schüler des Pythagoras, Hippasos von Metapont, soll als erster die Konstruktion des einer Kugel einbeschriebenen Dodekaeders gefunden und auch erkannt haben, dass gewisse geometrische Größen (wie das Verhältnis von Diagonale und Seite eines Quadrats) nicht durch ganzzahlige Zahlverhältnisse ausdrückbar sind. Eine späte Überlieferung behauptet, Hippasos habe diese Entdeckungen veröffentlicht und damit aus der Sicht der Pythagoreer Geheimnisverrat begangen. Daraufhin sei er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden und bei einem Schiffbruch umgekommen, was als göttliche Strafe zu deuten sei. Die ältere Forschung interpretierte dies als „Grundlagenkrise“ des Pythagoreismus: Hippasos habe die Grundlage der pythagoreischen Mathematik zerstört, die besagte, alle Phänomene seien als Erscheinungsformen ganzzahliger Zahlverhältnisse erklärbar. Die Pythagoreer seien durch seine Entdeckung der mathematischen Irrationalität in eine schwere Krise gestürzt worden; aus diesem Grund hätten sie Hippasos ausgeschlossen und seinen Tod als göttliche Strafe gedeutet.
Zu den Errungenschaften, die man Pythagoras zugeschrieben hat, gehört die Begründung der Proportionentheorie; er soll den Begriff Logos im mathematischen Sinn von Proportion eingeführt haben. Als spezifisch pythagoreische Neuerung bezeichnen die antiken Quellen insbesondere die Lehre von den drei Mitteln (arithmetisches, geometrisches und harmonische Mittel). Die Mittel kamen möglicherweise bereits in babylonischen Rechenregeln vor, doch kannten die Babylonier den Begriff der Proportion nicht. Die Beweisführung und Terminologie kann somit eine Errungenschaft des Pythagoras oder der Pythagoreer sein.
Ein Hauptelement der frühen pythagoreischen Zahlenlehre war die Tetraktys („Vierheit“), die Gruppe der Zahlen 1, 2, 3 und 4, deren Summe die 10 ergibt, die bei Griechen und Nichtgriechen gleichermaßen als Grundzahl des Dezimalsystems diente. Die Vier wurde neben der „vollkommenen“ Zehn im Pythagoreismus als für die Weltordnung grundlegende Zahl betrachtet.
Die Ansicht, dass Pythagoras der Begründer der mathematischen Analyse der Musik gewesen sei, war in der Antike allgemein verbreitet und akzeptiert. Schon Platon führte die musikalische Zahlenlehre auf die Pythagoreer zurück, sein Schüler Xenokrates schrieb die entscheidende Entdeckung Pythagoras selbst zu. Es ging um die Darstellung der harmonischen Intervalle durch einfache Zahlenverhältnisse. Veranschaulicht wurde dies durch Streckenmessung (Abhängigkeit der Tonhöhe von der Länge schwingender Saiten). Offenbar gingen manche Pythagoreer empirisch vor, denn Platon, der eine rein spekulative Musiktheorie forderte und der Empirie misstraute, kritisierte sie in dieser Hinsicht.
In der römischen Kaiserzeit wurde die Legende von Pythagoras in der Schmiede erzählt. Sie berichtet, Pythagoras sei an einer Schmiede vorbeigekommen und habe in den Tönen der Schmiedehämmer Harmonie wahrgenommen. Er habe herausgefunden, dass die Konsonanz vom Gewicht der Hämmer abhing. Darauf habe er zu Hause mit gleich langen Saiten experimentiert, die er mit Gewichten belastete, und sei zum Ergebnis gekommen, dass die Klanghöhe dem Gewicht der Metallkörper entspricht und so die reinen Intervalle von Oktave, Quarte und Quinte durch messbare Proportion zustande kommen. Damit soll erstmals musikalische Qualität quantifizierbar gemacht worden sein.
Nach der Magier-These war es ebenso wie in der Mathematik auch in der Musik nicht das Anliegen des Pythagoras, musikalische Gegebenheiten durch Messung zu quantifizieren. Vielmehr ging es ihm darum, symbolische Beziehungen zwischen Zahlen und Tönen zu finden und so die Musik ebenso wie die Mathematik in das Gebäude seiner Kosmologie einzuordnen. Die Wissenschaftsthese vertritt auch hier den entgegengesetzten Standpunkt. Ihr zufolge war Pythagoras der Entdecker der musikalischen Harmonielehre; er ging dabei empirisch vor und bediente sich des Monochords. Seine Schüler setzten die Forschungen fort.
Die Überlieferung, wonach Pythagoras Musik gezielt zur Beeinflussung unerwünschter Affekte einsetzte, also eine Art Musiktherapie betrieb, wird von der Forschung als frühpythagoreisch eingestuft.
Dass die griechische Astronomie (insbesondere die genaue Kenntnis der Planeten) auf der babylonischen fußt, ist unstrittig. Die griechischen Planetennamen gehen auf die babylonischen zurück. Ein grundsätzlicher Unterschied besteht allerdings darin, dass die Babylonier nicht an der Erklärung, sondern nur an der Berechnung und Vorhersage der Vorgänge am Himmel interessiert waren, wogegen die Griechen ihr Augenmerk auf die astronomische Theorie richteten.
Die ältere Forschung hat für die Astronomie – ebenso wie für die Mathematik – Pythagoras wegen seiner Babylonreise in einer Vermittlerrolle gesehen.
Der Magier-These zufolge übernahmen die Griechen die babylonische Planetenordnung erst um 430, also lange nach Pythagoras’ Tod. Erst danach entstand das älteste pythagoreische Modell, dasjenige des Pythagoreers Philolaos. Es lässt die Erde um ein Zentralfeuer kreisen, wobei die bewohnten Gegenden auf der diesem Feuer stets abgewandten Seite liegen; auf der anderen Seite des Zentralfeuers befindet sich eine ebenfalls für uns unsichtbare Gegenerde. Mond, Sonne und fünf Planeten kreisen ebenfalls um das Zentralfeuer. Dieses System war nach der Ansicht mancher nicht ein Ergebnis astronomischer Beobachtungen, sondern ein kosmologischer Mythos. Sie meinen, dass Pythagoras keine empirische Astronomie getrieben hat. Sie weisen darauf hin, dass laut Angaben des Aristoteles manche Pythagoreer einen Kometen zu den Planeten zählten, was mit dem System des Philolaos unvereinbar ist; dieses war somit nicht ein ursprüngliches Modell des Pythagoras, das als solches für die ganze Schule verbindlich gewesen wäre. Auch über die Milchstraße hatten die Pythagoreer keine einheitliche Meinung.
Andre kommen zum gegenteiligen Ergebnis. Sie halten den Bericht über eine Orientreise des Pythagoras für eine Legende ohne historischen Kern. Aus ihrer Sicht war der babylonische Einfluss auf die griechische Astronomie minimal. Nach ihrer Auffassung gab es ein ursprüngliches astronomisches Modell der Pythagoreer vor Philolaos, auf dem auch die platonische Astronomie basierte. Es sah eine kugelförmige Erde im Zentrum des Kosmos vor, um die sich die Fixsternsphäre von Ost nach West sowie Mond, Sonne und die damals bekannten fünf Planeten von West nach Ost gleichförmig im Kreis drehten.
Sicher pythagoreischen Ursprungs ist die Idee der Sphärenharmonie oder Himmelsharmonie. Laut den antiken Überlieferungen handelt es sich dabei um Töne, die von den Planeten bei ihren streng gleichförmigen Kreisbewegungen hervorgebracht werden und zusammen einen kosmischen Klang ergeben. Dieser ist jedoch für uns unhörbar, da er ununterbrochen erklingt und uns nur durch sein Gegenteil, durch einen Gegensatz zwischen Klang und Stille zu Bewusstsein käme. Einer Legende zufolge war Pythagoras der einzige Mensch, der die Himmelsharmonie hören konnte.
Manche meinen, dass diese Idee ursprünglich nicht mit der Astronomie zusammenhing, sondern nur mit der Fähigkeit zu außersinnlicher Wahrnehmung, die man Pythagoras als einem Magier zuschrieb. Ein ausgearbeitetes System habe es zu Lebzeiten des Pythagoras nicht gegeben. Andre hingegen sind der Ansicht, dass es ursprünglich eine physikalische Theorie war, in der astronomische und akustische Beobachtungen und Überlegungen miteinander verbunden wurden. Er weist auch darauf hin, dass die Töne der Himmelskörper nur als gleichzeitig, nicht als nacheinander erklingend gedacht werden konnten. Daher kann man zwar von einem Klang sprechen, aber der Begriff Sphärenmusik ist dafür sicher unpassend.
Pythagoras hatte in einer Anzahl von griechischen Städten Unteritaliens Anhänger. Sicher ist, dass die Pythagoreer sich nicht vom gesellschaftlichen Leben absonderten, sondern in der Politik nach Einfluss strebten, und dass Pythagoras selbst politisch aktiv war und daher auch erbitterte Gegner hatte. Die Berichte sind in manchen Einzelheiten widersprüchlich. Diogenes Laertios schreibt, Pythagoras habe mit der Gemeinschaft seiner Schüler in der Stadt Kroton, wo er lange lebte, die politische Macht ausgeübt. Er soll der Stadt eine aristokratische Verfassung gegeben und nach dieser regiert haben. Es ist davon auszugehen, dass Pythagoras mit seinen Anhängern im Stadtrat und in der Volksversammlung seinen Standpunkt geltend machte und dabei teilweise erfolgreich war. Überliefert sind Auszüge aus vier Reden, in denen er in Kroton sein Tugendideal erläutert haben soll – eine an den Rat der Stadt, eine an die jungen Männer, eine an die Knaben und eine an die Frauen. Die Entscheidung der Krotoniaten, Flüchtlinge aus Sybaris nicht an diese Stadt auszuliefern, sondern lieber einen Krieg in Kauf zu nehmen, der dann mit der Eroberung und Zerstörung von Sybaris endete, war auf das Eingreifen des Pythagoras zurückzuführen. Sein Einfluss rief aber auch heftige Opposition hervor, die ihn veranlasste, Kroton zu verlassen und nach Metapont zu übersiedeln.
Erst Jahrzehnte nach dem Tod des Pythagoras, um die Mitte des 5. Jahrhunderts, kam es in mehreren Städten zu blutigen Auseinandersetzungen um die Pythagoreer, die für diese katastrophal endeten; sie wurden teils getötet, teils vertrieben.
Die Hintergründe der Feindseligkeit gegen die Gemeinschaft und ihren Gründer sind schwer durchschaubar; manchen Berichten zufolge spielten persönliche Motive der Gegner wie Neid und Missgunst eine wesentliche Rolle. Soweit dabei grundsätzliche Fragen in Betracht kamen, standen die Pythagoreer auf der Seite der Aristokratie und ihre Gegner auf derjenigen der Demokratie. Die Flüchtlinge aus Sybaris, für die Pythagoras eintrat, waren wohlhabende Bürger, die auf Veranlassung eines Volksführers enteignet und verbannt worden waren. Jedenfalls war die Politik der Pythagoreer entsprechend ihrem generellen Harmonie-Ideal konservativ und auf Stabilität bedacht; dies machte sie zu Verbündeten der traditionell im Rat dominierenden Geschlechter. Ihre natürlichen Gegenspieler waren damit die Volksredner, die nur durch Einfluss auf die Massen an die Macht kommen konnten und Unzufriedenheit nutzten, um für einen Umsturz zu agitieren.
Die Pythagoreer betrachteten die von ihnen angenommene Harmonie in der Natur und speziell in den gleichmäßigen Kreisbewegungen der Himmelskörper als Manifestation einer göttlichen Weltlenkung. In der Epoche des Hellenismus gab es bei ihnen einen astrologischen Fatalismus, also die Lehre von der zwangsläufigen ewigen Wiederkunft aller irdischen Verhältnisse entsprechend der zyklischen Natur der Gestirnbewegungen. Wenn alle Planeten nach Ablauf einer langen kosmischen Periode, des Großen Jahres, ihre Ausgangsstellung wieder erreicht haben, beginnt nach diesem Mythos die Weltgeschichte von neuem als exakte Wiederholung. Diese Vorstellung, die später auch bei Stoikern verbreitet war und in der Neuzeit von Nietzsche aufgegriffen wurde, führte man in der Antike auf Pythagoras zurück.
Sicher ist, dass Pythagoras von der Seelenwanderung überzeugt war und dabei keinen Wesensunterschied zwischen menschlichen und tierischen Seelen annahm. Diese religiöse Idee hatten schon zuvor die Orphiker vertreten. Sie setzte die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele voraus. Einer Legende zufolge war Pythagoras imstande, sich an seine früheren Inkarnationen zu erinnern, zu denen der trojanische Held Euphorbos gehörte. Den Schild des Euphorbos, der in Argos im Tempel der Hera als Beutestück aufbewahrt wurde, wollte Pythagoras als den seinigen erkannt haben.
Zum Kernbestand des ursprünglichen Pythagoreismus gehörte auch der Vegetarismus, der als Enthaltung vom Beseelten bezeichnet wurde. Dieser Vegetarismus war religiös und ethisch motiviert; gemäß dem Prinzip der Enthaltung wurden neben der Fleischnahrung auch die Tieropfer verworfen. Pythagoras selbst war Vegetarier; inwieweit seine Anhänger ihm darin folgten, ist unklar. Ein für alle verbindliches Gebot gab es offenbar nicht, doch dürfte zumindest der engere Schülerkreis vegetarisch gelebt haben.
Berühmt war in der Antike ein strenges Tabu der Pythagoreer gegen den Verzehr von Bohnen. Die Forschung nimmt einhellig an, dass das Bohnenverbot auf Pythagoras selbst zurückzuführen ist. Ob das Motiv dafür ausschließlich mythisch-religiös oder auch diätetisch war und welcher Gedankengang dahinter stand, war schon in der Antike strittig.
Pythagoras gehörte auch zu den Befürwortern der Athaumasie, das heißt der geistigen Haltung eines Menschen, über nichts zu staunen oder sich zu wundern. Der Alltagsmensch solle sich nicht durch die Größen des Lebens imponieren und verblüffen lassen. Hierzu zählen Götterfabeln, die ihm bange machen oder Reichtum, Ehre und Macht, die seine Gier und seinen Neid erregen.

ZWEITES KAPITEL
PARMENIDES
Parmenides hat ein einziges, sehr kurzes Werk verfasst. Die Kenntnis dieses Werkes verdanken wir seiner Überlieferung durch den griechischen Philosophen Simplikios.
In der Rezeption wird das Werk als Lehrgedicht bezeichnet und mit dem Titel: Über die Natur versehen. Diesbezügliche Autorisationen durch den Verfasser existieren ebenso wenig, wie für die von verschiedenen Interpreten vorgenommene Gliederung der Parmenideischen Schrift in die drei Teile: Proömium, Aletheia und Doxa.
Des Weiteren herrscht in der Rezeption die Meinung vor, das Werk des Parmenides sei lediglich in Fragmenten erhalten geblieben, was mit einiger Sicherheit jedoch nur von dem Teil gesagt werden kann, der von verschiedenen Interpreten als Doxa bezeichnet wird.
Das Werk beginnt mit dem Bericht des Erzählers von einer Reise, die ihn bis vor das Tor führt, durch welches die Pfade von Tag und Nacht verlaufen und das durch Dike, die Göttin der Gerechtigkeit, bewacht wird. Nachdem Dike dem Erzähler Einlass gewährt hat, wird er durch eine namenlose Göttin begrüßt, die von nun an allein das Wort führt. Sie erklärt ihm zunächst, dass ihn sein Wandeln fernab von den üblichen Pfaden der Menschen an diesen Ort geführt hat, weshalb sie ihm nunmehr offenbaren wird, was es einerseits über die Wahrheit an Sicherem zu sagen gibt und was andererseits den Sterblichen wahr zu sein scheint. Mit Sicherheit, so fährt die Göttin fort, muss gesagt werden, dass das Sein existiert, das Nichtsein hingegen nicht. Daraus muss gefolgert werden, dass das Sein jeglicher Möglichkeit zur Veränderung enthoben ist, da die einzige Form der Veränderung für das Sein die ist, Nichtsein zu werden. Dass dies möglich wäre, ist undenkbar und somit sei die Annahme irgendeiner Form der Veränderung von Sein bloße Meinung und purer Schein, was sie in den Gegensatz einer Erfassung des Seins durch die Vernunft setzt. Mit verschiedenen Ansätzen wiederholt die Göttin im weiteren diese Einsicht und entwirft dabei ein Bild des Seins, dessen Vollkommenheit mit der einer Kugel verglichen wird. Nachdem die Göttin ihre Rede über die Wahrheit des Seins abgeschlossen hat, folgen einige Sätze zu dem, was in den Meinungen der Menschen wahr zu sein scheint. Aufgrund der Aneinanderreihung dieser Sätze entsteht in der Tat der Eindruck, dass es sich bei ihnen um erhalten gebliebene Bruchstücke einer ursprünglich umfangreicheren Aufzeichnung handelt.

DRITTES KAPITEL

HERAKLIT
Die Philosophie Heraklits wurde bereits in der Antike monistisch dergestalt verstanden, dass alle Dinge aus einem vernünftigen Weltfeuer hervorgehen. Aus dem Feuer entsteht nach Heraklit die Welt, die in allen ihren Erscheinungsformen eine den meisten Menschen verborgene vernunftgemäße Fügung gemäß dem Weltgesetz des Logos erkennen lässt. Alles befindet sich in einem ständigen, fließenden Prozess des Werdens, welches vordergründige Gegensätze in einer übergeordneten Einheit zusammenfasst. Aus dieser Auffassung entstand später die verkürzende Formulierung „Alles fließt“.
Ein zentraler Aspekt der heraklitischen Philosophie ist die Unterscheidung von lebensweltlichen Erfahrungen, wie sie die Masse der Menschen (die Vielen) macht, und tiefer gegründeten Zugängen zur Lebenswirklichkeit, die allein zu Erkenntnis im Sinne des Logos führen. „Die Vielen“ stehen bei Heraklit in einer bestimmten Hinsicht für den Menschen, der sich nicht wahrer Philosophie widmet und daher nicht zu tieferer Erkenntnis vordringen kann. Der facettenreich wiederholte Ausgangsgedanke des heraklitischen Philosophierens, der an vielen Stellen des Werkes aufscheint, ist demnach die Bekämpfung und zugleich kritische Charakterisierung der Denk- und Verhaltensart der Vielen und die Überwindung ihrer nur partiellen Erfahrungen und Teilwahrheiten in einer Gesamtsicht. In scharfer Abgrenzung gegenüber der vor- und außerphilosophischen Denk- und Verhaltensart derer, welche die Realität nicht erkennen, beansprucht Heraklit, den Logos erkannt zu haben.
Die Aussagen zu diesem Grundthema sind teils belehrender, teils polemischer Art. In dem als Einleitung zum Werk aufgefassten Fragment, das im Stil eines Proömiums verfasst ist und das längste von allen Fragmenten darstellt, spricht Heraklit diesen Zusammenhang an:
Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen haben. Alles geschieht nach diesem Logos, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie es sich damit verhält. Die anderen Menschen wissen freilich nicht, was sie im Wachen tun, wie sie ja auch vergessen, was sie im Schlaf tun.
Trotz eines prinzipiell möglichen Zugangs zu Erkenntnis sind für Heraklit die meisten seiner Mitmenschen Unbelehrbare, die ihre trügerische Realitätswahrnehmung selbst dann nicht hinterfragen, wenn sie mit dem Logos in Berührung gekommen sind. So wie im Schlaf die Realität verlassen und eine individuelle Welt betreten wird, konstruieren sie untereinander verschiedene Erklärungen der Wirklichkeit, ohne deren Beschaffenheit zu begreifen. Wahre menschliche Erkenntnis setzt für Heraklit voraus, den Logos als Denk- und Weltgesetz zu erkennen und das eigene Handeln und Denken an ihm auszurichten. Erst durch das Hinhören auf die Natur erschließt sich das Naturgemäße und steht so als Maßstab des Handelns in Verbindung mit dem durch den Logos vorgegebenen Vernunftgemäßen.
Richtiges Bewusstsein ist die größte Tugend, und Weisheit ist es, Wahres zu sagen und zu handeln nach der Natur, auf sie hörend.
Die große Anzahl der Fragmente, in denen sich Heraklit um eine Abgrenzung von allgemein verbreiteten Ansichten bemüht, deutet darauf hin, dass hierin ein Kern seines Werkes liegt. Allein dreizehn Fragmente thematisieren das nicht-philosophische Denken anderer direkt, vierzehn weitere Fragmente heben ausdrücklich den Unterschied zwischen dem Denken und Verhalten der „Vielen“ und demjenigen der „Wenigen“ hervor. In sechs Fragmenten richtet Heraklit zudem seine Polemik gegen Dichter und Philosophen, deren Äußerungen für ihn den Standpunkt der breiten Masse repräsentieren.
Seit Platon wird bei der Deutung der Philosophie Heraklits oft betont, dass die Struktur der Realität darin nicht als statisch, sondern als prozeßhaft aufgefasst wird. Demnach ist die alltägliche Erfahrung von Stabilität und Identität irreführend. Die scheinbare Stabilität bildet nur die Oberfläche und ist nicht die ganze Wahrheit. Vielmehr ist Stabilität die Funktion von Bewegung. Das Grundprinzip des Kosmos ist nach Heraklit nicht wie für Parmenides ein statisches, gleichbleibendes Sein, sondern das Werden. Während Parmenides das Nicht-Sein und damit das Werden radikal leugnet, betont Heraklit das gegensätzliche, aber in untrennbarer Einheit verschränkte Verhältnis von Sein und Werden.
Die Flussfragmente, die das metaphorische Bild des Flusses mehrfach variieren, stehen für diese Gesamtheit von Werden und Wandel, die Natur und Weltgeschehen als eigentliches Seinsgesetz konstituiert:
Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu.
Die spezielle ontologische und terminologische Bedeutung des Flusses ergibt sich aus einer Doppelkonstellation: Seine Identität als Objekt verdankt der Fluss dem festen Flussbett mit seinen begrenzenden Ufern, ohne die er nicht ein bestimmbares Ganzes wäre. Anderseits würde die spezifische Eigenschaft eines Flusses fehlen, wenn das Wasser sich nicht in ständiger Bewegung befände. Heraklit beschreibt somit bildlich Selbigkeit als Beständigkeit einerseits, Herbeikommen von anderem und immer anderem andererseits. Das Werden zerstört die Konstanz nicht, es ist vielmehr eine notwendige Bedingung dafür.
Andere Interpreten sehen in den Flussbildern eine Metapher für die Zeit, deren unwandelbarer periodischer Übergang von Tag und Nacht, Sommer und Winter vom gleichbleibenden Flussbett symbolisiert wird; wie die fließenden Wasser geht sie dahin, ohne die höher stehende konstante Ordnung zu verlassen. Die so gedeutete Zeitvorstellung vereinigt das lineare Zeitbild des ständig fortlaufenden Stromes mit periodischen Elementen, die in den topographischen Konstanten des Flusses enthalten sind. Die Beständigkeit des Flusslaufes und die Ruhelosigkeit seines Fließens, das heißt die Kombination von Konstanz und Variabilität, stellt zudem ein Beispiel für die Einheit der Gegensätze dar, die ein weiteres Kernelement der heraklitischen Lehre bildet.
Heraklit betrachtet die Erfahrungswelt des Menschen als ein Ganzes von Gegensätzen, die ineinander umschlagen und sich von einem Pol zum anderen wandeln. Die Gegensatzpaare folgen dabei nicht nur einem äußerlichen Prozess, sondern sind als Gegensätze schon ineinander verschränkt. Das Umschlagen der Gegensätze geschieht dabei wohl gemäß Streit und Schuldigkeit im Spannungsverhältnis der jeweiligen Bezugspole. So stellt Heraklit etwa Tag und Nacht einander gegenüber: Sie schlagen ineinander um, indem der Tag sich in der Abenddämmerung dem Ende zuneigt und damit das Einsetzen der Nacht bedingt. Im gegenläufigen Prozess der Morgendämmerung geht aus dem Rückgang der Dunkelheit der Tag wiederum hervor.
Die Pole eines Gegensatzes sind nur im Kontrast zueinander überhaupt erfahrbar und daher zeitlich nicht getrennt, sondern bestehen in Form einer logischen wechselseitigen Verschränkung zugleich. Wesentlich durch den jeweiligen Gegensatz sind manchen Fragmenten Heraklits zufolge einzelne Begriffe definiert, denn erst Krankheit macht die Gesundheit angenehm, Übel das Gute, Hunger den Überfluss, Mühe die Ruhe; Götter werden erst im Kontrast zu Menschen denkbar. Gerade im Gegensatz zeigt sich somit Einheit in Form der Zusammengehörigkeit des Verschiedenen.
Etwas anders gewendet ist die von den Vielen verkannte Einheit des scheinbar Gegenteiligen in diesem Fragment: Sie verstehen nicht, wie das Auseinandergehende mit sich selbst zusammengeht: gegenteilige Zusammenfügung wie von Bogen und Leier.
Das gemeinsame Merkmal von Bogen und Leier besteht in den einander gegenüberliegenden Schenkeln eines rundgebogenen Holzes, zwischen denen eine oder mehrere Saiten gespannt sind. Obwohl die jeweiligen Enden auseinander streben, bilden sie doch in beiden Fällen eine funktionsgerichtete Einheit. Andere Fragmente nennen als Beispiele von sich zur Einheit fügenden Gegensatzpaaren etwa den Kreis, auf dem Anfang und Ende zusammenfallen, oder die identische Strecke beim Auf- und Abstieg. In einem weiteren Fragment weist Heraklit auf die gegensätzliche Bedeutung des Meerwassers hin, das für Fische die Lebensgrundlage, für Menschen jedoch ungenießbar und tödlich ist. Zugespitzt begegnet dieser Gedanke in diesem Fragment:
Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches wie Schlafendes, Junges wie Altes. Das eine schlägt um in das andere, das andere wiederum schlägt in das eine um.
Der Begriff Kosmos steht auch im vorphilosophischen Sprachgebrauch bereits im Gegensatz zur Unordnung. Grundsätzlich kann er jede Art von Aufstellung, beispielsweise eines Heeres, oder von Gestaltung, etwa einer Sozialordnung, bezeichnen; seit den Milesiern steht der Ausdruck im philosophischen Sinn speziell für die Ordnung der Welt als eines harmonischen Ganzen. Heraklits Kosmologie ist nur schwer zu rekonstruieren. Jedenfalls spielt in seiner Vorstellung von der kosmischen Ordnung die Feuer-Theorie eine maßgebliche Rolle. In einem Fragment entwickelt Heraklit diese Theorie abseits der traditionellen Göttervorstellungen, wobei er von der Annahme eines Weltfeuers ausgeht. In einem andern Fragment knüpft er daran an und beschreibt den Kosmos wie folgt:
Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen erlöschend. Feuers Wandlungen: erstens Meer, die Hälfte davon Erde, die andere Glutwind. Das Feuer zerfließt als Meer und erhält sein Maß nach demselben Logos, wie es galt, ehe denn es Erde ward.
Heraklit sieht in einem Fragment den Kosmos als materielle Ausformung des Weltfeuers, nicht im Sinne eines Schöpfungsmythos geschaffen, sondern von ewigem Fortbestand. Das Weltfeuer selbst schlägt dabei einem Fragment zufolge materiell in andere Elemente um, aus denen sich der sichtbare Kosmos zusammensetzt. Dabei wird schrittweise das heiße und trockene Weltfeuer zunächst in sein Gegenteil verwandelt, in feuchtes und kaltes Wasser. Darin verlöscht das Weltfeuer gänzlich, sodass das Wasser in diesem Stadium das einzige kosmische Element darstellt. Später geht das Meer in andere gegenteilige Qualitäten über, teils in Erde und teils in Glutwind. Der Glutwind lässt die Gestirne als sichtbares Himmelsfeuer aus verdunstetem Wasser entstehen, das von der Erde aufsteigt, sich wie in einem umgestülpten Boot fängt und sich in Form der wahrnehmbaren Himmelskörper entzündet. Der gesamte Vorgang läuft auch in der umgekehrten Richtung ab. Dadurch entzündet sich das Feuer erneut und der Zyklus des Kosmosgeschehens kann neu einsetzen. Während aller Veränderungen bewahrt der Kosmos so wie der Fluss in den Fluss-Fragmenten ein Gleichgewicht der transformierten Anteile.
Indem Heraklits Lehre bestimmte Gestalten und Prozesse mit der Spannung von Gegensätzlichem und Gegenläufigem verbindet und in einem dynamischen Gleichgewicht aufgehoben sieht, erschließt sich auch sein metaphysisches Interesse am Feuer: Deshalb wurde das nach Maßen entflammende und nach gleichen Maßen verlöschende Feuer in Analogie zur bewegenden und belebenden Kraft der Psyche zu einem sinnlichen Symbol für einen in sich bewegten und geordneten Kosmos und für eine Natur, die sich selbst individuell organisierte und gestaltete. - Das aus dem Mythos geläufige Bild von der Sonne als kreisförmig sich bewegendem Feuerball konnte als sichtbares Zeichen einer unermesslichen Kraftquelle gedeutet werden, die gleichwohl an sich hielt, und ohne die das kosmische und terrestrische Geschehen nicht zu begreifen war.
Feuer, das in der Tradition der ionischen Naturphilosophen als Urstoff fungiert, ist bei Heraklit auch als Metapher für den Logos zu verstehen, dessen Dynamik die Welt durchwaltet und dessen Wandlung ihr Seinsprinzip bildet. So charakterisiert er das Feuer als ewig lebendig und vernünftig. Heraklits Feuer-Theorie steht außerdem auch für die Vorstellung, dass sich alles in Einem finde, da aus allem Feuer und aus Feuer alles andere hervorgehen soll. Feuer als die kosmologisch-physikalische Form des Logos anzusehen sei denen unmittelbar einsichtig, die im Logos ein aktiv wirkendes Prinzip sehen: Wie das Feuer habe auch der Logos das Weltgeschehen zu steuern.
Der heraklitische Logos hat einen universalen, allgemeingültigen Charakter und steht allen Menschen als gemeinsame Denkform und Denkverfahren offen. Somit beinhaltet er sowohl einen objektiven Bedeutungsgehalt als Regelungsprinzip im Sinne eines Weltgesetzes, einer Weltvernunft oder eines Sinns als auch einen subjektiven und allgemeineren wie Wort, Rede, Darlegung, Lehre. Dadurch ist Heraklits Vortrag auch sprachlich eng mit dem Inhalt dieses Begriffs verbunden. Dieser Logos ist nach Heraklit aufgrund seiner Allgemeinheit erfahrbar wie auch in den eigenen Worten Heraklits vermittelt. Denken im heraklitischen Sinne hat daher Erkenntnis und Vollzug des Logos zum Ziel. Dennoch verlieren sich die meisten Menschen in eigenen Meinungen, ohne den allen gemeinsamen Logos begreifen zu wollen. Ob der Logos aber tatsächlich erkannt wird, ist für Heraklit nicht entscheidend, da er stets außerhalb des menschlichen Verstandes existiert und in Übereinstimmung mit ihm alle Prozesse verlaufen, wodurch im Logos alles eins ist:
Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen haben. Alles geschieht nach diesem Logos, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie es sich damit verhält.
Darum ist es Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon der Logos allen gemein ist, leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.
Habt ihr nicht mich, sondern meinen Logos vernommen, ist es weise zuzugestehen, dass alles eins ist.
Ähnlich dem Kosmos ist auch die Seele vom Logos bestimmt und unterliegt vergleichbaren Umwandlungsprozessen. Da die Seele Anteil am Logos besitzt und dieser sie als überindividuelles, allen gemeinsames und ewiges Gesetz beherrscht und durchwirkt, kann er durch Selbsterforschung erfahren werden. Damit weist Heraklit der Seele eine gewisse intellektuelle Funktion zu, die weit über den älteren Sinn des Wortes hinausgeht. Allerdings ist eine Barbarenseele nicht fähig, den Logos unverfälscht wahrzunehmen. Das Verständnis des überindividuellen und ewigen Gesetzes des Logos beginnt somit in der individuellen Seele, deren Gestalt, Umfang oder Potential zu bestimmen oder auszuloten sich aber als vergeblich erweisen muss:
Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund hat sie.
Der Seele ist der Logos eigen, der sich selbst mehrt.
Die Seelenlehre Heraklits lässt sich aus den wenigen einschlägigen Fragmenten nicht exakt erschließen; doch ergibt sich daraus, dass die Seele den gleichen Umschlagprozessen wie der Kosmos unterworfen ist. So wird die Seele in das gleiche zyklische Verhältnis zu den Elementen Erde und Wasser gesetzt, in dem laut einem Fragment das kosmische Weltfeuer zu den übrigen Elementen steht:
Für die Seelen ist es Tod, zu Wasser zu werden, für das Wasser Tod, zur Erde zu werden. Aus der Erde wird Wasser, aus Wasser Seele.
Dieses Fragment behandelt die Seele zwar als sterblich; da Heraklit sie jedoch zum Weltfeuer, das trotz des Umwandlungsgeschehens in seiner Gesamtheit unvergänglich ist, in Analogie setzt, scheint er ihr auch einen Unsterblichkeitsaspekt zuzuweisen. Einigen Interpreten zufolge spricht Heraklit der Seele nur in jenem Maße Unsterblichkeit zu, in dem sie sich dem Denken und damit dem Logos zuwendet, eine bedingte Unsterblichkeit gewissermaßen. Für diese Deutung sprechen einige Fragmente. Möglicherweise lehrte Heraklit ähnlich wie Hesiod, dass die Tapferen nach dem Tode mit einem neuen Leben als heroische Wächter über die Lebenden belohnt werden. Darauf spielen vielleicht einige Fragmente an, die einem ehrenvollen Leben einen unsterblichen Lohn verheißen. Andere Interpreten meinen, dass die Seelen der Besten im Gegensatz zu denen der Vielen nicht in Wasser aufgelöst werden, sondern zunächst als körperlose Geister bestehen bleiben, bevor sie im Weltfeuer aufgehen. Eine abschließende Antwort auf diese Frage ist jedoch kaum möglich.
Die theologischen Aussagen der erhaltenen Fragmente Heraklits lassen sich kaum zu einer kohärenten Lehre vereinen. Daher eröffnet sich in der Heraklit-Forschung ein weites Spektrum oft konträrer Deutungen der heraklitischen Theologie; bisweilen wird Heraklits Philosophie als radikale Kritik einer überkommenen Religion gesehen, andere Interpreten deuten sein Denken als eine Bestätigung und Artikulation der religiösen Überlieferung. Zu berücksichtigen ist dabei der Hintergrund seiner Unterscheidung von außerphilosophischer Ansicht und tieferer Einsicht; die Einsicht hat er möglicherweise als Zurückführung der Überlieferung auf ihre Wahrheit aufgefasst.
Heraklits Gottesvorstellung oder Götterbild wird in den überlieferten Fragmenten vor allem in Verhältnisgleichungen mit den Größen Affe, Kind, Mann und Gottheit fassbar:
Der schönste Affe ist hässlich mit dem Menschen verglichen.
Der weiseste Mensch wird, gegen Gott gehalten, wie ein Affe erscheinen in Weisheit, Schönheit und allem andern.
Kindisch heißt der Mann der Gottheit, wie der Knabe dem Manne.
Das Geschlecht der Menschen kommt nie zu wirklichen Einsichten, wohl aber das der Götter.
Wie ein menschenähnlicher Affe hinter dem Menschen zurückbleibt, wird am Maßstab der göttlichen Weisheit selbst das relativiert, was dem Menschen als im höchsten Maße weise gilt, und stößt an seine Grenze; jedoch leugnet Heraklit damit nicht die Existenz Gottes oder mehrerer Götter. Weitere Einschätzungen des Verhältnisses von Göttern und Menschen enthalten die beiden folgenden Fragmente:
Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.
Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: Sie leben den Tod jener, und das Leben jener sterben sie.
Die transitive Verwendung von leben und sterben deutet an, dass Heraklit das gesamte Leben als Sterben auffasst, wobei die menschliche Sterblichkeit zur göttlichen Unsterblichkeit in Kontrast tritt, sie als ihr Gegenteil erst bedingt und damit vollzieht oder erst denkbar macht. Das eigentliche Verhältnis von Gott und Mensch zeigt sich in diesem Verständnis des einen Status verleihenden Kampfes, aus dem sich der Rangunterschied zwischen Göttern und Menschen ergibt: Offenbar lassen sich diese Gruppen nur durch ihr unterschiedliches Verhältnis zu dem Tod, mit dem sie im Kampfe konfrontiert werden, unterscheiden. Die Götter gehen aus dem Kampfe als die wesenhaft vom Tode nicht Betroffenen hervor; die Menschen hingegen erweisen sich als die Sterblichen. Daher findet auch jede Erkenntnis des Menschen an seiner Sterblichkeit ihre Grenze und unterscheidet sich somit von göttlicher Weisheit, mit der sie Heraklit generell parallelisiert oder zumindest vergleicht.
Wenngleich der heraklitische Gottesbegriff oft in unbestimmter Weise formuliert ist, führt doch ein weiteres Fragment zu einem konkreteren Verständnis der Theologie Heraklits:
Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluss und Hunger. Er wandelt sich aber wie eine Substanz, die, wenn sie mit Duftstoffen vermengt wird, nach dem jeweiligen Duft benannt wird.
Mancher sieht in diesem Fragment einen Ausdruck des typisch griechischen Gottesbildes als Prädikatsbegriff, also der Vorstellung, dass das Göttliche unterschiedliche Situationen durchdringt und sich dadurch für den Menschen erfahrbar macht, wodurch Tag und Nacht und andere lebensweltliche Umstände jeweils zu dem Gott werden. Diese sind dabei Erscheinungsweisen des einen Gottes, der als Substrat unverändert bleibt, jedoch in einer anderen Situation erscheint und durch unterschiedliche Wahrnehmungsweisen aufgefasst wird. Die Pluralität der jeweiligen Göttergestalten beruht daher auf der Erfahrung des einen Gottes in vielfältigen Situationen, indem das Göttliche selbst gerade in seiner Differenz und Überlegenheit, die sich aus den menschlichen Eigenschaften ergibt, erfahren wird.
Aus zahlreichen Fragmenten geht hervor, dass Heraklit Weisheit äußerst elitär auffasst; in vollkommener Form schreibt er sie nur den Göttern zu. Das allein Weise ist das höchste Denkbare; sein Rang ist allenfalls der herausragenden Stellung des Zeus in der griechischen Volksreligion vergleichbar. Theoretisch ist es zwar allen Menschen gegeben, sich selbst zu erkennen und klug zu sein, doch gelingt es nur den wenigsten, tatsächlich Weisheit zu erlangen:
Das Weise ist nur eins. Es will sich nicht mit dem Namen des Zeus nennen lassen – und will es doch.
So viele Reden ich gehört habe, keine kommt je so weit zu erkennen: das Weise ist von allem geschieden.
Bei seiner Kritik falsch verstandener Weisheit wendet sich Heraklit auch gegen bekannte Persönlichkeiten; so wirft er Hesiod, Pythagoras, Xenophanes und Hekataios vor, ohne Verstand lediglich Vielwisserei betrieben zu haben, statt zu wahrem Wissen vorzudringen. Zwar bescheinigt er seinem Zeitgenossen Pythagoras, mehr Studien betrieben zu haben als irgendein anderer Mensch; jedoch beschuldigt er ihn der Künstelei und nennt ihn spöttisch einen Oberschwindler. Den Lehrer der meisten, Hesiod, trifft die Kritik, die elementare Einheit der Gegensätze Tag und Nacht nicht erkannt zu haben. Ein Lob spendet Heraklit neben Hermodoros einzig dem Staatsmann Bias von Priene, mit dem er die Geringschätzung der breiten Masse teilt. Ein auf Bias gestütztes Zitat findet sich in einem Fragment, in dem Heraklit polemisch über die Aöden und späteren Rhapsoden spottet:
Denn was ist ihr Sinn oder Verstand? Straßensängern glauben sie, und zum Lehrer haben sie den Pöbel. Denn sie wissen nicht, dass die meisten schlecht und nur wenige gut sind.
Insbesondere von Homer distanziert sich Heraklit scharf. Der Dichter habe es ebenso wie Archilochos verdient, aus musischen Wettbewerben hinausgeworfen und verprügelt zu werden. Diese Polemik setzt unter anderem am Ilias-Vers „Schwände doch jeglicher Zwiespalt unter Göttern und Menschen“ an, welcher der heraklitischen Konzeption des Kampfes zuwiderläuft. Während Homer die Befriedung streitender Parteien für wünschenswert hält, ist für Heraklit der Kampf ein notwendigerweise immerwährender, das Dasein konstituierender Prozess, dessen Missachtung als Torheit erscheint.

 

 

VIERTES KAPITEL

EMPEDOKLES
Empedokles entwickelt seine Philosophie in Auseinandersetzung mit dem Denken des Parmenides, den er aber in seinen Versen nicht nennt. Den Kern seiner Weltdeutung bildet die Konzeption eines ewigen Kreislaufs. Die Naturlehre, die er vorlegt, ist der philosophische Ausdruck des mythischen Weltbilds, zu dem er sich bekennt. In das naturphilosophische System eingebettet ist eine von religiösem Erlösungsstreben geprägte Ethik.
Umstritten ist die Frage nach der Einheitlichkeit von Empedokles’ Lehre oder nach einer möglichen Entwicklung seines Denkens, deren Etappen sich in den beiden erhaltenen Gedichten spiegeln.
Zur Zeit des Empedokles lagen in der griechischen Philosophie zwei gegensätzliche Weltdeutungen vor, die Lehre des Parmenides und die Heraklits. Parmenides billigt nur dem Unentstandenen, Vollkommenen und Unveränderlichen Wirklichkeit zu, da er Sein und Entstehen für unvereinbar hält. Für Heraklit sind Sein und Werden unauflöslich verknüpft und bedingen einander.
Empedokles bemüht sich um eine Lösung, die beide Ansätze integriert. Er akzeptiert das Werdende und Vergehende als real, hält aber zugleich an dem Konzept eines keiner Veränderung unterworfenen Seins fest. Träger des Seins sind für ihn die vier Urstoffe Feuer, Wasser, Luft und Erde. Damit wird er zum Begründer der Vier-Elemente-Lehre, doch bezeichnet er die Urstoffe nicht mit dem später gängigen Begriff Elemente, sondern nennt sie Wurzeln. Die Urstoffe sind qualitativ und quantitativ absolut unveränderlich und erfüllen den gesamten Raum lückenlos; ein Vakuum kann es nicht geben. Sie sind unentstanden und unvergänglich und können sich auch nicht ineinander umwandeln. Sie sind also nicht auf einen einzigen Urstoff oder ein Urprinzip zurückführbar, sondern gleichrangig. Damit erfüllen sie die Kriterien eines als Gegensatz zum Werden aufgefassten Seins. Es gibt keine Entstehung aus dem Nichts und keine absolute Vernichtung. Die vier Urstoffe weisen die gleiche konstante Gesamtmasse auf. Alles, was von einem Betrachter als Veränderung wahrgenommen wird, beruht auf dem Positionswechsel kleiner Stoffteilchen, der die jeweils an einem Ort gegebenen Mischungsverhältnisse der Urstoffe ändert. Die Änderung der Mischung manifestiert sich als Wandel der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften physischer Objekte. Mit dieser Theorie hat Empedokles erstmals das Konzept des Aufbaus der gesamten physischen Welt aus einer beschränkten Zahl von stabilen Elementen in die Naturphilosophie eingeführt. Ob er die Urstoffe für beliebig teilbar hielt oder von kleinsten Mengeneinheiten ausging, ist aus den erhaltenen Fragmenten seines Lehrgedichts nicht ersichtlich.
Die Lehre von den vier Urstoffen verbindet Empedokles mit der griechischen Mythologie, indem er die Stoffe den Gottheiten Zeus, Hera, Hades und Nestis zuordnet. Bei Nestis handelt es sich unzweifelhaft um die Wassergottheit; Empedokles hat sie anscheinend mit Persephone identifiziert. Die Zuweisung der drei übrigen Elemente geht aus den erhaltenen Fragmenten von Empedokles’ Dichtung nicht klar hervor und ist strittig. Im Altertum wurde nicht bezweifelt, dass mit Zeus der Feuergott gemeint ist; unklar war nur, ob Hera für die Luft und Hades für die Erde steht oder umgekehrt.
Auch bei der Bestimmung der Ursachen für den Ortswechsel von Stoffteilchen, auf den Empedokles jede Veränderung zurückführt, greift er auf ein mythisches Konzept zurück. Er nimmt zwei einander entgegenwirkende bewegende Kräfte an, eine anziehende und vereinigende und eine abstoßende und trennende. Die vereinigende Kraft nennt er Liebe, Freundschaft, die trennende Streit. Sie streben unablässig danach, einander zu verdrängen. Aus ihrem endlosen wechselhaften Kampf resultieren alle Vorgänge im Universum einschließlich der menschlichen Schicksale.
Mit diesem System hebt Empedokles den für Parmenides grundlegenden Unterschied zwischen dem Wirklichen, unveränderlich Seienden und der trügerischen Erscheinungswelt des Vergänglichen auf. Für ihn ist die Welt in ihrer Gesamtheit das Wirkliche, und diese Wirklichkeit ergibt sich aus den sechs Prinzipien (vier Urstoffe und zwei Kräfte) und deren Funktionszusammenhang.
Während die vier Urstoffe als solche qualitativ und quantitativ unveränderlich sind, unterliegt der Einfluss der bewegenden Kräfte Liebe und Streit im Lauf der Zeit starken Veränderungen. Dabei handelt es sich um einen zyklischen Wandel. Wenn die Macht der Liebe in der Welt ihre höchste Entfaltung erreicht hat, ergibt sich ein Höchstmaß an Vereinigung, die stärkste Durchmischung der Elemente und damit die größte erreichbare Homogenität der Welt. Der Kosmos befindet sich in einem Ruhezustand. Die überall gleichmäßig vermischten Elemente bilden eine einheitliche göttliche Kugel (Sphäros); der Streit ist bis an den äußersten Rand des Universums abgedrängt. Die Homogenität der Kugel ist aber nicht absolut, da jedes der Elemente sein Eigendasein in der Mischung bewahrt. Mit der Vorstellung eines kugelförmigen Gottes Sphäros – die Kugel galt wegen der Kugelsymmetrie als vollkommener Körper – wendet sich Empedokles gegen anthropomorphe Gottesvorstellungen. Der Kugelgott, der mit dem All in dessen Ruhezustand identisch ist, ist ein fühlendes Lebewesen; er freut sich über seine Einheit. Dieser von der Liebe erzeugte Idealzustand der Welt kann aber nur zeitweilig bewahrt werden. Dann muss ein Umschwung eintreten: Die verdrängte Macht des Streits beginnt zu erstarken, sie nimmt von der Peripherie her kontinuierlich zu und bewirkt eine zunehmende Trennung der Elemente. Graduell gewinnt die Trennungskraft die Oberhand und erlangt schließlich ihre höchstmögliche Macht, wenn die vier Elemente in vier homogene, konzentrisch umeinander geschichtete Massen getrennt sind, die rasch rotieren. Dieser Zustand, mit dem die Verdrängung der Liebe ihr Maximum erreicht hat, bleibt eine bestimmte Zeit lang stabil. Dann kommt es zwangsläufig erneut zum Umschwung. Die in die Mitte des Universums zurückgedrängte Liebe macht sich von dort aus wieder bemerkbar, verdrängt den Streit nach außen und sorgt für zunehmende Vermischung der Elemente und Verlangsamung ihrer Bewegung. Dieser Kreislauf vollzieht sich nach einer unabänderlichen Gesetzmäßigkeit der Natur.
Aus dem Kreislauf ergibt sich die Geschichte des Universums, in der sich somit vier Phasen unterscheiden lassen: die Periode der Vorherrschaft der Liebe, die Periode der zunehmenden Macht des Streits, die Periode der Vorherrschaft des Streits und die Periode der zunehmenden Macht der Liebe. Empedokles ordnet seine eigene Epoche der zweiten Phase zu, in welcher die trennende und die vereinende Kraft miteinander ringen und der Streit die Oberhand gewinnt. Auf diese Phase des Zyklus geht er ausführlich ein. Aus der Interaktion zwischen der zurückweichenden Liebe und dem vordringenden Streit ist phasenweise der gegenwärtige Kosmos mit seiner Vielfalt verschiedenartiger Phänomene entstanden. Der Trennungsvorgang hat damit eingesetzt, dass zunächst Luft, die Empedokles Äther nennt, durch eine zentrifugale Wirbelbewegung abgesondert und an die Oberfläche der Weltkugel getrieben wurde. Dort bildete sie eine durchsichtige Umhüllung. Dann trennte sich in der Kugel ein heller, vom Feuer geprägter Außenbereich von einem dunklen inneren mit eingesprengten Feuerteilchen. In der Mitte des dunklen Innenbereichs bildete sich die von Feuchtigkeit durchdrungene Erde. Danach sonderten sich Erde und Wasser voneinander ab, indem das Wasser aus der Erde hervorsprudelte. Schließlich löste sich aus dem Wasser Luft und stieg auf; so entstand die irdische Atemluft. Damit hat die Welt ihre den Menschen vertraute Gestalt erreicht.
Bei den leuchtenden Himmelskörpern handelt es sich um örtliche Zusammenballungen des Feuerstoffs. Dazu gehört die Sonne, deren Licht vom Mond reflektiert wird. Die Behauptung des Doxographen Aetios, Empedokles habe das Sonnenlicht als Reflexion eines von der feurigen Hemisphäre des Kosmos ausgehenden Lichts aufgefasst, beruht auf einem Missverständnis.
Ein Sonderaspekt des kosmischen Prozesses ist die Entstehung der belebten Körper, die Empedokles mit seiner phylogenetischen Theorie beschreibt. Die Lebewesen fasst er wie alle physischen Objekte als Gemische aus den vier Elementen auf. Die Unterschiede zwischen den Arten und den Individuen ergeben sich im Rahmen seiner Theorie aus der Verschiedenheit der jeweiligen Mischungsverhältnisse. Aus der feuchten Erde bildeten sich unter der Einwirkung der verbindenden Liebeskraft die ersten Pflanzen und Tiere. Anfangs entstanden keine ganzen Tiere, sondern nur einzelne Bestandteile von Tierkörpern, die sich zu unförmigen Gebilden vereinigten, welche unstabil waren und zerfielen. Später formten sich zweckmäßig aufgebaute Organismen, die aber zunächst noch nicht über Geschlechtsorgane verfügten. Erst in der letzten Phase kam es zur geschlechtlichen Differenzierung. Dem Zufall weist Empedokles eine wichtige Rolle bei diesen Vorgängen der biologischen Evolution zu.
Die künftige restlose Trennung der Elemente durch den unausweichlichen Sieg des Streits muss zur Vernichtung aller belebten Körper führen, ebenso wie auch in der Phase der völligen Dominanz der Liebe und Durchmischung der Elemente kein individuelles Leben mehr möglich ist.
Einzelnen biologischen Funktionen wendet sich Empedokles mit großem Interesse zu. Unter anderem erörtert er Zeugung, embryonale Entwicklung, Atmung und Sinneswahrnehmung. Das Denken und die Einsicht lokalisiert er hauptsächlich im Blut, das sich in der Umgebung des Herzens befindet, denn im Blut sei die von der Liebe bewirkte Durchmischung der Urstoffe am stärksten. Die Sinneswahrnehmung erklärt er nach dem Prinzip des Erfassens von Gleichem durch Gleiches; da die Sinnesorgane aus den gleichen Elementen bestehen wie die Wahrnehmungsobjekte, können sie diese adäquat abbilden. Dazu ist ein körperlicher Kontakt erforderlich; materielle Ausströmungen der Wahrnehmungsobjekte erreichen die Wahrnehmungsorgane und treten durch Poren in den Körper des Wahrnehmenden ein. Die Art der Sinneswahrnehmung hängt von der Größe der Poren des Sinnesorgans ab, die jeweils einer bestimmten Art von Ausströmung des Wahrnehmungsobjekts angepasst ist. Sind die Poren für bestimmte Partikel zu klein, so ist deren Einströmen unmöglich, sind sie zu groß, so kommt es beim Einströmen nicht zum erforderlichen Kontakt. Hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit der von den Sinnesorganen vermittelten Informationen verwarf Empedokles die radikal ablehnende Position des Parmenides und entschied sich für den gemäßigten Standpunkt, man solle den Sinnen vertrauen, insoweit die von ihnen gelieferten Daten klar seien.
Seine Theorie der Atmung veranschaulicht Empedokles durch einen Vergleich mit einem Wasserheber. Er erklärt die Atmung durch Bewegungen des Bluts. Indem das Blut sich zurückzieht, gibt es der Luft Raum und lässt sie dadurch einströmen. Strömt die Luft aus, nimmt das Blut wieder ihren Platz ein. So entsteht der Wechsel von Ein- und Ausatmen. 
Empedokles ist der Überzeugung, dass sich Unrecht und Gewalttaten an ihren Urhebern rächen. Dies geschieht im Rahmen der Reinkarnation, der hier die Funktion einer Strafe zukommt. Das schuldig gewordene Individuum erleidet in aufeinanderfolgenden Leben schlimme Schicksale. Mit dieser Lehre knüpft Empedokles an ein orphisches und pythagoreisches Konzept an. Allerdings kann hier nicht von Seelenwanderung gesprochen werden, denn der später zur Bezeichnung der Seele geläufige Begriff Psyche kommt bei Empedokles nur an einer einzigen Stelle vor und hat dort eine andere Bedeutung (Leben). Wie sich Empedokles im Rahmen seiner Lehre von den Urstoffen das Ich als Träger einer über den Tod hinaus fortdauernden individuellen Existenz vorgestellt hat, ist unklar.
Am Anfang eines irdischen Daseinszyklus steht für Empedokles eine schwere Verfehlung der betreffenden Person, die ursprünglich ein seliger Gott war und als Dämon bezeichnet wird. Der Übeltäter muss die Götterwelt verlassen und wird zur Strafe auf die Erde in ein langes Exil geschickt. Dort muss er eine Reihe von Leben mit unterschiedlichen Körpern durchlaufen. Dieses Schicksal nimmt der Ich-Erzähler auch für sich selbst an:
Es gibt einen Spruch der Notwendigkeit, einen alten Beschluss der Götter, ewig, mit breiten Schwüren besiegelt: Wenn jemand sich verfehlt und seine Glieder mit dem Blut von Verwandten befleckt, dann soll er sich dreimal zehntausend Jahre weit entfernt von den Glückseligen herumtreiben, sich im Laufe dieser Zeit zu allerlei Gestalten sterblicher Lebewesen entwickeln und immer einen mühseligen Lebensweg für einen anderen eintauschen. Zu diesen gehöre auch ich jetzt, bin ein aus dem göttlichen Bereich Verbannter und ein Landstreicher, da ich rasendem Hass mein Vertrauen geschenkt habe.
An dem ungewohnten Ort des Elends wird der Verbannte mit einer fremdartigen Hülle aus Fleisch umkleidet; er weint, klagt und irrt umher, denn er gehört nun zum bejammernswerten Geschlecht der Sterblichen, wo Mord und Groll an der Tagesordnung sind.
Es besteht jedoch Aussicht auf Erlösung. Anscheinend schilderte Empedokles in einer verlorenen Passage der Reinigungen, wie Lebewesen durch verschiedene Daseinsformen aufsteigen können; auf pflanzliche können tierische und auf diese menschliche Leben folgen. Innerhalb der menschlichen Daseinsform gibt es ebenfalls eine Vervollkommnung von einem Leben zum nächsten. Diese Entwicklung setzt sich folgerichtig in einen übermenschlichen Bereich hinein fort:
Am Ende aber werden sie Seher, Dichter, Ärzte und Fürsten für die auf Erden lebenden Menschen; von da aus wachsen sie empor zu Göttern, die in höchsten Ehren stehen, die den anderen Unsterblichen Hausgenossen sind und den Tisch mit ihnen teilen, ohne Anteil an menschlichen Leiden und unverwüstlich.
Empedokles schildert auch einen einstigen harmonischen, konfliktfreien Idealzustand der Menschheit und ihrer Umwelt in einer Epoche, als die ständig wachsende Macht des Streits noch geringer war. Damit knüpft er an die Vorstellung des von Hesiod beschriebenen vergangenen Goldenen Zeitalters an. Die traditionelle, von Hesiod überlieferte Auffassung, wonach der Gott Kronos im Goldenen Zeitalter der Herrscher war, lehnt Empedokles jedoch ausdrücklich ab. Er schreibt, damals habe nicht Zeus oder Kronos oder Poseidon regiert, sondern die Liebesgöttin Kypris (Aphrodite). Die Tieropfer, die Empedokles verabscheut, habe es damals nicht gegeben; das Töten und der Verzehr von getöteten Tieren sei als die größte Befleckung betrachtet worden.
Da der naturgemäße Urzustand für Empedokles mit völliger Enthaltung vom Blutvergießen und vom Verzehr getöteter Tiere verbunden ist, ruft er eindringlich zur Gewaltlosigkeit auch gegenüber der Tierwelt auf.
Mit Begeisterung verkündet Empedokles seine Botschaft von der möglichen Rückentwicklung des Menschen zum Gott, welcher der verbannte Dämon einst war, bevor er aus dem Reich der Glückseligen vertrieben wurde. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Verwirklichung dieses Ziels im Rahmen des zyklischen Weltbilds des Naturgedichts nicht die Erlangung eines endgültigen, ewigen Zustands bedeuten kann. Auch die Götter sind bei Empedokles vergänglich. Ihre Unsterblichkeit ist für ihn nicht wie für Homer ein ewiger Zustand, sondern befristet; das Unsterbliche kehrt wieder in den Zustand der Sterblichkeit zurück. In einem begrenzten, geschlossenen System, das auf der ewigen Wiederholung eines gesetzmäßigen Kreislaufs beruht, muss notwendigerweise auf Liebe Streit und auf jeden Aufstieg ein Abstieg folgen.

FÜNFTES KAPITEL
SOKRATES
Was bliebe von dem Philosophen Sokrates ohne die Werke Platons? Eine interessante Figur des Athener Lebens im fünften Jahrhundert, kaum mehr; nachrangig vielleicht gegenüber Anaxagoras, bestimmt gegenüber Parmenides und Heraklit. Platons zentrale Stellung als Quelle Sokratischen Denkens birgt das Problem einer Abgrenzung zwischen beider Vorstellungswelten, denn Platon ist in seinen Werken zugleich als eigenständiger Philosoph vertreten. In der Forschung besteht eine weitgehende Übereinstimmung darin, dass die frühen platonischen Dialoge dessen Philosophie am deutlichsten spiegeln und dass die Eigenständigkeit der Philosophie Platons in seinen späteren Werken ausgeprägter hervortritt.
Zu den Kernbereichen Sokratischen Philosophierens gehören neben dem auf Dialoge gegründeten Erkenntnisstreben die Bestimmung des Guten als Handlungsrichtschnur und das Ringen um Selbsterkenntnis als wesentliche Voraussetzung eines gelingenden Daseins. Das Bild des in den Straßen Athens von morgens bis abends Gespräche führenden Sokrates ist zu erweitern um Phasen völliger gedanklicher Versunkenheit, mit denen Sokrates seinen Mitbürgern ebenfalls Eindruck machte. Für diesen Wesenszug steht als Extrem Alkibiades’ Schilderung eines Erlebnisses in Potideia, die in Platons Symposion enthalten ist:
Damals auf dem Feldzug stand er, in irgendeinen Gedanken vertieft, vom Morgen an auf demselben Fleck und überlegte, und als es ihm nicht gelingen wollte, gab er nicht nach, sondern blieb nachsinnend stehen. Inzwischen war es Mittag geworden; da bemerkten es die Leute, und verwundert erzählte es einer dem anderen, dass Sokrates schon seit dem Morgen dasteht und über etwas nachdenkt. Schließlich, als es schon Abend war, trugen einige von den Ioniern, als sie gegessen hatten, ihre Schlafpolster hinaus; so schliefen sie in der Kühle und konnten gleichzeitig beobachten, ob er auch in der Nacht dort stehen bleibe. Und wirklich, er blieb stehen, bis es Morgen wurde und die Sonne aufging. Dann verrichtete er sein Gebet an die Sonne und ging weg.
Die Sokratische Gesprächsführung wiederum stand in deutlichem Zusammenhang mit erotischer Anziehung. Der Eros als eine der Formen platonischer Liebe, im Symposion vorgestellt als großes dämonisches Wesen, ist der Mittler zwischen Sterblichen und Unsterblichen. er Name des Eros steht für die den Bereich des Menschlichen übersteigende Bewegung der Philosophie. Sokrates kann am besten philosophieren, wenn er durch die ganz und gar unsublimierte Schönheit eingenommen ist. Das Sokratische Gespräch vollzieht sich nicht nach einmal gelungenem Aufstieg auf jener unsinnlichen Höhe, wo nur noch die Ideen als die Schönheit erscheinen; vielmehr vollzieht es in sich immer wieder die Bewegung von der menschlichen zur übermenschlichen Schönheit und bindet die übermenschliche Schönheit dialogisch an die menschliche Schönheit zurück.
Ich weiß, dass ich nicht weiß, so lautet eine bekannte, aber stark verkürzende Formel, mit der verdeutlicht wird, was Sokrates seinen Mitbürgern voraushatte. Es ist die Einsicht des Sokrates in sein philosophisches Nichtwissen zugleich der Schlüssel zu Gegenstand und Methode Sokratischer Philosophie: Im Sokratischen Reden und Denken liegt erzwungener Verzicht, ein Verzicht, ohne den es keine Sokratische Philosophie gäbe. Diese entsteht nur, weil Sokrates im Bereich des Wissens nicht weiterkommt und die Flucht in den Dialog antritt. Sokratische Philosophie ist in ihrem Wesen dialogisch geworden, weil das forschende Entdecken unmöglich schien. Angeregt durch den Philosophen Anaxagoras hat Sokrates sich ursprünglich besonders für die Naturforschung interessiert und sich wie dieser mit der Ursachenfrage auseinandergesetzt. Er sei allerdings verunsichert worden, wie Platon im Phaidon ebenfalls überliefert, weil es keine eindeutigen Antworten gab. Die menschliche Vernunft hingegen, durch die alles, was wir über die Natur wissen, vermittelt werde, konnte Anaxagoras nicht erklären. Daher habe Sokrates sich von der Suche nach Ursachen ab- und dem auf Sprache und Denken beruhenden Verstehen zugewandt.
Ziel des Sokratischen Dialogs in der von Platon überlieferten Form ist die gemeinsame Einsicht in einen Sachverhalt auf der Basis von Frage und Antwort. Weitschweifige Reden über den Untersuchungsgegenstand akzeptierte Sokrates danach nicht, sondern bestand auf einer direkten Beantwortung seiner Frage: Im sokratischen Gespräch hat die sokratische Frage den Vorrang. Die Frage enthält zwei Momente: Sie ist Ausdruck des Nichtwissens des Fragenden und Appell an den Befragten, zu antworten oder sein eigenes Nichtwissen einzugestehen. Die Antwort provoziert die nächste Frage, und auf diese Weise kommt die dialogische Untersuchung in Gang. Durch Fragen also – und nicht durch Belehren  – sollte Einsichtsfähigkeit geweckt werden, eine Methode, die Sokrates, so Platon, als Mäeutik bezeichnet hat: eine Art geistige Geburtshilfe. Denn die Änderung der bisherigen Einstellung als Ergebnis der geistigen Auseinandersetzung hing davon ab, dass die Einsicht selbst erlangt oder geistig geboren wurde.
Der Erkenntnisfortschritt in den Sokratischen Dialogen ergibt sich in charakteristischer Abstufung: Im ersten Schritt suchte Sokrates dem jeweiligen Diskussionspartner klarzumachen, dass seine Lebensart und Denkungsart unzureichend seien. Um seinen Mitbürgern zu zeigen, wie wenig sie über ihre eigenen Ansichten und Einstellungen bisher nachgedacht hatten, konfrontierte er sie anschließend mit den unsinnigen und unangenehmen Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden. Der platonischen Apologie nach hat das Orakel von Delphi Sokrates die Prüfung des Wissens seiner Mitmenschen auferlegt. So umfasst der sokratische Dialog stets die drei Momente der Prüfung des anderen, der Selbstprüfung und der Sachprüfung. Bei dem von Sokrates begonnenen philosophischen Dialog handelt es sich um ein untersuchendes Verfahren. Die Widerlegung geschieht unvermeidlich nebenher. Sie ist nicht das Motiv.
Nach dieser Verunsicherung forderte Sokrates seinen Gesprächspartner zum Umdenken auf. Er lenkte das Gespräch unter Anknüpfung an den Erörterungsgegenstand hin auf die Frageebene, was das Wesentliche am Menschen sei. Sofern die Gesprächspartner den Dialog nicht bereits vorher abgebrochen hatten, kamen sie zu der Erkenntnis, dass die Seele als das eigentliche Selbst des Menschen so gut wie nur möglich sein müsse. Dies hänge davon ab, in welchem Maße der Mensch das sittlich Gute tue. Was das Gute ist, gilt es also herauszufinden.
Für die Dialogpartner zeigte Platon im Verlauf der Untersuchung regelmäßig, dass Sokrates, der doch vorgab nicht zu wissen, alsbald deutlich mehr Wissen zu erkennen gab, als sie selbst besaßen. Anfangs oft in der Rolle des scheinbar wissbegierigen Schülers, der seinem Gegenüber die Lehrerrolle antrug, erwies er sich zuletzt klar überlegen.
Seine Ausgangsposition wurde dadurch häufig als unglaubwürdig und unaufrichtig wahrgenommen, als Ausdruck von Ironie im Sinne von Verstellung zum Zweck der Irreführung. Manche halten es für ungewiss, dass Sokrates mit seinem Nichtwissen im Sinne der gezielten Tiefstapelei ironisch zu spielen begann. Sie unterstellen die Ernsthaftigkeit von dessen Bekundung im Grundsatz. Doch auch wenn es Sokrates um eine öffentliche Demontage seiner Gesprächspartner gar nicht ging, musste sein Wirken viele der von ihm Angesprochenen gegen ihn aufbringen, zumal auch des Sokrates Schüler sich in dieser Form des Dialogs übten.
Es trifft die Aussage Xenophons zu, dass Sokrates die Gesprächsführung auf die jeweiligen Gesprächspartner abstimmte, im Falle der Sophisten also auf die Widerlegung ihres vorgeblichen Wissens, im Falle seines alten Freundes Kriton aber auf ernsthafte Wahrheitssuche.
Diese vereinfachte Skizze Sokratischer Dialoge ist um ein weiteres charakteristisches Moment zu ergänzen. In der Überlieferung Platons leitet der Gang der Untersuchung oft nicht in gerader Linie von der Widerlegung vorgefasster Meinungen über zu einem neuen Wissenshorizont. In Platons Dialog Theaitetos werden beispielsweise drei Auffassungen von Wissen besprochen, ohne eine übereinstimmende Bewertung zu erzielen. Mitunter sind es nicht nur die Gesprächspartner, die in Ratlosigkeit verfallen, sondern, weil er selbst keine abschließende Lösung anzubieten hat, auch Sokrates. So zeigt sich nicht selten Verwirrtsein, Schwanken, Staunen, Abbruch des Gesprächs.
Ein besonders breites Untersuchungsspektrum entfalten sowohl Platon wie auch Xenophon in ihren der Gerechtigkeitsfrage gewidmeten Sokratischen Dialogen. Dabei wird Gerechtigkeit nicht nur als persönliche Tugend untersucht, sondern es werden auch soziale und politische Dimensionen des Themas angesprochen.
Im sogenannten Thrasymachos-Dialog, dem ersten Buch von Platons Politeia, sind es nacheinander drei Partner, mit denen Sokrates der Frage nachgeht, was gerecht und was Gerechtigkeit sei. Das Gespräch findet im Beisein zweier Brüder Platons, des Glaukon und des Adeimantos, im Hause des reichen Syrakusaners Kephalos statt, der sich auf Einladung von Perikles im Athener Hafen Piräus einen Wohnort gesucht hat.
Nach einleitenden Bemerkungen über die relativen Vorzüge des Alters soll der Hausherr Kephalos dem Sokrates Auskunft darüber geben, was er an dem ihm vergönnten Reichtum am meisten schätze. Es sei die damit verbundene Möglichkeit, niemandem etwas schuldig zu bleiben, antwortet Kephalos. Damit ist für Sokrates die Gerechtigkeitsfrage angesprochen, und er wirft das Problem auf, ob es gerecht sei, einem Mitbürger, von dem man Waffen geliehen habe, diese auch dann zurückzugeben, wenn der unterdessen wahnsinnig geworden sei. Wohl kaum, meint Kephalos, der sich hiernach zurückzieht und seinem Sohn Polemarchos die Gesprächsfortsetzung überlässt.
Unter Berufung auf den Dichter Simonides äußert Polemarchos, es sei gerecht, jedem das ihm Schuldige zukommen zu lassen, zwar nicht dem Wahnsinnigen Waffen, wohl aber Freunden Gutes und Feinden Übles. Das setzt voraus, wendet Sokrates ein, dass man Gutes und Übles zu unterscheiden weiß. Bei Ärzten etwa sei klar, worin sie Sachkenntnis benötigten, worin aber die Gerechten? In Geldangelegenheiten, erwidert Polemarchos, kann sich damit aber nicht behaupten. Mit dem Argument, dass ein wirklicher Sachkenner sich nicht nur in der Sache selbst, dem rechten Umgang mit Geld, sondern auch in ihrem Gegenteil, der Unterschlagung, auskennen müsse, stürzt Sokrates Polemarchos in Verwirrung. Bei der Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden sei zudem ein Irrtum mangels Menschenkenntnis leicht möglich, ergänzt Sokrates; und vor allem sei es doch nicht die Sache des Gerechten, überhaupt irgendjemandem zu schaden. Mit dieser Negativauskunft kehrt die Untersuchung zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Sokrates fragt: Da sich nun aber gezeigt hat, dass auch dieses nicht die Gerechtigkeit ist noch das Gerechte, was soll denn einer sonst sagen, dass es sei?
Nun schaltet sich aufbrausend der bisher nicht zu Wort gekommene Sophist Thrasymachos ein, erklärt alles bisher Gesagte für leeres Geschwätz, kritisiert, dass Sokrates nur fragt und widerlegt, statt eine klare eigene Vorstellung zu entwickeln, und bietet gegen Geld an, dies nun seinerseits zu tun. Mit Unterstützung der anderen Anwesenden nimmt Sokrates das Anerbieten an und wendet gegen die Vorhaltungen des Thrasymachos lediglich demütig ein, dass derjenige nicht mit Antworten vorpreschen könne, der nicht wisse und auch nicht vorgebe zu wissen: Also ist es ja weit billiger, dass du redest, denn du behauptest ja, dass du es weißt und dass du es vortragen kannst.
Thrasymachos bestimmt daraufhin das Gerechte als das dem Stärkeren Zuträgliche und begründet dies mit der Gesetzgebung in jeder der verschiedenen Regierungsformen, die eben entweder den Interessen von Tyrannen oder denen von Aristokraten oder denen von Demokraten entspreche. Gerecht sei, so bestätigt Thrasymachos die Nachfrage des Sokrates, auch der Gehorsam der Regierten gegenüber den Regierenden. Indem Sokrates sich die Fehlbarkeit der Regierenden von Thrasymachos anerkennen lässt, gelingt es ihm, dessen ganzes Konstrukt auszuhebeln; wenn die Regierenden sich in dem ihnen Zuträglichen irren, führt auch der Gehorsam der Regierten nicht zur Gerechtigkeit: Kommt es nicht alsdann notwendig so heraus, dass es gerecht ist, das Gegenteil von dem zu tun, was du sagst?
Thrasymachos sieht sich gleichwohl nicht überzeugt, sondern durch die Art der Fragestellung überlistet, und beharrt auf seiner These. Am Beispiel des Arztes zeigt ihm Sokrates jedoch, dass ein wahrer Sachwalter des eigenen Metiers stets am Nutzen des anderen, hier des Kranken, und nicht am eigenen orientiert ist: so folglich auch die fähigen Regierenden an dem für die Regierten Zuträglichen.
Nachdem Thrasymachos im Weiteren auch damit gescheitert ist zu zeigen, dass der Gerechte zu wenig auf den eigenen Vorteil achtet, um im Leben zu etwas zu kommen, während der die Ungerechtigkeit im großen Stil auf die Spitze treibende Tyrann daraus höchstes Glück und Ansehen gewinnt – dass also die Gerechtigkeit für Naivität und Einfalt stehe, die Ungerechtigkeit aber für Klugheit – leitet Sokrates über zur Betrachtung des Kräfteverhältnisses zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Auch da, so ergibt sich schließlich gegen die Ansicht des Thrasymachos, hat die Ungerechtigkeit einen schlechten Stand: Ungerechte sind untereinander uneins und mit sich selbst zerfallen, meint Sokrates, wie sollen sie da in Krieg oder Frieden ankommen gegen ein Gemeinwesen, in dem die Eintracht der Gerechten herrscht? Schließlich aber ist Gerechtigkeit für Sokrates auch die Voraussetzung des individuellen Glücks, denn sie habe für das Seelenheil die gleiche Bedeutung wie die Augen für die Sehkraft und die Ohren für die Hörfähigkeit.
Thrasymachos stimmt dem Erörterungsergebnis zuletzt in allem zu. Sokrates bedauert allerdings zum Schluss, dass auch er in der Frage, was nun die Gerechtigkeit in ihrem Wesen ausmache, über alle Verzweigungen des Gesprächs hinweg zu keinem Ergebnis gelangt sei.
In dem von Xenophon überlieferten Dialog zu Gerechtigkeit und Selbsterkenntnis bemüht Sokrates sich um Kontakt zu dem noch jungen Euthydemos, den es auf die politische Bühne drängt. Bevor Euthydemos sich zum Gespräch bereit findet, hat er bereits wiederholt ironische Bemerkungen des Sokrates über seine Unerfahrenheit und mangelnde Lernbereitschaft auf sich gezogen. Als ihn Sokrates eines Tages direkt auf seine politischen Ambitionen anspricht und auf Gerechtigkeit als Qualifikationsmerkmal verweist, bestätigt Euthydemos, dass man ohne Sinn für Gerechtigkeit nicht einmal ein guter Staatsbürger sein könne und dass er selbst davon nicht weniger besitze als jeder andere.
Daraufhin beginnt Sokrates, fährt Xenophon fort, ihn ausführlich zur Unterscheidung von gerechten und ungerechten Handlungen zu befragen. Dass ein Feldherr das Eigentum in einem ungerechten Feindstaat plündern lässt und raubt, erscheint Euthydemos im Verlauf der Unterredung ebenso gerecht, wie er überhaupt alles Feinden gegenüber als gerecht ansieht, was gegenüber Freunden ungerecht wäre. Doch auch Freunden schuldet man nicht in jeder Lage Aufrichtigkeit, wie sich am Beispiel des Feldherrn zeige, der seinen entmutigten Truppen zur Stärkung der Kampfmoral fälschlich das baldige Eintreffen von Bundesgenossen ankündigt. Dem bereits stark verunsicherten Euthydemos legt Sokrates nun die Frage vor, ob eine absichtliche oder eine unabsichtliche Falschaussage das größere Unrecht sei, wenn Freunde dadurch Schaden nähmen. Euthymedos entscheidet sich für den absichtlichen Betrug als das größere Unrecht, wird aber auch darin von Sokrates widerlegt; denn wer in eigener Unkenntnis betrüge, sei ja des rechten Weges offenbar unkundig und im Zweifel orientierungslos. In dieser Lage sieht sich, so Xenophon, nun auch Euthydemos: Ach, bester Sokrates, bei allen Göttern, ich habe allen Fleiß darauf gewandt, Philosophie zu studieren, weil ich des Glaubens war, dadurch würde ich in allem ausgebildet, was ein Mann braucht, der nach Höherem strebt. Jetzt muss ich erkennen, dass ich mit dem, was ich bisher gelernt, nicht einmal imstande bin, darauf Antwort zu geben, was zu wissen lebensnotwendig ist, und es gibt keinen anderen Weg, der mich weiterführte! Kannst du dir vorstellen, wie mutlos ich bin?
Dieses Eingeständnis nimmt Sokrates zum Anlass, auf das Orakel von Delphi zu verweisen und auf die Tempelinschrift: Erkenne dich selbst! - Euthydemos, der Delphi bereits zweimal aufgesucht hat, bekennt, dass ihn die Aufforderung nicht nachhaltig beschäftigt habe, weil er bereits hinreichend über sich Bescheid zu wissen meinte. Da hakt Sokrates ein:
Was ist deine Ansicht: Wer kennt sich selber besser: der, der nur seinen Namen weiß, oder der, der es macht wie die Käufer von Pferden? Die glauben nämlich, dass sie ein zur Wahl stehendes Pferd erst dann kennen, wenn sie untersucht haben, ob es folgsam oder störrisch, stark oder schwach, schnell oder langsam, ja überhaupt in allem, was man von einem Pferde erwartet, brauchbar oder unbrauchbar ist. Genauso erkennt erst der seine Stärke, der sich der Prüfung unterwarf, inwieweit er den an Menschen herantretenden Aufgaben gerecht wird.
Dem stimmt Euthydemos zu; doch das genügt Sokrates nicht. Er will darauf hinaus, dass Selbsterkenntnis größte Vorteile, Selbsttäuschung aber schlimmste Nachteile mit sich bringe:
Denn wer sich selbst kennt, der weiß, was für ihn nützlich ist, und vermag zu unterscheiden, was er kann und was nicht. Wer das betreibt, was er versteht, der erwirbt sich, was er benötigt, und es geht ihm gut; andererseits hält er sich von dem fern, was er nicht versteht, und so begeht er keine Fehler und bleibt vor Unheil bewahrt.
Die richtige Selbsteinschätzung bilde auch die Basis für das Ansehen, in dem man bei anderen stehe, und für erfolgreiches Zusammenwirken mit Gleichgesinnten. Wer darüber nicht verfüge, gehe meist fehl und mache sich zum Gespött.
Auch in der Politik siehst du ja, dass Staaten, die ihre Kraft falsch einschätzen und sich mit mächtigeren Gegnern einlassen, entweder der Zerstörung oder der Versklavung anheimfallen.
Nunmehr zeigt Xenophon Euthydemos als wissbegierigen Schüler, der von Sokrates dazu angehalten wird, die Selbsterforschung damit aufzunehmen, dass er sich um die Bestimmung des Guten in Abgrenzung vom Schlechten kümmert. Darin sieht Euthydemos zunächst keine Schwierigkeit und führt nacheinander Gesundheit, Weisheit und Glückseligkeit als Merkmale des Guten an, muss aber jedes Mal die Relativierung durch Sokrates hinnehmen: So ist wohl, lieber Sokrates, das Glück das am wenigsten angefochtene Gut. – Sofern es nicht jemand, lieber Euthydemos, auf zweifelhaften Gütern aufbaut. – Als zweifelhafte Güter in Bezug auf das Glück vermittelt Sokrates dem Euthydemos sodann Schönheit, Kraft, Reichtum und Ruhm. Euthydemos gesteht sich ein: Ja, wahrhaftig, wenn ich auch mit dem Lob des Glücks nicht recht habe, dann muss ich bekennen, dass ich nicht weiß, was man von den Göttern erbitten soll.
Nun erst lenkt Sokrates das Gespräch auf des Euthydemos’ Hauptinteressengebiet: die angestrebte Führungsrolle als Politiker in einem demokratischen Staatswesen. Was Euthydemos über das Wesen des Volkes (Demos) sagen könne, will Sokrates wissen. Mit Armen und Reichen kenne er sich aus, meint daraufhin Euthydemos, der zum Volk nur die Armen zählt. - Wen bezeichnest du als reich, wen als arm?, fragt Sokrates. - Wer nicht das Lebensnotwendige besitzt, den nenne ich arm, den, dessen Besitz darüber hinausgeht, reich. – Hast du schon einmal die Beobachtung gemacht, dass manche, die nur wenig besitzen, mit dem Wenigen zufrieden sind und sogar noch davon abgeben, während andere an einem beträchtlichen Vermögen noch nicht genug haben?
Da fällt dem Euthydemos plötzlich ein, dass manche Gewaltmenschen Unrecht begehen wie die Ärmsten der Armen, weil sie mit dem, was ihnen gehört, nicht auskommen. Demnach, folgert Sokrates, müsse man die Tyrannen zum Volk zählen, die Geringbemittelten aber, die mit ihrer Habe umzugehen verstünden, zu den Reichen. Euthydemos beschließt den Dialog: Meine geringe Urteilskraft zwingt mich dazu, die Schlüssigkeit auch dieses Beweises einzugestehen. Ich weiß nicht, vielleicht ist es das beste, ich sage gar nichts mehr; ich bin doch nur in Gefahr, binnen kurzem mit meiner Weisheit am Ende zu sein.
Abschließend erwähnt Xenophon, dass viele von denen, die Sokrates ähnlich zurechtgewiesen hatte, sich anschließend von ihm fernhielten, nicht aber Euthydemos, der fortan meinte, nur in der Gesellschaft des Sokrates ein tüchtiger Mann werden zu können.
Den unaufgebbaren Kern seines philosophischen Wirkens entwickelte Sokrates den Geschworenen im Prozess laut Platons Apologie, indem er jedem von ihnen für den Fall des Freispruchs bei einer künftigen Begegnung Vorhaltungen ankündigte:
Bester der Männer, du, ein Bürger Athens, der größten und an Weisheit und Stärke berühmtesten Stadt, du schämst dich nicht, dich um Schätze zu sorgen, um sie in möglichst großer Menge zu besitzen, auch um Ruf und Geltung, dagegen um Einsicht und Wahrheit und um deine Seele, dass sie so gut werde wie möglich, darum sorgst und besinnst du dich nicht? Wenn aber einer von euch Einwendungen macht und behauptet, er sorge sich doch darum, so werde ich nicht gleich von ihm ablassen und weitergehen, sondern ihn fragen und erproben und ausforschen, und wenn er mir die Tüchtigkeit nicht zu besitzen scheint, es aber behauptet, so schelte ich ihn, dass er das Wertvollste am wenigsten achte, das Schlechtere aber höher.
Nur Wissen um das Gute dient dem eigenen Besten und befähigt dazu, Gutes zu tun. Denn, so folgerte Sokrates, niemand tue wissentlich Übles. Die Leugnung der Möglichkeit, gegen die eigene bessere Erkenntnis zu handeln, gehörte zu den bekanntesten Leitsätzen der Sokrates zugeschriebenen Lehre in der Antike. Dabei handelt es sich zugleich um eines der sogenannten Sokratischen Paradoxa, weil das mit der landläufigen Lebenserfahrung nicht überein zu stimmen scheint. Paradox erscheint in diesem Zusammenhang auch die Behauptung des Sokrates, nichts zu wissen.
Man differenzierte das Sokratische Nichtwissen. Demnach ist es zunächst die Abwehr des sophistischen Wissens, auf die sich Sokrates’ Nichtwissen bezieht. Auch bei den Wissensprüfungen von Politikern, Handwerkern und sonstigen Mitbürgern zeigt sich sein Nichtwissen als Abgrenzungswissen, als Ablehnung eines auf Konventionen beruhenden Wissens der Arete. In einer dritten Variante handelt es sich um ein Noch-nicht-Wissen, das zu weiteren Prüfungen anhält, und schließlich um die Abgrenzung von einem Evidenzwissen über das gute Leben und über die rechte Art zu leben. Demnach war Sokrates davon überzeugt, dass man mit Hilfe gemeinsamer vernünftiger Überlegung über ein bloß konventionelles und sophistisches Scheinwissen hinaus wenigstens zu vorläufig haltbaren Einsichten kommen könnte.
So löst sich dieser scheinbare Widerspruch zwischen Einsicht und Nichtwissen folgendermaßen auf: Wenn Sokrates es für prinzipiell unmöglich erklärt, dass ein Mensch ein Wissen davon erlange, was das Gute, Fromme, Gerechte sei, dann meint er ein allgemeingültiges und unfehlbares Wissen, das unverrückbare und unanfechtbare Normen für das Handeln bereitstellt. Ein solches Wissen ist dem Menschen nach seiner Auffassung grundsätzlich versagt. Was der Mensch allein erreichen kann, ist ein partielles und vorläufiges Wissen, das sich, mag es im Augenblick auch noch so gesichert erscheinen, dennoch immer bewusst bleibt, dass es sich im Nachhinein als revisionsbedürftig erweisen könnte. Sich um dieses unvollkommene Wissen zu bemühen in der Hoffnung, dem vollendeten Guten möglichst nahe zu kommen, ist demzufolge das Beste, was der Mensch für sich tun kann. Je weiter er darin vorankomme, desto glücklicher werde er leben.
Manche interpretieren hingegen die Frage nach dem Guten als über den Menschen hinausweisend. In der Frage nach dem Guten liegt eigentlich der Dienst für den delphischen Gott. Die Idee des Guten ist letztlich der philosophische Sinn des delphischen Orakels.
In seinem an den ihm gewogenen Teil der Geschworenen gerichteten Schlusswort vor Gericht begründete Sokrates nach Platons Bericht die Unerschrockenheit und Festigkeit, mit der er das Urteil hinnahm, unter Hinweis auf sein Daimonion, das ihn zu keinem Zeitpunkt vor irgendeiner seiner Handlungen im Zusammenhang mit dem Prozess gewarnt habe. Seine Äußerungen über den bevorstehenden Tod drücken Zuversicht aus:
Es muss wohl so sein, dass es etwas Gutes ist, was mir zustieß, und unmöglich können wir richtig vermuten, wenn wir glauben, das Sterben sei ein Übel. Lasst uns aber auch so erwägen, wie groß die Hoffnung ist, dass es etwas Gutes sei. Eins von beiden ist doch das Totsein: Entweder ist es ein Nichts-Sein, und keinerlei Empfindung mehr haben wir nach dem Tode – oder es ist, wie die Sage geht, irgendeine Versetzung und eine Auswanderung der Seele aus dem Orte hier an einen andern. Und wenn es keinerlei Empfindung gibt, sondern einen Schlaf, wie wenn einer schläft und kein Traumbild sieht, dann wäre der Tod ein wundervoller Gewinn, denn dann erscheint die Ewigkeit doch um nichts länger als eine Nacht. Wenn dagegen der Tod wie eine Auswanderung ist von hier an einen andern Ort und wenn die Sage wahr ist, dass dort alle Gestorbenen insgesamt weilen, welches Gut wäre dann größer als dies, ihr Richter? Denn wenn einer ins Reich des Hades gelangt und, entledigt von diesen hier, die sich Richter nennen, dort die Wahrhaft-Richtenden anträfe, die, wie die Sage berichtet, dort Recht sprechen, die sich in ihrem Leben als gerecht bewährten, würde die Wanderung dorthin zu verachten sein? Und gar mit Orpheus Umgang zu haben und mit Hesiod und Homer, um welchen Preis würde einer von euch das wohl erkaufen?

SECHSTES KAPITEL
PLATON
Die Einführung der Ideenlehre wird als die Trennlinie zwischen sokratischer und platonischer Philosophie gesehen. In den frühen Definitionsdialogen beschäftigt sich der Sokrates Platons primär mit ethischen Themen. Er fragt danach, welche Eigenschaften eine bestimmte Tugend wie Gerechtigkeit oder Tapferkeit ausmachen oder durch welche Merkmale das Gute gekennzeichnet ist. Jedoch bleiben die dort erwogenen Definitionen für ihn ungenügend, weil sie entweder zu eng oder zu allgemein gefasst sind und daher keine präzise Bestimmung des Inhalts des jeweils zu definierenden Begriffs ermöglichen.
Dagegen befasst sich Platon in den mittleren Dialogen mit dem Wesen einer Tugend oder eines beliebigen Objekts, ohne sich auf die Suche nach Definitionsmerkmalen zu beschränken. Ein Mensch mag zwar als gerecht bezeichnet werden, jedoch ist er nicht an und für sich gerecht; ein Gegenstand kann schön genannt werden, aber er ist niemals der Inbegriff des rein Schönen. Alle Dinge, denen aufgrund von Urteilen, die in Sinneserfahrungen gründen, eine bestimmte Eigenschaft – etwa schön – zugeschrieben wird, haben in höherem oder geringerem Maß Anteil an deren an sich gedachtem Prinzip, an einer Idee, etwa der Schönheit an sich.
Die platonische Idee ist kein mentales Erzeugnis, kein Einfall oder Gedanke. Platon geht davon aus, dass die Welt, wie sie vom Menschen sinnlich wahrgenommen wird, einem sinnlicher Wahrnehmung entzogenen, aber realen und eigenständig existierenden Reich der Ideen nachgeordnet ist, welches nur auf geistigem Weg erkannt werden kann. Die Idee ist für Platon das wahre Seiende, ihr Sein ist das Sein im eigentlichen Sinne. Den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen hingegen kommt nur ein bedingtes und damit unvollkommenes Sein zu. Zur Idee gelangt, wer von den unwesentlichen Besonderheiten des einzelnen Phänomens abstrahiert und seine Aufmerksamkeit auf das Allgemeine richtet, das den Einzeldingen zugrunde liegt und gemeinsam ist. So beschreibt er im Symposion, wie man von der sinnlichen Wahrnehmung eines schönen Körpers zur Schönheit der Seele, der Sitten und der intellektuellen Erkenntnisse und schließlich zu dem seiner Natur nach Schönen, also der Idee des Schönen gelangen kann. Hierbei handelt es sich um den Inbegriff dessen, was schön ist, denn nur die Idee des Schönen ist unbeeinträchtigt durch unschöne Anteile.
Die Ideen als eigentliche Wirklichkeit sind absolute, zeitunabhängig bestehende Urbilder. Da sie nicht dem Entstehen, dem Wandel und dem Vergehen unterliegen, sind sie von göttlicher Qualität. Einem Einzelding kommt Schönheit immer nur in begrenztem Grade zu, so dass schöne Dinge hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Schönheit vergleichbar sind. Die Idee des Schönen hingegen ist solchem Mehr oder Weniger entzogen, denn das Schöne als Idee ist absolut schön. Da Ideen in höherem Maße wirklich sind als die sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenstände, kommt ihnen ontologisch ein höherer Rang zu als den Sinnesobjekten. Die Ideen machen das eigentliche Wesen der Eigenschaften aus und verleihen den Dingen deren Form. Als nicht wandelbare Wesen sind sie der Gegenstand, auf den sich Denken und Erkenntnis richten, denn allein von Unveränderlichem kann es Wissen geben, von stets mangelhaften und in Veränderung begriffenen Sinnesdingen nicht. Die Objekte, die der Mensch wahrnimmt, verdanken ihr Sein dem objektiven Sein der jeweiligen Idee und ihre jeweilige besondere Beschaffenheit den verschiedenen Ideen, an denen sie Anteil haben. Der ontologischen Höherrangigkeit der Ideen entspricht eine erkenntnismäßige. Alles Wissen über sinnlich Erfahrbares setzt ein richtiges Verständnis der jeweils zugrunde liegenden Idee voraus. Diese platonische Vorstellung ist somit der Auffassung entgegengesetzt, dass die Einzeldinge die gesamte Wirklichkeit ausmachen und hinter den Allgemeinbegriffen nichts steht als ein menschliches Bedürfnis, zur Klassifizierung der Phänomene Ordnungskategorien zu konstruieren.
Platon greift das ursprünglich von Parmenides entwickelte Konzept eines einzigen Seins hinter den Dingen auf und wendet diesen Gedanken auf zahlreiche philosophische Fragen an. So weist er in dem Staat darauf hin, dass die Mathematiker ihre Axiome nicht klären, sondern sie als evident betrachten. Ihr Interesse gelte nicht den geometrischen Figuren, die sie mehr oder weniger unvollkommen in der Natur finden oder selbst zeichnen. Es gehe ihnen in der Geometrie nicht um empirische, sondern um ideale Gegenstände. Dabei werde vorausgesetzt, dass ein nichtempirisches Objekt das Ziel der Bestrebungen ist und nicht dessen in der Natur vorgefundene Abbilder. Von dieser Auffassung des Verhältnisses zwischen Idee und Abbild ausgehend bestimmt Platon beispielsweise das Schöne an sich, das Gute an sich, das Gerechte an sich oder das Fromme an sich.
Jedes Phänomen der physischen Welt hat demnach Anteil an der Idee, deren Abbild es ist. Die Art dieser Teilhabe bestimmt im Einzelfall, in welchem Ausmaß dem Objekt die Eigenschaft zukommt, die es von der Idee empfängt. Die Idee ist die Ursache dafür, dass etwas so ist, wie es ist. So legt das Schöne oder das Gerechte fest, dass die Einzeldinge, die als schön oder gerecht wahrgenommen werden, diese Eigenschaften in bestimmtem Ausmaß aufweisen. Ein Mensch kann daher nur als schön bezeichnet werden, weil und insofern er an der Idee des Schönen teilhat. Die Idee ist zugleich in dem jeweiligen Objekt anwesend.

Unklar ist, welchen sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen nach Platons Ansicht spezifische Ideen zugeordnet sind und welchen nicht. Im Politikos scheint die Bestimmung eines Begriffs und damit die Existenz der betreffenden Idee von einem rein formalen Kriterium abzuhängen und die Frage nach Wert oder Rang dabei belanglos zu sein. Im Parmenides hingegen ist davon die Rede, dass Sokrates an der Existenz von Ideen einzelner Phänomene wie Feuer oder Wasser zweifelte und die Vorstellung anstößig fand, dass geringfügigen oder verächtlichen Dingen wie Kot oder Schmutz eigene Ideen zugeordnet seien. Anderenorts geht Platon davon aus, dass es nicht nur von Naturdingen Ideen gibt, sondern auch von Dingen wie Tischen, die in der physischen Welt nur als Produkte menschlichen Erfindungsgeistes existieren. Offen bleiben die Fragen, ob von Mängeln, von Unvollkommenem und Schlechtem Ideen anzunehmen sind und wie genau die Beziehung zwischen den Sinnesobjekten und ihren Ideen zu verstehen ist.
In Platons Philosophie ist die Seele als immaterielles Prinzip des Lebens individuell unsterblich. Ihr Dasein ist von dem des Körpers gänzlich unabhängig; sie existiert vor seiner Entstehung und besteht nach seiner Zerstörung unversehrt fort. Daraus ergibt sich die Rangordnung der beiden: Der Leib, der mancherlei Beeinträchtigungen und letztlich der Vernichtung unterliegt, ist der unsterblichen, unzerstörbaren Seele untergeordnet. Es steht ihr zu, über ihn zu herrschen. Der Körper ist das Gefäß, die Wohnung der Seele, aber auch negativ ausgedrückt ihr Grab oder Gefängnis – eine berühmt gewordene Formulierung Platons.
Im Tod löst sich die Seele vom Körper, das ewig Lebendige trennt und befreit sich von der nur durch seine Einwirkung belebten Materie. Vom Leib entbunden kann die Seele auf ungetrübte Weise erkennen, weshalb der wahre Philosoph den Tod als sinnvoll anstrebt. Solange sie sich jedoch im Körper befindet, nimmt die Seele eine vermittelnde Stellung zwischen der Ideenwelt und der Sinnenwelt ein. Zusammen mit den körperlichen Faktoren und durch sich selbst erzeugt sie Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Meinungen, Affekte, Gefühlsregungen und Triebe und bewirkt physische Effekte wie Wachstum, äußere Eigenschaften und Auflösung der Körpermaterie. Bedeutsam ist ihre Verbindung mit einem Körper nur für die Dauer eines Lebens, in dessen Verlauf sie ihre Fähigkeiten wie Erkenntnisvermögen, Denkvermögen und Strebevermögen und Eigenschaften zur Geltung bringt und Erfahrungen von Lust und Schmerz macht. Alle geistigen Funktionen eines Individuums sind die ihrigen, so dass sie mit der Person identisch ist. Ihre ethischen Entscheidungen bestimmen ihr Schicksal nach dem Tod. Deshalb zielen für Platon alle philosophischen Bestrebungen nur auf die Seele; daher mahnt Sokrates, für Einsicht aber und Wahrheit und für die Seele, dass sie sich aufs beste befinde, zu sorgen.
Die Seele zeigt sich aus Platons Sicht nicht als einheitliches, sondern als komplexes Phänomen. Sie setzt sich aus einem begehrenden, einem muthaften und einem vernünftigen Teil zusammen. Die drei Teile treten miteinander in Konflikt. Erstrebt wird aus philosophischer Sicht ihre Harmonie unter der Vorherrschaft des Vernünftigen. In einem Mythos vergleicht Platon die Seelenteile mit einem Pferdewagen. Die Vernunft muss als Wagenlenker die beiden sehr verschiedenartigen Pferde Willen und Begierde lenken und die Begierde bändigen, um als herrschende Kraft die Seele zur Erkenntnis zu führen. Das Begehrende ist dabei auf Sinneswahrnehmung ausgerichtet, es befriedigt körperliche Lüste wie Essen, Trinken und Fortpflanzung oder erstrebt Mittel zur Befriedigung derartiger Lüste. Der Wille als der muthafte Seelenteil hingegen bringt Meinungen hervor, erkennt Schönes und Gutes, jedoch nicht das Schöne und Gute an sich, und fällt wertende Urteile über die eigene Person und andere. Beide sind dem Vernünftigen unterzuordnen, das Begehrende, um seine triebhafte Unersättlichkeit zu zähmen, das Muthafte, um seine positiven Qualitäten wie besonnener Eifer, Milde, Sanftmut, Respekt und Menschenliebe gegenüber den negativen wie falscher Eifer, Misstrauen und Neid zur Entfaltung zu bringen. Das Vernünftige zeigt sich in der Lust am Lernen und Erkennen des Wahren, im wissenschaftlichen Streben. Auf dem Gebiet der Ethik kennzeichnet den vernünftigen Seelenteil die Fähigkeit zu erkennen, was gut ist, und durch Zügelung der niederen Teile die Selbstbeherrschung des Menschen zu ermöglichen. Die Seelenteile bilden in Platons ursprünglicher Seelenlehre eine unsterbliche Einheit; im Spätwerk Timaios hingegen betrachtet er die niederen Seelenteile und die damit verbundenen Affekte, Triebe und negativen Gefühlsregungen als sterbliche Beimischungen zur unvergänglichen Vernunftseele.
Da für Platon eigenständige Bewegung ein Definitionsmerkmal der Seele ist, fasst er auch Tiere und Gestirne als beseelt auf, im Timaios auch Pflanzen. Der Kosmos selbst verfügt über Vernunft, die ihren Sitz in der Weltseele hat. Ein Schöpfergott, der Demiurg, bildete die Weltseele, verlieh ihr Teilhabe an den Ideen und pflanzte sie in die Welt, um die Vernunft in das Weltganze zu bringen und es dadurch vollkommener zu machen. Die Weltseele ist die Kraft, die sich selbst und alles andere bewegt. Sie ist der Welt immanent, überall in ihr verbreitet und umgibt sie zugleich. Da sie durch ihre unterschiedlichen Bestandteile an allem Anteil hat, vermag sie alles wahrzunehmen und zu erkennen. Ihr Wesen ist demjenigen der menschlichen Vernunft gleich; daher besteht Übereinstimmung zwischen der Seele des Menschen und der Weltseele.
Das Bemühen, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, gehört zu den vorrangigen Anliegen Platons. Im Phaidon lässt er Sokrates argumentieren, dass Gegensätze wie Wachzustand und Schlaf zyklisch auseinander entstehen. Auch für den Schritt vom Leben zum Tod ist demnach eine gegenläufige Bewegung zurück zum Leben anzunehmen; anderenfalls würde alle Bewegung des Lebens auf den Tod zielen und mit ihm definitiv enden, so dass es kein Leben mehr gäbe.
In einem weiteren Argument führt Platons Sokrates jeden Lernprozess darauf zurück, dass die Seele Kenntnisse wiedererlangt, die ihr nicht neu sein können; daher muss sie dieses potentielle Wissen aus ihrem Dasein vor der Entstehung des Körpers mitbringen. Weil sie vor ihrem Eintritt in einen Körper die Ideen an einem überhimmlischen Ort geschaut und daher Wissen in reinster Form besessen hat, kann sie innerhalb ihres menschlichen Daseins lernen, indem sie sich schrittweise an das einst Wahrgenommene erinnert. Aus der Existenz der Ideen und dem Zugang des Menschen zum von ihnen ermöglichten Wissen folgert Platon, dass die Seele nicht zum Bereich des zeitlich Begrenzten gehört.
Ein anderes Argument geht davon aus, dass sich Sichtbares von Unsichtbarem, rein Geistigem dadurch unterscheidet, dass Ersteres zusammengesetzt und daher auflösbar ist, Letzteres unauflösbar und unvergänglich. Der Körper ist sichtbar und gehört dem Vergänglichen an, die Seele hingegen ist mit dem Unsichtbaren verwandt und gehört daher dem Bereich des Unvergänglichen an. Ein weiteres Argument im Phaidon lautet, dass Gegensätze nicht zugleich anwesend sein können; so ist Schnee mit Wärme unvereinbar. Daher kann die als belebendes Prinzip schlechthin verstandene Seele den Tod nicht in sich aufnehmen. Somit betrifft der Tod allein den belebten Leib, nicht das diesen belebende Prinzip.
Zudem stellt Platon in dem Staat die These auf, dass jedem zerstörbaren Ding ein Übel zugeordnet ist, von dem es verdorben und zerstört wird. Die Übel, welche die Seele betreffen, nämlich Ungerechtigkeit und Laster, machen sie schlecht, doch lässt sich nicht beobachten, dass sie ihre Zerstörung bewirken. Eine andere Überlegung Platons besagt, dass die Seele die Quelle aller Bewegung ist. Als Träger der Fähigkeit, immer von sich aus bewegt zu sein und anderes zu bewegen, muss die Seele ungeworden und daher unsterblich sein.
Zum Schicksal der Seele im Jenseits und zur Seelenwanderung äußert sich Platon meist in mythischer Form. Er verwendet zwar keine Ausdrücke, die den Begriffen Seelenwanderung und Jenseits entsprechen, meint aber, wie aus seinen Ausführungen ersichtlich ist, deren Inhalte. Dabei knüpft er an ältere Konzepte an, wonach die Daseinsbedingungen nach dem Tod vom Verhalten im irdischen Leben abhängen, wie schon Pythagoras, Empedokles und Pindar meinten.
Im Phaidon beschreibt er die Erde und das in einen oberen und einen unteren Bereich gegliederte Jenseits. Im oberen Bereich ist die gleichsam wahre Erde lokalisiert. Dort führen die vom Körper befreiten Seelen in reiner und wunderbarer Umgebung ein glückliches Leben in Gegenwart der Götter. Im unteren Bereich erfahren fünf Gruppen von Seelen Strafe und Reinigung, je nach der Schwere ihrer im Leben begangenen Verfehlungen. So versinken die unheilbaren Seelen im Tartaros, während jene, die schon im Leben Reue empfanden und sich heilbare Sünden zuschulden kommen ließen, jährlich in die Nähe des Acheron gespült werden, wo sie ihre einstigen Opfer um Verzeihung bitten. Einzig die durch die Philosophie wahrhaft gereinigten Seelen werden von der wahren Erde in ein rein geistiges, nicht näher beschreibbares Jenseits aufgenommen.
Im Dialog Georgias führt Platon den Gedanken eines Totengerichts ein, der hier erstmals in der griechischen Kulturgeschichte näher ausgeführt wird, in Anknüpfung an ältere Vorstellungen einer richtenden Funktion von Göttern. Platons Totengericht besteht aus Minos, Rhadamanthys und Aiakos. Die nackten Seelen werden dort anhand ihrer Narben und Schwielen geprüft, welche durch ein ungerechtes Leben entstanden sind, und in den Tartaros oder das Elysium verwiesen. Ähnlich beschreibt Platon in dem Staat, wie die Seelen nach ihrer jeweiligen Lebensweise in die Unterwelt verbannt und gereinigt oder an einen himmlischen Ort versetzt werden. Nach tausend Jahren werden sie zur Spindel der Ananke geführt, welche die Gestirne in Bewegung hält. Von den Moiren beaufsichtigt, wählen sie dort aus verschiedenen Lebensmodellen dasjenige, das sie künftig verwirklichen wollen, und begeben sich erneut in die Inkarnation.
Im Spätwerk Timaios behauptet Platon, dass die Seele im Körper einer Frau wiedergeboren wird, wenn sie entsprechend ungünstige Voraussetzungen mitbringt, und dass die Wiedergeburt bei besonderer Unverständigkeit in einem Tierkörper erfolgen kann, wobei wiederum die Tierart vom jeweiligen Ausmaß der Torheit der Seele im vorherigen Leben abhängt. Auf der untersten Stufe, noch unter den Kriechtieren, stehen für Platon die Wassertiere.
In Platons Symposion beschreiben und preisen mehrere Redner Eros, den Dämon der auf das Schöne gerichteten Liebe. So betont Phaidros die ethische Dimension des Schönen. Er weist darauf hin, dass die Liebe beim Verliebten das Streben nach einem tugendhaften Leben fördert, da niemand in den Augen seines Geliebten ethisch hässlich erscheinen will, sondern die Liebenden um ihrer Geliebten willen schöne Taten vollbringen. Platon verwendet den Begriff des Schönen nicht nur im engeren Sinne für ästhetisch ansprechende Formen, Farben oder Melodien. Vielmehr bezeichnet er als schön auch Erfreuliches, Bewundernswertes und Entzückendes im menschlichen Charakter und Verhalten, in Staat und Gesellschaft und darüber hinaus rein geistige Objekte philosophischen Bemühens. All dies ist für ihn eigentlich gleichartig, insoweit es Empfindungen derselben Art auslöst, und fällt daher in dieser Hinsicht unter den gemeinsamen Begriff des Schönen. Allerdings ist nicht alles, was gefällt, schön; es gibt auch eine scheinbare Schönheit, die nur flüchtige Annehmlichkeit erzeugt.
Teils widerlegt der platonische Sokrates im Symposion seine Vorredner, teils überhöht er ihre Aussagen. Das Wirken des Eros lässt er weit über den Bereich zwischenmenschlicher Leidenschaft hinausreichen, denn Liebe ist für Platon die Triebfeder des menschlichen Strebens nach dem Schönen und Guten. Diese beiden Bereiche sind eng miteinander verknüpfte Aspekte derselben Wirklichkeit, deren höchste Ausformung geistige, ethische und körperliche Vollkommenheit ist. Als höchstes Ziel menschlichen Strebens fällt das Schöne mit dem Guten zusammen, es ist das Gute unter dem Aspekt von dessen ästhetischer Anziehungskraft. Als Sohn der Penia, der Personifikation der Armut, und des Poros, der Fülle, treibt Eros den Menschen an, sich in der Erkenntnis des Guten zu vollenden und dadurch glückselig zu werden. Ziel der Liebe ist Erzeugung und Geburt im Schönen.
Eine äußere Bedingung für die Betätigung des Eros ist die Gegenwart des Schönen. Außerdem muss die Seele, um für Schönheit empfänglich zu sein, bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Begegnet ein Mensch dem Schönen in einer Form, in der es in der Sinneswelt vorkommt, so erinnert sich die Seele an das wahre Schöne, das sie vor der Geburt geschaut hat und von dem sie seit dem Beginn ihres irdischen Daseins getrennt ist. Wenn dies geschieht, beflügelt die Wirkung des Schönen die Seele und erlaubt ihr, sich stufenweise zum übersinnlich Schönen, der Idee des Schönen, zu erheben. Zugleich nimmt sie den Ausfluss der Schönheit in sich auf und erschaudert davor.
So richtet sich Eros aufsteigend zunächst auf die anwesende schöne Gestalt, dann allgemein auf alle schönen Körper, dann auf die schöne Seele, das Schöne in der Gemeinschaft und der Wissenschaft, schließlich auf die Idee des Schönen. Auf diesem Weg stellt das Fortpflanzungsstreben, das von der Schönheit eines Körpers angeregt wird, die niedrigste Stufe dar. Ihm übergeordnet ist der aus dem Eros entspringende Wunsch, moralische und gesellschaftliche Tugenden zu erwerben, die zur Schönheit der Seele beitragen. Zu ihrer Vollendung gelangt die Erkenntnis des Schönen erst in der Schau der Idee des Schönen, nachdem der Betrachtende sich von aller Bindung an sinnliche Wahrnehmung befreit hat.
Zugleich fasst Platon Eros als maßgebliche Triebkraft des philosophischen Erkenntnisstrebens auf, denn die Liebe des Philosophierenden gilt der Weisheit, die zum Schönsten gehört. Der Eros begeistert den Philosophierenden für die Erkenntnis des wahrhaft Erstrebenswerten und veranlasst ihn damit zu der geistigen Betätigung, die sich in der Schau der Ideen vollendet. Der Weisheitsliebende strebt nach Erkenntnis, weil er das, wonach er liebend sucht, noch nicht besitzt, das heißt noch nicht weise ist. Wer hingegen entweder bereits wie die Götter weise ist oder wer den Wert der Weisheit nicht erkannt hat, philosophiert nicht.
Einer Bestimmung der Idee des Guten nähert sich Platons Sokrates in dem Staat in drei Gleichnissen an (Sonnengleichnis, Liniengleichnis und Höhlengleichnis). Im Sonnengleichnis vergleicht er das Gute mit der Sonne als seinem Sprössling. So wie das Sonnenlicht es ermöglicht, dass Dinge wahrgenommen werden, wogegen im Dunkeln die Sehkraft eingeschränkt ist, so lassen sich erst im Lichte der Idee des Guten andere Ideen erkennen. Die Idee des Guten verleiht den Dingen ihre Erkennbarkeit, dem Erkennenden seine Erkenntnisfähigkeit, allem Seienden sein Sein und allem seinen Nutzen, da sie selbst Ziel und Sinn von allem ist. Daher ist ihre Erkenntnis das höchste Ziel des Philosophen und in der Politeia Voraussetzung dafür, Philosophenkönig zu werden. Wer einmal die Einsicht in das Gute gewonnen hat, kann nicht mehr wider dieses bessere Wissen handeln; das Problem der Willensschwäche, der mangelnden Selbstbeherrschung besteht für ihn nicht. Das Gute wird damit zu einem absoluten Orientierungspunkt für das praktische Handeln.
In den Dialogen Phaidon und Politeia spricht sich Platon gegen körperliche Lust aus und spricht davon, dass Glückseligkeit erst nach dem Tod möglich ist, wenn sich die Seele vom Körper freigemacht hat. Ein zufriedenes Leben ist den wenigen Philosophen vorbehalten, die als einzige die Wahrheit erkennen. In den wahrscheinlich später entstanden Gesetzen werden hingegen auch andere Lüste, etwa körperliche Lust, als essentiell beschrieben und im Philebos ein aus Lust und Denken gemischtes Leben als das beste Leben bezeichnet.
Dem Timaios zufolge hat der mythische Demiurg (der Schöpfer, der Werkmeister) die dingliche Welt aus der Ur-Materie gestaltet. Diese Aussage ist nach der Überzeugung antiker Platoniker nicht wörtlich im Sinne einer Weltentstehung in der Zeit, sondern metaphorisch zu verstehen; die Schöpfung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein beständiger Prozess. Der Zustand der Welt ergibt sich aus dem Zusammentreffen zweier gegensätzlicher Faktoren, nämlich der vernünftigen Einwirkung des Demiurgen, der sich an der Ideenwelt orientiert und das Bestmögliche erreichen will, und dem chaotischen, regellosen Charakter der Ur-Materie, welcher der erschaffenden und ordnenden Tätigkeit des Demiurgen Widerstand entgegensetzt. Die Materie ist nicht vom Demiurgen geschaffen, sondern bildet eine eigenständige Grundlage für sein Wirken. Er ist kein allmächtiger Schöpfergott, sondern gleichsam ein göttlicher Baumeister, der auf vorhandenes mangelhaftes Material angewiesen ist, aus dem er im Rahmen des Möglichen etwas herstellt. Daher vergleicht Platon die Ur-Materie mit Rohmaterial, wie es Handwerkern zur Verfügung steht. Sie ist ihrer eigenen ursprünglichen Natur nach amorph, aber form- und gestaltbar.
Die Ur-Materie weist eine räumliche Qualität auf, was aber nicht im Sinne eines leeren Raums zu verstehen ist; eher kann man sie als ein Feld betrachten, das nach Platons Angaben bereits Spuren der Elemente aufweist. Sie ist der gebärfreudige Schoß des Werdens, aus dem die Körper entstehen, das rein Empfangende, das, selbst formlos, alle Formen aufnimmt. Feuer, Luft, Wasser und Erde sind die vier Grundformen der vom Demiurgen gestalteten Materie, die sich mit Ausnahme der Erde ineinander umwandeln können. Mit dieser Kosmologie gehört Platon zusammen mit Demokrit zu den Schöpfern der Vorstellung einer atomaren Struktur der Materie und der Elemente und ist der Begründer eines mathematischen Atomismus.
Ein Hauptmerkmal des platonischen Kosmos besteht darin, dass er nicht tot ist, sondern beseelt, lebendig und mit Vernunft ausgestattet, ein ewiges, vollkommenes Wesen. Dies verdankt er der Weltseele, die ihn durchdringt und umhüllt. Die Weltseele ist das Prinzip der Weltbewegung und des Lebens.

SIEBENTES KAPITEL
ARISTOTELES

In des Aristoteles Naturphilosophie bedeutet Natur zweierlei: Zum einen besteht der primäre Gegenstandsbereich aus den von Natur aus bestehenden Dingen, die sich von Artefakten unterscheiden. Zum anderen ist Natur ein Prinzip oder der Ursprung der Veränderung und Ruhe. Dieses Prinzip enthalten die Naturdinge in sich. Bei Artefakten kommt das Prinzip jeder Veränderung von außen. Der zentrale Begriff der Naturphilosophie ist somit die Veränderung oder Bewegung. Die Wissenschaft der Natur hängt von der Kenntnis der Prinzipien und Ursachen der Veränderung ab.

Ein Veränderungsprozess von X ist gegeben, wenn X, das der Wirklichkeit nach die Eigenschaft F und der Möglichkeit nach G aufweist, die Eigenschaft G verwirklicht. Bei Bronze, die der Wirklichkeit nach ein Klumpen ist und der Möglichkeit nach eine Statue, liegt Veränderung dann vor, wenn die Bronze der Wirklichkeit nach die Form einer Statue wird; der Prozess ist abgeschlossen, wenn die Bronze diese Form besitzt. Oder wenn der ungebildete Sokrates gebildet wird, so verwirklicht sich ein Zustand, welcher der Möglichkeit nach schon vorlag. Der Veränderungsprozess ist also durch seinen Übergangsstatus gekennzeichnet und setzt voraus, dass etwas, das der Möglichkeit nach vorliegt, verwirklicht werden kann.
Für alle Veränderungsprozesse hält Aristoteles Gegensätze für grundlegend. Er vertritt darüber hinaus die These, dass in einem Veränderungsprozess diese Gegensätze immer an einem Substrat auftreten, so dass sein Modell folgende drei Prinzipien aufweist: Erstens, Substrat der Veränderung; zweitens, Ausgangszustand der Veränderung; drittens, Zielzustand der Veränderung.
Wird der ungebildete Sokrates gebildet, so ist er dabei an jedem Punkt der Veränderung Sokrates. Entsprechend bleibt die Bronze Bronze. Das Substrat der Veränderung, an dem diese sich vollzieht, bleibt dabei mit sich selbst identisch. Den Ausgangszustand der Veränderung fasst Aristoteles dabei als einen Zustand, dem die entsprechende Eigenschaft des Zielzustands ermangelt.
Aristoteles unterscheidet vier Arten der Veränderung: Erstens, qualitative Veränderung; zweitens, quantitative Veränderung; drittens, Ortsbewegung; viertens, Entstehen und Vergehen.
Bei jeder Veränderung gibt es ein zugrunde liegendes, numerisch identisches Substrat. Im Falle qualitativer, quantitativer und örtlicher Veränderung ist dies ein konkretes Einzelding, das seine Eigenschaften, seine Größe oder seine Position verändert. Wie verhält sich dies aber beim Entstehen Vergehen konkreter Einzeldinge? Die Eleaten hatten die einflussreiche These vertreten, Entstehen sei nicht möglich, da sie es für widersprüchlich hielten, wenn Seiendes aus Nicht-Seiendem hervorginge. Die Lösung der Atomisten, Entstehen sei ein Prozess, in dem durch Mischung und Trennung unvergänglicher und unveränderlicher Atome aus alten neue Einzeldinge hervorgehen, führt nach des Aristoteles Ansicht Entstehen illegitimerweise auf qualitative Veränderung zurück.
Des Aristoteles Analyse von Entstehen und Vergehen basiert auf der innovativen Unterscheidung von Form und Materie. Er akzeptiert, dass kein konkretes Einzelding aus Nichtseiendem entstehe, analysiert den Fall des Entstehens jedoch folgendermaßen. Ein konkretes Einzelding des Typs F entsteht nicht aus einem nicht-seienden F, sondern aus einem zugrunde liegenden Substrat, das nicht die Form F aufweist: der Materie.
Ein Ding entsteht, indem Materie eine neu hinzukommende Form annimmt. So entsteht eine Bronzestatue, indem eine Bronzemasse eine entsprechende Form annimmt. Die fertige Statue besteht aus Bronze, die Bronze liegt der Statue als Materie zugrunde. Die Antwort auf die Eleaten lautet, dass einer nicht-seienden Statue die Bronze als Materie entspricht, die durch Hinzukommen einer Form zur Statue wird. Der Entstehungsprozess ist dabei von verschiedenen Seinsgraden gekennzeichnet. Die tatsächliche, aktuale, geformte Statue entsteht aus etwas, das potentiell eine Statue ist, nämlich Bronze als Materie.
Materie und Form sind Aspekte eines konkreten Einzeldings und treten nicht selbständig auf. Materie ist immer Stoff eines bestimmten Dings, das schon eine Form aufweist. Sie ist ein relativer Abstraktionsbegriff zu Form. Indem eine derartige Materie in einer neuen Weise strukturiert wird, entsteht ein neues Einzelding. Ein Haus setzt sich aus der Form, dem Bauplan, und Materie, dem Holz und den Ziegeln, zusammen. Die Ziegel als Materie des Hauses sind durch einen bestimmten Prozess auf eine bestimmte Weise geformter, konfigurierter Lehm. Unter Form versteht Aristoteles seltener die äußere Gestalt, in der Regel die innere Struktur oder Natur, dasjenige, was durch eine Definition erfasst wird. Die Form eines Gegenstandes eines bestimmten Typs beschreibt dabei Voraussetzungen, welche Materie für diesen geeignet ist und welche nicht.
Bewegungen erfolgen nach Aristoteles entweder naturgemäß oder naturwidrig. Nur Lebewesen bewegen sich aus eigenem Antrieb, alles andere wird entweder von etwas bewegt oder es strebt möglichst geradlinig seinem natürlichen Ort entgegen und kommt dort zum Stillstand. Der natürliche Ort eines Körpers hängt von der in ihm vorherrschenden Materieart ab. Wenn Wasser oder Erde vorherrscht, bewegt sich der Körper zum Mittelpunkt der Erde, dem Zentrum der Welt, wenn Feuer oder Luft dominiert, strebt er nach oben. Erde ist ausschließlich schwer, Feuer absolut leicht, Wasser relativ schwer, Luft relativ leicht. Der natürliche Ort des Feuers ist oberhalb der Luft und unterhalb der Mondsphäre. Leichtigkeit und Schwere sind Eigenschaften von Körpern, die mit deren Dichte nichts zu tun haben. Mit der Einführung der Vorstellung einer absoluten Schwere und absoluten Leichtigkeit verwirft Aristoteles die Auffassung Platons und der Atomiste, die alle Objekte für schwer hielten und das Gewicht als relative Größe auffassten.
Das fünfte Element, der Äther des Himmels, ist masselos und bewegt sich kreisförmig und ewig. Der Äther füllt den Raum oberhalb der Mondsphäre; er ist keinerlei Veränderung außer der Ortsbewegung unterworfen. Die Annahme, auf der Erde und am Himmel gälten verschiedene Gesetze, ist für Aristoteles nötig, weil die Bewegung der Planeten und Fixsterne nicht zur Ruhe kommt.
Aristoteles nimmt an, dass für jede Ortsbewegung ein Medium, das entweder als bewegende Kraft wirkt oder der Bewegung Widerstand leistet, erforderlich ist; eine kontinuierliche Bewegung im Vakuum ist prinzipiell unmöglich. Aristoteles schließt sogar die Existenz eines Vakuums aus.
Um Wissen von Veränderungsprozessen und somit von der Natur zu besitzen, muss man die entsprechenden Ursachen kennen. Aristoteles behauptet, es gebe genau vier Ursachentypen, die jeweils auf verschiedene Weise auf die Frage Warum antworten und die in der Regel bei einer vollständigen Erklärung alle angegeben werden müssen:
In der Regel treffen zur Erklärung desselben Sachverhaltes oder Gegenstandes verschiedene Ursachen zugleich zu. Die Formursache fällt oft mit der Bewegungsursache und der Finalursache zusammen. Die Ursache eines Hauses sind so Ziegel und Holz, der Bauplan, der Architekt und der Schutz vor Unwetter. Letztere drei fallen oft zusammen, insofern beispielsweise der Zweck Schutz vor Unwetter den Bauplan im Geist des Architekten bestimmt.
Von einer insgesamt teleologisch ausgerichteten Natur wie bei Platon setzt sich Aristoteles weitgehend ab. Finale Ursachen treten für ihn in der Natur vor allem in der Biologie auf, und zwar beim funktionellen Aufbau von Lebewesen und der Artenreproduktion.
Aristoteles gebraucht den Ausdruck Metaphysik nicht. Gleichwohl trägt eines seiner wichtigsten Werke traditionell diesen Titel. Die Metaphysik ist eine von einem späteren Herausgeber zusammengestellte Sammlung von Einzeluntersuchungen, die ein mehr oder weniger zusammenhängendes Themenspektrum abdecken, indem sie nach den Prinzipien und Ursachen des Seienden und nach der dafür zuständigen Wissenschaft fragen.
Aristoteles spricht in der Metaphysik von einer allen anderen Wissenschaften vorgeordneten Wissenschaft, die er Erste Philosophie, Weisheit Sophia oder auch Theologie nennt. Diese Erste Philosophie wird in dieser Sammlung aus Einzeluntersuchungen auf drei Weisen charakterisiert: Erstens, als Wissenschaft der allgemeinsten Prinzipien, die für des Aristoteles Wissenschaftstheorie zentral sind; zweitens, als Wissenschaft vom Seienden als Seienden, die aristotelische Ontologie; drittens, als Wissenschaft vom Göttlichen, die aristotelische Theologie.
Im Corpus Aristotelicum finden sich in zwei Werken, den frühen Kategorien und der späten Metaphysik, unterschiedliche Theorien des Seienden.
Die Kategorien, die die erste Schrift im Organon bilden, sind vermutlich das einflussreichste Werk des Aristoteles und der Philosophiegeschichte überhaupt.
Die frühe Ontologie der Kategorien befasst sich mit den Fragen‚ was ist das eigentlich Seiende? und wie ist das Seiende geordnet? und ist als Kritik an der Position Platons zu verstehen. Der Gedankengang lässt sich folgendermaßen skizzieren. Unterschieden werden Eigenschaften, die Einzeldingen zukommen. Dafür liegen zwei Deutungsmöglichkeiten nahe: Das eigentlich Seiende, die Substanz sind erstens, abstrakte, unabhängig existierende Urbilder als Ursache und Erkenntnisgegenstand von Eigenschaften. Zweitens, konkrete Einzeldinge als Träger von Eigenschaften.
Aristoteles selbst berichtet, Platon habe gelehrt, man müsse von den wahrnehmbaren Einzeldingen getrennte, nicht sinnlich wahrnehmbare, unveränderliche, ewige Urbilder unterscheiden. Platon nahm an, dass es Definitionen von den Einzeldingen, die sich beständig ändern, nicht geben kann. Gegenstand der Definition und des Wissens sind für ihn die Urbilder, die Ideen, als das für die Ordnungsstruktur des Seienden Ursächliche. Verdeutlichen lässt sich dies an einer von allen Menschen getrennten, einzelnen und numerisch identischen Idee des Menschen, die für das jeweilige Menschsein ursächlich ist und die Erkenntnisgegenstand ist für die Frage: Was ist ein Mensch?.
Des Aristoteles Einteilung des Seienden in den Kategorien scheint sich von der skizzierten Position Platons abzugrenzen. Er orientiert sich dabei an der sprachlichen Struktur einfacher Sätze der Form S ist P und der sprachlichen Praxis, wobei er die sprachliche und die ontologische Ebene nicht explizit voneinander scheidet.
Einige Ausdrücke – wie Sokrates – können nur die Subjektposition S in dieser sprachlichen Struktur einnehmen, alles andere wird von ihnen prädiziert. Die Dinge, die in diese Kategorie der Substanz fallen und die er Erste Substanz nennt, sind ontologisch selbständig; sie bedürfen keines anderen Dinges, um zu existieren. Daher sind sie ontologisch primär, denn alles andere ist von ihnen abhängig und nichts würde ohne sie existieren.
Diese abhängigen Eigenschaften bedürfen eines Einzeldings, einer ersten Substanz als eines Trägers, an der sie vorkommen. Derartige Eigenschaften können einem Einzelding jeweils zukommen oder auch nicht zukommen und sind daher akzidentelle Eigenschaften. Dies betrifft alles außerhalb der Kategorie der Substanz.
Für einige Eigenschaften gilt nun, dass sie in der Weise von einem Einzelding ausgesagt werden können, dass ihre Definition auch von diesem Einzelding gilt. Sie kommen ihm daher notwendig zu. Dies sind die Art und die Gattung. Aufgrund dieses engen Bezugs, in dem die Art und die Gattung angeben, was eine erste Substanz jeweils ist, nennt Aristoteles sie zweite Substanz. Dabei hängt auch eine zweite Substanz von einer ersten Substanz ontologisch ab.
Aristoteles vertritt also folgende Thesen: Erstens, nur Einzeldinge oder erste Substanzen sind selbständig und daher ontologisch primär. Zweitens, alle Eigenschaften hängen von den Einzeldingen ab. Es existieren keine unabhängigen, nicht-exemplifizierten Urbilder. Drittens, neben kontingenten, akzidentellen Eigenschaften gibt es notwendige, essentielle Eigenschaften, die angeben, was ein Einzelding jeweils ist.
Für Platon ergibt sich als Konsequenz aus seiner Auffassung von den Ideen die Annahme, dass im eigentlichen, unabhängigen Sinne allein die unveränderlichen Ideen existieren; die Einzeldinge existieren nur in Abhängigkeit von den Ideen. Diese ontologische Konsequenz kritisiert Aristoteles eingehend in der Metaphysik. Er hält es für widersprüchlich, dass die Anhänger der Ideenlehre einerseits die Ideen dadurch von den Sinnesobjekten abgrenzen, dass sie ihnen das Merkmal der Allgemeinheit und damit Undifferenziertheit zuweisen, und andererseits zugleich für jede einzelne Idee eine separate Existenz annehmen; dadurch würden die Ideen selbst Einzeldinge, was mit ihrem Definitionsmerkmal Allgemeinheit unvereinbar sei.
In der Metaphysik vertritt Aristoteles im Rahmen seines Vorhabens, das Seiende als Seiendes zu untersuchen, die Auffassung, dass alles Seiende entweder eine Substanz ist oder auf eine bezogen ist. In den Kategorien hatte er ein Kriterium für Substanzen formuliert und Beispiele für diese gegeben. In der Metaphysik thematisiert er nun abermals die Substanz, um nach den Prinzipien und Ursachen einer Substanz, eines konkreten Einzeldings zu suchen. Hier fragt er nun: Was macht Sokrates zu einer Substanz? Dabei spielt die Form-Materie-Unterscheidung, die in den Kategorien nicht präsent ist, eine entscheidende Rolle.
Aristoteles scheint die Substanz vor allem mit Hilfe zweier Kriterien zu suchen, die in der Theorie der Kategorien auf die erste und die zweite Substanz verteilt sind: Erstens, selbständige Existenz oder Subjekt für alles andere, aber nicht selbst Subjekt zu sein: erste Substanz; Zweitens, Definitionsgegenstand zu sein, Erkennbarkeit zu garantieren, das heißt auf die Frage: Was ist X? zu antworten: zweite Substanz.
Das Kriterium wird genauer erfüllt, indem Aristoteles das Wesen als Substanz bestimmt. Mit Wesen meint er dabei, was ontologisch einer Definition entspricht. Das Wesen beschreibt die notwendigen Eigenschaften, ohne die ein Einzelding aufhören würde, ein und dieselbe Sache zu sein. Fragt man: Was ist die Ursache dafür, dass diese Materieportion Sokrates ist?, so ist des Aristoteles Antwort: Das Wesen von Sokrates, welches weder ein weiterer Bestandteil neben den materiellen Bestandteilen ist, denn dann bedürfte es eines weiteren Strukturprinzips, um zu erklären, wie es mit den materiellen Bestandteilen vereint ist, noch etwas aus materiellen Bestandteilen, denn dann müsste man erklären, wie das Wesen selbst zusammengesetzt ist.
Aristoteles ermittelt die Form eines Einzeldings als sein Wesen und somit als Substanz. Mit Form meint er weniger die äußere Gestalt als vielmehr die Struktur: Die Form erstens wohnt dem Einzelding inne; zweitens bewirkt sie bei Lebewesen die Entstehung eines Exemplars derselben Art und bei Artefakten als formale Ursache im Geist des Produzenten die Entstehung des Einzeldings. Drittens geht die Form der Entstehung eines aus Form und Materie zusammengesetzten Einzeldings voraus und entsteht und verändert sich nicht und bewirkt so eine Kontinuität der Formen, die für Aristoteles ewig ist; drittens ist die Form Ursache, Erklärung der wesentlichen Eigenschaften und Fähigkeiten eines Einzeldings, welche sich aus Fähigkeiten wie Nährvermögen, Wahrnehmungsvermögen, Denkvermögen unter anderem konstituiert.
Dass die Form als Substanz auch das genannte Kriterium, selbständig zu sein, erfüllen muss, und dies teilweise als Kriterium für etwas Individuelles aufgefasst wird, ist einer von vielen Aspekten in folgender zentralen interpretatorischen Kontroverse: Fasst Aristoteles die Form als etwas Allgemeines oder als etwas Individuelles auf? Als Problem formuliert: Wie kann die Form zugleich Form eines Einzeldings und Gegenstand des Wissens sein?
Die für die Ontologie wichtige Beziehung zwischen Form und Materie wird durch ein weiteres Begriffspaar genauer erläutert: Akt und Potenz.
Für die Form-Materie-Unterscheidung ist die später ontologisch genannte Bedeutung von Potenz oder Vermögen wichtig. Potentialität ist hier ein Zustand, dem ein anderer Zustand, der der Aktualität, gegenübersteht, indem ein Gegenstand der Wirklichkeit nach F oder dem Vermögen, der Möglichkeit nach F ist. So ist ein Knabe der Möglichkeit nach ein Mann, ein ungebildeter Mensch der Möglichkeit nach ein gebildeter.
Dieses Verhältnis von Aktualität und Potentialität bildet die Grundlage für das Verhältnis von Form und Materie, denn Form und Materie sind Aspekte eines Einzeldings, nicht dessen Teile. Sie sind im Verhältnis von Aktualität und Potentialität miteinander verbunden und konstituieren so erst das Einzelding. Die Materie eines Einzeldings ist demnach genau das potentiell, was die Form des Einzeldings und das Einzelding selbst aktual sind. Zum einen ist zwar eine bestimmte Portion Bronze potentiell eine Kugel wie auch eine Statue. Zum anderen aber ist die Bronze an einer Statue potentiell genau das, was die Statue und deren Form aktual sind. Die Bronze der Statue ist ein konstituierendes Element, aber nicht mit ihr identisch. Und so sind auch Fleisch und Knochen potentiell das, was Sokrates oder seine Form aktual sind.
So wie die Form gegenüber der Materie ist für Aristoteles auch die Aktualität gegenüber der Potentialität primär. Unter anderem ist sie der Erkenntnis nach primär. Man kann nur dann ein Vermögen angeben, wenn man Bezug auf die Wirklichkeit nimmt, zu der es ein Vermögen ist. Das Sehvermögen etwa lässt sich nur bestimmen, indem man auf die Tätigkeit des Sehens Bezug nimmt. Des Weiteren ist die Aktualität im entscheidenden Sinne auch zeitlich früher als die Potentialität, denn ein Mensch entsteht durch einen Menschen, der aktual Mensch ist.
Aristoteles unterscheidet im Vorfeld seiner Theologie drei mögliche Substanzen: erstens, sinnlich wahrnehmbare vergängliche, zweitens, sinnlich wahrnehmbare ewige und drittens, nicht sinnlich wahrnehmbare ewige und unveränderliche. Das Erste sind die konkreten Einzeldinge, das Zweite die ewigen, bewegten Himmelskörper, das Dritte erweist sich als der selbst unbewegte Ursprung aller Bewegung.
Aristoteles argumentiert für einen göttlichen Beweger, indem er feststellt, dass, wenn alle Substanzen vergänglich wären, alles vergänglich sein müsste, die Zeit und die Veränderung selbst jedoch notwendig unvergänglich sind. Aristoteles zufolge ist die einzige Veränderung, die ewig existieren kann, die Kreisbewegung. Die entsprechende beobachtbare kreisförmige Bewegung der Fixsterne muss daher als Ursache eine ewige und immaterielle Substanz haben. Enthielte das Wesen dieser Substanz Potentialität, könnte die Bewegung unterbrochen werden. Daher muss sie reine Aktualität, Tätigkeit sein. Als letztes Prinzip muss dieser Beweger selbst unbewegt sein.
Nach Aristoteles bewegt der unbewegte Beweger wie ein Geliebtes, nämlich als Ziel, denn das Begehrte, das Gedachte und insbesondere das Geliebte kann bewegen, ohne bewegt zu sein. Seine Tätigkeit ist die lustvollste und schönste. Da er immaterielle Vernunft ist und seine Tätigkeit im Denken des besten Gegenstandes besteht, denkt er sich selbst: das Denken des Denkens. Da nur Lebendiges denken kann, muss er zudem lebendig sein. Den unbewegten Beweger identifiziert Aristoteles mit Gott.
Der unbewegte Beweger bewegt die gesamte Natur. Die Fixsternsphäre bewegt sich, da sie mit der Kreisbewegung die Vollkommenheit nachahmt. Die anderen Himmelskörper werden vermittelt über die Fixsternsphäre bewegt. Die Lebewesen haben Anteil an der Ewigkeit, indem sie mittels der Fortpflanzung ewig bestehen.

ACHTES KAPITEL
EPIKTET
Die Philosophie von Epiktet fügt sich in die Tradition der stoischen Schule ein. So verweist er beständig auf die großen Schuloberhäupter Zenon, Kleanthes und Chrysippos. Vertreter der mittleren Stoa wie Panaitios oder Poseidonios zitiert er jedoch nie direkt. Großen Einfluss auf sein Denken übte Platon aus, dessen Schriften insbesondere im Bereich der Ethik den Stoikern und besonders auch Epiktet Anregungen boten. Zudem schätzt Epiktet Platon als Quelle für Leben und Lehre des von ihm außerordentlich verehrten Sokrates. In zahlreichen Passagen zitiert oder paraphrasiert er dessen Aussprüche und führt ihn als den Inbegriff eines tugendhaften, nach ethischen Grundsätzen lebenden Menschen an. Diogenes von Sinope verkörpert für Epiktet das Ideal des Cynismus. Im Lehrgespräch Vom Cynismus entwirft Epiktet dementsprechend das Bild des wahren Cynikers, dessen Aufgabe es sei, beständig zu philosophischem Unterricht und einem einfachen Leben aufzurufen und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren. Diese erzieherische Funktion der Cyniker werde erst in einer idealen Gesellschaft philosophisch und moralisch gebildeter Menschen überflüssig. Die Diatribe Vom Cynismus ist ein wichtiges Zeugnis für den Einfluss des Cynismus auf die Stoa der Kaiserzeit und insbesondere auf Epiktet.
Entsprechend den drei Bereichen der stoischen Philosophie beschränkte sich auch Epiktets Lehrtätigkeit auf Physik, Logik und Ethik. Den Schwerpunkt seiner Lehre bildeten ethische Fragen, vor allem Themen der Sittlichkeit und Religiosität. Auch wenn in der Forschung häufig Epiktets Festhalten an traditionellen Vorstellungen der Stoa betont wird, enthält seine Philosophie viele Elemente, die dem bisherigen Stoizismus unbekannt waren.
Der Logik kommt bei Epiktet eine gegenüber früheren Stoikern untergeordnete Rolle zu. Dennoch betont er ihre Notwendigkeit als Grundlage folgerichtigen Denkens und Handelns, als Basis für richtige Begriffe von Werten und Gott sowie als Ausdruck der Vernunft (Logos). So liefert die Logik Begründungen für ethische Grundsätze, womit sie die Grundlagen der menschlichen Lebensführung sichert. Epiktet betont entschieden den Vorrang der angewandten Ethik gegenüber theoretischen Überlegungen, denn für sich genommen bleiben die Mittel der Logik fruchtlos. Die Philosophie besteht laut Epiktet aus drei Bereichen: der Anwendung ihrer Lehren, den Beweisen für deren Richtigkeit und der Begründung und Gliederung dieser Beweise. Diese drei Aspekte hängen zusammen, doch spricht Epiktet der Anwendung den Vorrang zu. Er kritisiert, dass etwa die Beweisführung für den Grundsatz, dass man nicht lügen darf, allgemein bekannt sei, jedoch die Umsetzung, das tatsächliche Vermeiden der Lüge, häufig vernachlässigt werde.
Die Physik beschäftigt Epiktet nur im Rahmen seiner Theologie und Anthropologie. Mit der Kosmogonie befasst er sich nicht. In der Tradition der Stoa lehrt Epiktet die Einheit des Alls als der gesamten Wirklichkeit einschließlich der Gottheit. Der Kosmos ist für ihn eine organische Einheit, er ist wie eine einzige Stadt, in der ein göttliches Gesetz über Werden und Vergehen wacht, alle Einzelteile miteinander in Verbindung stehen und Wechselbeziehungen unterworfen sind. Als der Schöpfer, Ordner und Lenker des Alls hat Gott alles zum Besten gefügt. Im Kosmos, der von der göttlichen Vernunft gänzlich durchwaltet ist, existiert nichts von Natur aus Schlechtes. Die direkte Anwesenheit Gottes in der Welt zeigt sich in der vernünftigen kosmischen Ordnung. Die Verwandtschaft der Dinge im Kosmos reicht bis zu Gott selbst, als dessen kleinen Bestandteil Epiktet die Sonne auffasst.
Auch der Mensch ist ein Teil des Alls und damit in die kosmische Entwicklung eingeordnet. Mit seiner Geburt ist er aus dem Kosmos hervorgegangen, als die Welt seiner bedurfte, im Tod vermischt er sich mit den Elementen und geht in eine andere Form über. Das Leben ist lediglich ein Aufenthalt in einer Herberge, mit dem Tod bricht der Mensch zu einer Reise auf, für die er sich im Leben zu rüsten hat. An ein individuelles Leben nach dem Tod glaubt Epiktet aber nicht.
Der Mensch besteht aus Materie. Er ist jedoch ein bevorzugter Teil von ihr, denn er besitzt nicht nur wie die Tiere einen materiellen Leib, sondern verfügt auch gleich den Göttern über Vernunft und Urteilskraft. Von Natur aus steht der Mensch durch seine Vernunft und seinen Verstand, den er von Gott selbst empfängt, in einem besonderen Verhältnis zu Gott. Seine Seele ist mit Gott verbunden, dessen Bruchstück der Mensch darstellt. Als ein vernunftbegabtes Wesen bildet er zusammen mit Gott das größte, mächtigste und umfassendste System. Aufgrund dieser Beziehung kann er das Wirken des weisen und gütigen Gottes begreifen. Für Epiktet ist damit Gott, den er häufig Zeus nennt oder mit der Natur identifiziert, sowohl das göttliche Ordnungsprinzip des Kosmos als auch eine persönlich erfahrbare Macht. Zugleich bricht er nicht mit dem polytheistischen Pantheismus der stoischen Lehre und spricht immer wieder von mehreren Göttern.
Diesem Göttlichen soll der Mensch für seine körperliche wie geistige Existenz dankbar sein und es unentwegt preisen. Er hat sich den Plänen und Gesetzen Gottes freiwillig zu fügen, bis schließlich der Wille Gottes und der des Menschen eins werden. Der Wille Gottes tritt damit bei Epiktet an die Stelle der von früheren Stoikern gelehrten unabwendbaren Schicksals. Der Begriff Unabwendbares Schicksal kommt in den Werken Epiktets nirgends vor. Man soll sich bei jeder Handlung bewusst machen, dass ein Teil Gottes stets im Handelnden direkt gegenwärtig ist. In diesem Bewusstsein soll man auf Gott wohlgefällige Weise handeln und den im Menschen anwesenden Gott nicht durch unreine Taten beschmutzen. Daher ermahnt Epiktet seine Schüler, rein zu werden, in Übereinstimmung mit dem, was in dir rein ist, und in Übereinstimmung mit Gott. Epiktets Theologie ist somit eine der Grundlagen seiner Ethik und eng mit ihr verbunden.
Im Zentrum der Lehre Epiktets steht die Ethik, deren Gesichtspunkte auch für die anderen Bereiche maßgeblich sind. Orientierung in Grundfragen des Handelns und der Lebensführung zu geben, ist für ihn die wesentliche Aufgabe der Philosophie. Die Kenntnis der philosophischen Ethik verhilft dem Menschen dazu, sich von einem auf bloßer Meinung basierenden Leben abzuwenden und Wissen über ein glückliches Dasein zu erlangen. Wiederkehrende Themen im Denken Epiktets sind die moralische Selbstbestimmtheit des Menschen und seine innere Freiheit, die ihm auch durch äußere Unfreiheit nicht genommen werden kann.
Die Grundlage der Lehre Epiktets bildet die strikte Trennung zwischen solchen Dingen, die man selbst beeinflussen kann, und denen, die außerhalb der Macht des Einzelnen stehen. Diese beiden Bereiche bezeichnet Epiktet auch als das Meine oder Eigene beziehungsweise das Fremde oder Äußere. Mit diesem häufig wiederholten Gedanken beginnt das Handbüchlein: Von den Seienden steht das eine in unserer Macht, das andere nicht in unserer Macht. In unserer Macht stehen Urteil, Trieb zum Handeln, Begehren, Meiden, mit einem Wort alles, was unsere eigene Betätigung ist, nicht in unserer Macht der Leib, der Besitz, Ansehen, Würden, mit einem Wort alles, was nicht unsere Betätigung ist. Und das, was in unserer Macht steht, ist seiner Natur nach frei, nicht zu hindern, nicht zu hemmen; was aber nicht in unserer Macht steht, ist ohnmächtig, sklavisch, behindert, fremder Verfügung unterworfen. Merke dir nun: Wenn du das, was seiner Natur nach sklavisch ist, als frei ansiehst und das Fremde als dein Eigentum, dann wirst du gehindert werden, klagen, in Affekt geraten, Götter und Menschen schelten. Siehst du aber nur das als dein an, was wirklich dein ist, das Fremde aber, wie es der Fall ist, als fremd, so wird dich niemals jemand zwingen, niemand dich hindern; du wirst niemanden schelten und dich über niemanden beklagen; nichts wirst du wider deinen Willen tun, niemand wird dir schaden, keinen Feind wirst du haben; denn es kann dir nichts widerfahren, was dir schadet.
Nur wenn man diese Unterscheidung vornimmt und sie sich vergegenwärtigt, ist nach Epiktets Ansicht persönliches Glück erreichbar. Wer hingegen etwas außerhalb seiner Macht Liegendes begehrt oder zu vermeiden versucht, kann nicht dauerhaft glücklich werden. Er vergisst, dass Außendinge wie Besitz und sozialer Status, Gesundheit und der menschliche Körper, Heimat und Verwandtschaft lediglich kontingent sind und sich daher wandeln oder eingebüßt werden können, ohne dass der Betroffene dies beeinflussen kann. Zugleich macht er sich von äußeren Dingen und anderen Menschen abhängig, schadet damit seiner Seele und verliert seine innere Freiheit. Glücklich wird, wer nach dieser Unterscheidung sein Wollen und Handeln auf diejenigen Bereiche beschränkt, die allein seinem Einfluss unterliegen. Er wird nicht versuchen, dem Tod, der Armut, der Krankheit, den Gesetzen der Natur oder den Plänen Gottes zu entgehen, sondern nur das meiden, was seiner Seele schadet. Ereignisse, die er nicht beeinflussen kann, wird er in Gelassenheit und Zurückhaltung über sich ergehen lassen und sie als Gegebenheiten akzeptieren. In letzter Konsequenz wird ein Mensch, der diesen Grundsatz verinnerlicht hat, nicht verlangen, dass alles so geschieht, wie er es will, sondern sich wünschen, dass alles so geschieht, wie es geschieht. Dadurch wird er sein Glück erreichen.
Die Grundlage der Sittlichkeit stellt nicht allein das Wissen um Tugenden dar, sondern auch eine besondere Fähigkeit der Seele, die Gott dem Menschen verliehen hat: die so genannte Vorzugswahl, Entscheidung, Absicht. Aristoteles führt diesen Ausdruck in der Nikomachischen Ethik als philosophischen Fachbegriff ein, um den Entschluss zu bezeichnen, der gewähltes Handeln bestimmt und in sich Begehren und rationale Elemente vereinigt. In der älteren Stoa findet sich der Ausdruck nicht. Erst Panaitios unterscheidet mit diesem Begriff zwischen spontanem und aufgezwungenem Wollen.
Epiktet verleiht dem Begriff eine ganz spezielle Bedeutung. Für ihn ist die Entscheidung die Fähigkeit, die sittliches Handeln ermöglicht. Sie stellt den Kern der sittlichen Persönlichkeit dar, das unverletzliche Ich des Menschen. Ihr unterstehen Körper und Wahrnehmung ebenso wie geistige Fähigkeiten. Epiktet sieht in der Entscheidung eine Grundsatzentscheidung des Verstandes darüber, welches Handeln in Einzelsituationen jemand als für sich gut und nützlich betrachtet. Sie regelt nämlich den rechten Gebrauch der Eindrücke, die entweder durch die gewöhnliche Wahrnehmung der Welt oder im menschlichen Geist selbst erzeugt werden.
In Wahrheit gibt es für Epiktet kein Gut oder Übel, vielmehr handelt es sich dabei um falsche Begriffe für an sich wertneutrale Dinge. So stellt der Tod kein Übel dar, lediglich ein gewisses Urteil, das sich Menschen vom Tod bilden, ist furchtbar. Daher ist nur die Furcht vor dem Tod zu fürchten, nicht der Tod selbst. Auch ist Gesundheit kein Gut an sich, Krankheit kein Übel. Nur die richtige oder schlechte Verwendung der Gesundheit macht aus ihr entweder ein Gut oder ein Übel. Die Entscheidung darüber, welcher Wert einem an sich neutralen Ding zukommt, liegt in der Macht des Menschen selbst. Zwar kann auch ein Tier von seinen Vorstellungen Gebrauch machen, aber nur der Mensch kann sie mit seiner Vernunft prüfen und darauf seine Lebensführung aufbauen.
Aufgabe der Entscheidung ist es, Vorstellungen des Verstandes kritisch zu prüfen, den Umgang mit Eindrücken zu kontrollieren und ein Urteil über den Wert der Dinge zu fällen. Entsprechend der strengen Trennung von Außendingen und Innerem äußert sich die richtige Entscheidung darin, dass sich das Streben und Handeln eines Menschen auf den seiner Macht unterliegenden Bereich beschränkt. Ungeachtet äußerer Umstände macht eine Entscheidung, mit der sich der Mensch auf sein Inneres besinnt, innerlich wahrhaft frei. Ein solcher Mensch lebt in Unerschütterlichkeit, innerer Ruhe, unter Beherrschung der Affekte, im guten Fluss des Lebens und letztlich in Glückseligkeit.
Um eine gefestigte Entscheidung erlangen, benötigt man beständige Selbsterziehung und Übung, Askese im ursprünglichen Sinne dieses Begriffs. Wichtig ist, dass man die Grundsätze nicht nur kennt, sondern im täglichen Leben anwendet. Epiktet empfiehlt daher, sich regelmäßig selbst zu beobachten, Stunden der Besinnung zu suchen, sich der Triebe und Begierden zu enthalten, keine vorehelichen sexuellen Kontakte zu pflegen, seine Emotionen zu zügeln und schlechten Umgang zu meiden.
Entscheidend ist vor allem die geistige Übung. Mit ihr soll sich der Mensch immer bewusst machen, dass eine bestimmte Vorstellung nicht mit dem tatsächlichen Ding übereinstimmen muss, das sie zu sein scheint. Daher muss er sie prüfen und sich zunächst die Frage stellen, ob es sich dabei um etwas handelt, was überhaupt in seiner Macht steht. Wenn nicht, soll er die Vorstellung sofort mit den Worten: Du gehst mich nichts an! von sich weisen, um sie nicht in sein Inneres gelangen zu lassen. Damit bildet er sich richtige Vorstellungen, die sich von den allgemein verbreiteten unterscheiden können. Neben solchen Vorstellungen hat der Mensch auch seine Reaktionen auf Außendinge, den Trieb zum Handeln, Begehren und Meiden unter Kontrolle zu halten. Seine Aufgabe ist es, sich um sein Innerstes zu kümmern, eine individuelle Persönlichkeit zu entwickeln und die ihm jeweils zukommende Rolle im Schauspiel der Welt bestmöglich zu spielen.
Obwohl Epiktet die Konzentration auf das Innere des Menschen in den Vordergrund stellt, spielen bei ihm auch die Verpflichtungen anderen gegenüber eine große Rolle. Diese Pflichten hängen vor allem von den jeweiligen sozialen Beziehungen ab. Dementsprechend hat jeder Mensch seine ihm zukommenden Aufgaben zu erfüllen. So hat ein Sohn auch einem schlechten Vater gegenüber Pflichten; dessen Fehler dürfen den Sohn nicht dazu verleiten, die eigenen Pflichten zu vernachlässigen oder sein Verhalten zu ändern.
Zur sittlichen Vollkommenheit gehört auch die Pflege der Tugenden. Unter ihnen betont Epiktet vor allem die Schamhaftigkeit als eine naturgegebene Eigenschaft, die den Menschen von moralischen Verfehlungen zurückhält, und die Zuverlässigkeit als Grundlage gesellschaftlichen Lebens. Als ein zahmes und für die Gemeinschaft bestimmtes Lebewesen ist der Mensch auf die Gemeinschaft angewiesen. Da alle Menschen göttlichen Ursprungs und daher Brüder sind, soll die Liebe zum Menschen unterschiedslos allen gelten.

NEUNTES KAPITEL
PLOTIN
Plotin betrachtete sich nicht als Neuerer und Erfinder eines neuartigen Systems. Vielmehr legte er Wert darauf, ein treuer Anhänger der Lehre Platons zu sein. Bei seiner Anknüpfung an Platon stützte er sich vor allem auf dessen Dialog Parmenides. Er war der Überzeugung, seine Philosophie sei konsequent aus Platons Darlegungen abgeleitet, sie sei eine authentische Interpretation und bruchlose Fortsetzung des ursprünglichen Platonismus und er formuliere explizit, was bei Platon auf unentfaltete Weise ausgedrückt sei.
Zur Begründung für seine Bevorzugung des Platonismus gab Plotin an, Platon habe sich klar und ausführlich geäußert und seine Darlegungen seien meisterhaft, die Vorsokratiker hingegen hätten sich mit dunklen Andeutungen begnügt. Außerdem machte er geltend, Platon habe als einziger die absolute Transzendenz des höchsten Prinzips erkannt. Mit dem Gedankengut anderer Philosophenschulen – der Stoiker und der Peripatetiker – setzte er sich auseinander. Er übernahm daraus Ansätze, die ihm mit dem Platonismus vereinbar schienen, andere Ideen verwarf er. Unplatonische Vorstellungen aus orientalischen religiösen Bewegungen (Gnosis, Zoroastrismus, Christentum) bekämpfte er nachdrücklich, indem er entweder eine schriftliche Entgegnung formulierte oder einen Schüler mit der Widerlegung beauftragte. Im Unterschied zu anderen Platonikern berief er sich nie auf orientalische Weisheit, sondern ausschließlich auf die griechische Tradition.
Grundlegend ist für Plotin die Scheidung der gesamten Vielfalt der Dinge in eine übergeordnete, rein geistige Welt und eine untergeordnete, sinnlich wahrnehmbare Welt. Das Unterordnungsverhältnis dieser beiden Bereiche ist der markanteste Ausdruck der hierarchisch abgestuften ontologischen Ordnung der Gesamtwirklichkeit. Bei der detaillierten Ausarbeitung dieses Ordnungssystems geht Plotin von einschlägigen Hinweisen Platons aus. Der den Sinnen unzugängliche Teil der Gesamtwirklichkeit gliedert sich nach seiner Lehre in drei Bereiche: das Eine, den absoluten, überindividuellen Geist samt den platonischen Ideen und das Seelische (Weltseele und andere Seelen). Die sinnlich wahrnehmbare Welt ist das Ergebnis einer Einwirkung aus der geistigen Welt auf die formlose Urmaterie, in der dadurch die Gestalten der verschiedenen Sinnesobjekte in Erscheinung treten.
Den Ausgangspunkt für die Existenz des Unterscheidbaren, das dem Prinzip der Pluralität oder Vielzahl zugeordnet ist, muss nach Plotins Überzeugung notwendigerweise etwas Einfaches, Undifferenziertes bilden. Die Erkenntnis schreitet vom Komplexeren zum Einfacheren fort. Alles Zusammengesetzte und Mannigfaltige lässt sich auf etwas Einfacheres zurückführen. Das Einfachere ist dem Komplexeren übergeordnet in dem Sinn, dass es die Ursache für dessen Existenz bildet. Daher ist das Einfachere das Höherrangige, denn es bedarf des Komplexeren in keiner Weise, während umgekehrt das Komplexere ohne das Einfachere nicht existieren kann. Gegenüber dem Einfachen ist das Komplexe stets mangelhaft. Letztlich muss ein gedankliches Voranschreiten vom Komplexeren zum Einfacheren zu einem Einfachsten führen. Das Einfachste kann auf nichts anderes mehr rückführbar sein; hier muss man halt machen, sonst träte ein Fortschreiten ins Endlose ein. Mit dem Einfachsten ist somit der höchste mögliche Bereich der Gesamtwirklichkeit erreicht. Dieses schlechthin Einfache nennt Plotin das Eine. Es kann als äußerster Gegensatz zum Differenzierten und Mannigfaltigen keine Unterscheidung enthalten, weder eine Zweiheit noch sonstige Pluralität. In diesem Zusammenhang erinnert Plotin daran, dass die Pythagoreer mit Bezugnahme auf den Namen des Gottes Apollon das Eine auch den Nichtvielen nannten. Da Plotin ausnahmslos alles, was geistig oder physisch existiert, auf das Eine zurückführt, ist seine Philosophie monistisch.
Als Ursprung und Existenzgrund aller Dinge ist das Eine das Höchste, was es geben kann. In einer religiösen Terminologie käme ihm faktisch die Rolle der obersten Gottheit zu. Eine solche Bestimmung wäre jedoch bereits eine unangemessene Differenzierung, denn jede Bestimmung impliziert einen Unterschied und damit eine Nicht-Einheit. Aus diesem Grund ist es auch unzulässig, dem Einen Merkmale zuzuschreiben, die als göttlich gelten, etwa es mit dem Guten oder dem Sein zu identifizieren. Vielmehr ist das Eine weder seiend noch nichtseiend, sondern überseiend, und weder gut noch schlecht, sondern jenseits solcher Begrifflichkeit. Aus dem Blickwinkel des Denkenden erscheint es als etwas Höheres, Erstrebenswertes und damit Gutes, aber für sich selbst ist es nicht gut. Man kann nicht einmal wahrheitsgemäß aussagen, dass das Eine ist, denn das Sein als Gegenteil des Nichtseins oder das vollkommene Sein im Gegensatz zu einem geminderten Sein setzt bereits eine Unterscheidung voraus und damit etwas, was dem Einen nachgeordnet ist. Genau genommen ist auch die Bestimmung des Einen als Eines, als einfach oder einheitlich im Sinne eines Gegensatzes zur Pluralität eine Verkennung seiner wahren, gegensatzfreien Natur, über die paradoxerweise überhaupt keine zutreffende Aussage möglich ist. Das Eine ist unsagbar. Wenn Plotin dennoch Aussagen über das Eine macht, so pflegt er solche Feststellungen mit Einschränkungen wie gleichsam, gewissermaßen zu versehen. Damit stellt er klar, dass diese Begriffe hier nicht in ihrer gewöhnlichen Bedeutung gemeint sind, sondern nur etwas andeuten sollen, was er nur unzulänglich ausdrücken kann.
Das Eine bleibt somit einem verstandesmäßigen, diskursiven Begreifen prinzipiell entzogen. Dennoch zwingt nach Plotins Auffassung die Vernunft zur Annahme des Einen. Außerdem meint er, es gebe einen übervernünftigen Zugang zum Einen, da es erlebt werden könne. Dies werde möglich, wenn man sich nach innen wende und nicht nur das Sinnliche, sondern auch alles Geistige hinter sich lasse. Einen solchen Vollzug der Annäherung an das Eine und Vereinigung mit ihm hat Plotin nach des Porphyrios Angaben als wiederholtes Erlebnis für sich selbst in Anspruch genommen. Wegen seiner Behauptung, es gebe eine das Denken übersteigende Erfahrung einer höchsten Wirklichkeit, wird Plotin oft als Mystiker bezeichnet.
In der ontologischen Hierarchie folgt auf das Eine unmittelbar der Geist, der Intellekt, eine absolute, transzendente, überindividuelle Instanz. Der Geist geht aus dem Einen im Sinne einer überzeitlichen Kausalität hervor. Gemeint ist hier nicht ein Hervorbringen als Erschaffen im Sinne eines willentlichen Tuns des Einen, sondern eine Naturnotwendigkeit. Der Geist als ein bestimmtes Etwas entströmt dem undifferenzierten Einen (in einer Emanation), doch ohne dass die Quelle selbst davon betroffen ist und sich dabei irgendwie verändert. Damit entsteht zugleich, da Eines und Geist zweierlei sind, das Prinzip der Zweiheit und Unterschiedlichkeit. Tätigkeitswörter wie Hervorgehen, Überfließen oder Entstehen, die auf ein Werden deuten, sind allerdings in diesem Zusammenhang nicht wörtlich aufzufassen, sondern nur metaphorisch. Das Hervorgehen ist nicht als zeitlicher Vorgang im Sinne eines Daseinsbeginns zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum zu verstehen. Plotin meint damit nur, dass das Hervorgehende seine Existenz dem verdankt, aus dem es hervorgeht, und ihm daher untergeordnet ist. Die Emanation veranschaulicht Plotin mit dem Bild der Sonne oder auch einer Quelle. Von der Sonne gehen unablässig Lichtstrahlen aus, ohne dass sie selbst dabei eine Einbuße oder sonstige Veränderung erleidet.
Im Unterschied zum Einen gehört der Geist zu den Dingen, denen bestimmte Merkmale zugeordnet werden können; insbesondere kann er als seiend bezeichnet werden. Er bildet den obersten Bereich der Seiendheit oder Substanz. Im Neuplatonismus ist das Sein in Bezug auf ein Ding nicht einfach vorhanden oder nicht vorhanden, sondern es ist abgestuft: Es gibt ein Sein im vollen Sinne und ein eingeschränktes oder gemindertes, mehr oder weniger uneigentliches oder schattenhaftes Sein. Nur dem Geist als oberstem Teil des Seinsbereichs kommt das Sein uneingeschränkt im vollen und eigentlichen Sinne zu. Daher ist für Plotin die Sphäre des Geistes und des Denkens mit derjenigen des wirklichen Seins identisch; ihre Wesensmerkmale Sein und Denken fallen zusammen. Dasselbe ist Denken und Sein, lautet ein von Plotin zitierter Grundsatz des Vorsokratikers Parmenides.
Den Grundsatz, dass das Sein im eigentlichen Sinne das Denken ist, kombiniert Plotin mit der Ideenlehre Platons. Wenn sich der menschliche Intellekt nicht den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen in ihrer Besonderheit zuwendet, sondern den ihnen zugrunde liegenden platonischen Ideen, dann betritt er damit die Denkwelt, das Reich des Geistes. Dort begegnet ihm das Schöne und Gute, insoweit es sich nicht in stets mangelhaften Einzelobjekten zeigt, sondern an und für sich in seiner Vollkommenheit existiert. Wenn die Denkinhalte in ihrem Dasein an und für sich als platonische Ideen erfasst werden, werden sie gedacht. Solches Denken ist nicht ein diskursives Folgern, sondern ein unmittelbares geistiges Ergreifen des Gedachten. Das Gedachte ist nirgends anders zu finden als in der Denkwelt. Die Objekte des Denkens sind die Inhalte des Geistes, der aus nichts anderem als der Gesamtheit der platonischen Ideen besteht.
So gelangt Plotin zu seinem berühmten, für seine Philosophie charakteristischen Lehrsatz: Die Ideen existieren nur innerhalb des Geistes. Manche Platoniker hatten die Ideen als etwas vom Geist Produziertes und ihm somit Untergeordnetes aufgefasst und daher unterhalb des Geistes verortet. Dem widerspricht Plotin mit dem Argument, dass in diesem Fall der Geist leer wäre. Leerheit widerspräche aber seinem Wesen als sich selbst denkender Geist. Hätte er keinen eigenen Inhalt, so könnte er sich nicht selbst denken. Vielmehr müsste er sich, um überhaupt denken zu können, etwas ihm Nachgeordnetem zuwenden, den von ihm selbst hervorgebrachten Denkobjekten. Dann wäre er hinsichtlich seines Wesens, das im Denken besteht, von seinen eigenen Erzeugnissen abhängig. Damit wäre er der Ungewissheit und der Täuschung ausgeliefert, da er nicht zu den Ideen selbst, sondern nur zu Abbildern von ihnen, die er in sich erzeugen müsste, unmittelbaren Zugang hätte. Diese Vorstellung hält Plotin für absurd. Wie schon Aristoteles ist er der Überzeugung, dass der Geist sich selbst denkt und dass sein Denken ausschließlich auf ihn selbst bezogen ist. Im Unterschied zu Aristoteles verbindet er diese Überzeugung aber mit der Lehre von der objektiven Realität der platonischen Ideen.
Wenn bei Plotin vom Geist die Rede ist, so ist mit dem in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff Denken nicht eine bloß subjektive mentale Tätigkeit gemeint. Es besteht keine Analogie zwischen dem Denken des Geistes und der Vorstellung von einem menschlichen Individuum, das im subjektiven Denkakt Gedanken erzeugt. Der Geist ist vielmehr eine objektive Realität, eine unabhängig von den denkenden Einzelwesen existierende Denkwelt, zu der die einzelnen denkenden Individuen Zugang haben. Das dieser objektiven Realität zugewandte Individuum produziert keine eigenen Gedanken, sondern ergreift durch seine Teilhabe am Reich des Geistes dessen Inhalte. In diesem Ergreifen besteht sein individuelles Denken.
Der Geist ist, insoweit er nichts als reiner Geist ist, seinem Wesen nach einheitlich. Da er eine Vielzahl von Ideen umfasst, ist er aber zugleich eine Vielheit. Weil nur den Ideen das eigentliche Sein zukommt, ist der Geist zugleich die Gesamtheit der wirklich seienden Dinge. Außerhalb von ihm gibt es nur uneigentliches, mehr oder weniger gemindertes Sein. Die Anzahl der Denkobjekte, welche die Inhalte des Geistes sind, hält Plotin für endlich, da aus seiner Sicht eine unendliche Anzahl als größtmögliche Absonderung, Vereinzelung und Entfernung von der Einheit eine Verarmung der einzelnen Objekte wäre, die mit der Vollkommenheit des Geistes nicht vereinbar ist. Das Selbstbewusstsein des Geistes betrachtet er nicht als reflexiv, da es sich nicht selbst thematisieren kann. Würde der Geist denken, dass er denkt, so wäre dieser Sachverhalt wiederum Gegenstand des Denkens, was in einen Fortschritt ins Endlose führt. Vielmehr nimmt Plotin eine zusammensetzungslose Einheit und Identität von Denkendem, Gedachtem und Denkakt an. Eine Strukturierung ist nur aus der Perspektive eines diskursiv begreifenden Betrachters erforderlich.
Während das Eine nicht für sich selbst gut ist, sondern nur aus der Perspektive eines unter ihm stehenden Anderen als gut erscheint, ist der Geist an und für sich gut, denn er weist das Höchstmaß an Vollkommenheit auf, das einem Seienden zu eigen sein kann.
An den Geist schließt sich die nächstniedrige Hypostase an, der Bereich des Seelischen. Auch dieser Bereich ist nicht sinnlich wahrnehmbar. Das Seelische bildet den untersten Bereich der rein geistigen Welt; unmittelbar darunter beginnt die Sphäre der Sinnesobjekte. Wie der Geist aus dem Einen geht das Seelische aus dem Geist durch Emanation hervor; es ist eine Selbstentfaltung des Geistes nach außen. Auch hier ist das Hervorgehen nur als Metapher für ein ontologisches Abhängigkeitsverhältnis zu verstehen; es handelt sich nicht um eine Entstehung in der Zeit. Die Seele existiert wie alles Geistige in der Ewigkeit, sie ist ungeschaffen und unvergänglich. Zum Geist verhält sie sich wie Materie zur Form.
Der platonischen Tradition folgend argumentiert Plotin für die Unkörperlichkeit der Seele, die von den Stoikern bestritten wird. Er wendet sich auch gegen die Ansicht, die Seele sei eine bloße Harmonie, wie manche Pythagoreer glaubten, oder nur die Entelechie des Körpers, wie Aristoteles meinte. Für ihn ist die Seele vielmehr eine unveränderliche Substanz, die sich aus eigener Kraft bewegt und keinen Körper benötigt. Das gilt auch für die Seelen der Tiere und Pflanzen.
Die Seele ist das Organisationsprinzip und die belebende Instanz der Welt. Das Seelische betrachtet Plotin als eine Einheit, unter diesem Aspekt nennt er es die Gesamtseele. Die Gesamtseele tritt einerseits als Weltseele in Erscheinung, andererseits als die Vielzahl der Seelen der Gestirne und der verschiedenen irdischen Lebewesen. Die Weltseele belebt den ganzen Kosmos, die Einzelseele einen bestimmten Körper, mit dem sie sich verbunden hat. Es gibt nur eine einzige, einheitliche Seelensubstanz. Daher unterscheiden sich die einzelnen Seelen nicht durch besondere Wesensmerkmale, sondern jede Einzelseele ist mit der Weltseele und mit jeder anderen Einzelseele hinsichtlich ihres Wesens identisch. Wenn Plotin von der Seele spricht, kann somit jede beliebige Seele gemeint sein.
Die Weltseele unterscheidet sich allerdings von einer menschlichen Seele dadurch, dass der Körper der Weltseele der ewige Kosmos ist und der Körper der menschlichen Seele ein vergänglicher Menschenleib. Die einzelnen Seelen sind alle untereinander und mit der Weltseele eng verbunden, da sie von Natur aus eine Einheit bilden. Ihre Wesensgleichheit mit der Weltseele bedeutet aber nicht, dass sie Bestandteile von ihr sind; die Individualität der Seelen bleibt stets gewahrt. Trotz der Wesensgleichheit der einzelnen Seelen bestehen Rangunterschiede zwischen ihnen, da sie ihre gemeinsame geistige Natur in unterschiedlichem Ausmaß verwirklichen. Neben den wechselnden Daseinsbedingungen der einzelnen Seelen, die deren Entfaltungsmöglichkeiten unterschiedlich beeinflussen, gibt es auch naturgegebene, nicht zeitbedingte Rangunterschiede.
Als Hervorbringung des Geistes hat die Seele an ihm Anteil, was sich darin äußert, dass sie zum Denken und zur Wahrnehmung der Ideen befähigt ist. Sie wird gleichsam das, was sie jeweils aufsucht. Durch Aneignung vereint sie sich damit. Wenn sie sich dem Geist zuwendet und in seinem Reich aufhält, ist sie selbst Geist. Das Eine erreicht sie, indem sie mit ihm eins wird. Doch nicht immer wendet sie sich Höherem zu. Sie steht an der Grenze zwischen der geistigen und der sinnlichen Welt und so fallen ihr im Rahmen der Weltordnung auch Aufgaben zu, welche sich auf die unter ihr liegende Sphäre der materiellen, sinnlich wahrnehmbaren Dinge beziehen. Als Weltseele ist sie die Schöpferin und Lenkerin des physischen Kosmos. Als Einzelseele ist sie mit denselben schöpferischen Fähigkeiten ausgestattet wie die Weltseele, und durch ihre Einheit mit der Weltseele ist sie Mitschöpferin; so gesehen erschafft jede einzelne Seele den Kosmos.
Zwischen der Weltseele und den Seelen auf der Erde besteht hinsichtlich ihrer Funktionen ein wichtiger Unterschied darin, dass die Weltseele immer in der geistigen Welt verbleibt und von dort aus das Weltall mühelos beseelt und lenkt, während die Seelen auf der Erde in die Körperwelt hinabgestiegen sind. Die Weltseele befindet sich in einem Zustand unbeeinträchtigter Seligkeit, da sie ihre Heimat nicht verlässt. Sie orientiert sich ausschließlich am Geist. Auf der Erde hingegen sind die Seelen Gefahren ausgesetzt und unterliegen vielen Beeinträchtigungen, je nach ihren dortigen Lebensumständen und der Beschaffenheit ihrer jeweiligen Körper.
Die materielle Welt der Sinnesobjekte wird von der Seele – der Weltseele und den übrigen Seelen als Mitschöpfern – hervorgebracht und belebt. Dabei stützt sich die Seele auf ihre Verbundenheit mit dem Geist, der mitwirkt. Da Plotin wie zahlreiche Platoniker den Schöpfungsbericht in Platons Dialog Timaios nicht wörtlich, sondern in einem übertragenen Sinn auffasst, nimmt er für die physische Welt ebenso wie für die geistige keine Erschaffung in der Zeit an. Die Erde als Zentrum der Welt und die Gestirne existieren ewig, ebenso wie die Seele, zu deren natürlicher Bestimmung es gehört, das Physische ewig hervorzubringen. Da die Seele einerseits zur Ideenwelt des Geistes, andererseits zur materiellen Sphäre Zugang hat, ist sie die Vermittlerin, die dem Materiellen einen Anteil am Geistigen verschafft. Sie bringt die Ideen in die formlose Urmaterie hinein und erschafft damit die Körper, deren Dasein darauf beruht, dass der Materie Form verliehen wird. Die sichtbaren Formen, zu denen die Seele die Materie gestaltet, sind Abbilder der Ideen. Beispielsweise kommt körperliche Schönheit dadurch zustande, dass die Seele ein Stück Materie so formt, dass es Anteil an der geistigen Schönheit erhält.
Der Schöpfungsvorgang vollzieht sich so, dass die Seele zunächst die platonischen Ideen diskursiv aneinander reiht, ohne sie zu verbildlichen. Dies vollbringt sie auf der obersten Ebene ihrer schöpferischen Tätigkeit in der physischen Welt. Auf der nächstniedrigeren Ebene betätigt sich ihre Einbildungskraft (Phantasie), die aus den Ideen immaterielle Bilder macht, welche die Seele innerlich anschaut. Erst auf der untersten Ebene werden aus den Bildern äußere Gegenstände, welche die Seele nun mittels sinnlicher Wahrnehmung erfasst.
Plotins Auffassung von der Materie geht von der einschlägigen Vorstellung und Terminologie des Aristoteles aus. Wie bei Aristoteles ist bei ihm die Materie an sich formlos und daher als solche nicht wahrnehmbar, doch entsteht alles sinnlich Wahrnehmbare dadurch, dass sie immer Formen aufnimmt. Alles Körperliche beruht auf einer Verbindung von Form und Materie. Dieses aristotelische Konzept baut Plotin in seinen Platonismus ein. An und für sich ist die Materie nichts, aristotelisch ausgedrückt reine Potenz, etwas nicht Verwirklichtes, nur als Möglichkeit Bestehendes. So gesehen ist die Materie als Nichtseiendes dasjenige, was sich am stärksten von der geistigen Welt, dem Bereich der im eigentlichen Sinn seienden Dinge, unterscheidet. Damit ist sie das ontologisch Niedrigste und Unvollkommenste. Nichts kann dem Einen ferner stehen als sie. Wie das Eine ist sie bestimmungslos, aber aus entgegengesetztem Grund. Das Eine kann Bestimmungen nicht aufweisen, sondern nur spenden, die Materie kann sie ebenfalls an und für sich nicht besitzen, wohl aber aufnehmen. Die Materie, die den irdischen Dingen zugrunde liegt, kann das Empfangene allerdings nur zeitweilig behalten, sie vermischt sich nicht damit und es muss ihr früher oder später entgleiten. Daher sind die einzelnen irdischen Phänomene vergänglich, während die Materie als solche unwandelbar ist. Über die Materie kann wegen ihrer Bestimmungslosigkeit nur Negatives ausgesagt werden, das, was sie nicht ist. Eigenschaften weist sie nur dadurch auf, dass ihr von außen Formen verliehen werden. Weil sie selbst nicht auf eine bestimmte Art beschaffen ist, kann sie jede beliebige Form aufnehmen, anderenfalls wäre ihre eigene Beschaffenheit ein Hindernis. Zu den negativen Aussagen gehört, dass die Materie keine Begrenzung hat und dass sie absolut kraftlos ist und daher eine rein passive Rolle spielt.
Da der Geist als das Gute und Seiende bestimmt ist und nichts vom Sein weiter entfernt sein kann als die Materie, liegt aus platonischer Sicht die Folgerung nahe, dass die Materie etwas absolut Schlechtes oder Böses sei. Diese Konsequenz hat der Platoniker Numenios, dessen Lehre Plotin intensiv studierte, tatsächlich gezogen. Sie führt mit der Annahme eines eigenständigen bösen Prinzips in den Dualismus. Auch Plotin bezeichnet die Materie als schlecht und hässlich; nichts kann schlechter sein als sie. Dabei ist aber zu beachten, dass dem Schlechten in Plotins monistischer Philosophie keine eigenständige Existenz zukommt, da Schlechtigkeit nur in der Abwesenheit des Guten besteht. Somit ist die Materie nicht in dem Sinne schlecht, dass ihr Schlechtigkeit oder Bösartigkeit als reale Eigenschaft zuzuordnen ist, sondern nur in dem Sinne, dass sie in der ontologischen Hierarchie am weitesten vom Guten entfernt ist. Außerdem kommt die formlose Urmaterie als solche nicht wirklich vor, sondern sie ist bei Plotin wie bei Aristoteles nur ein gedankliches Konstrukt. In Wirklichkeit unterliegt der physische Kosmos immer und überall der Leitung der Seele und damit der gestaltenden Einwirkung der formenden Ideen. Real gibt es Materie nur in Verbindung mit Formen. Daher ist die Unvollkommenheit der materiellen Objekte in der Praxis nie absolut, denn durch ihre Formen empfangen sie die Einwirkung der geistigen Welt. Allgemein gilt der Grundsatz, dass das Aufnehmende das Maß des Aufnehmens bestimmt. Das Niedrigere kann das Höhere nur insoweit empfangen, als seine begrenzte Aufnahmefähigkeit dies zulässt.
Da zwischen der Weltseele und allen anderen Seelen eine Einheit besteht und das ganze Weltall von einem einheitlichen seelischen Prinzip durchdrungen ist, gibt es ein Mitempfinden (Sympathie) zwischen allen Teilen des Alls. Diese Lehre übernimmt Plotin von der Stoa. Allerdings sieht er trotz dieser Verbundenheit der Dinge einen fundamentalen Unterschied zwischen der geistigen und der sinnlich wahrnehmbaren Welt darin, dass in der geistigen Welt jedes ihrer einzelnen Elemente zugleich das Ganze in sich trägt, während in der Körperwelt das Einzelne für sich existiert.
Neben der physischen, sinnlich wahrnehmbaren Materie nimmt Plotin auch eine geistige Materie an, womit er eine Überlegung des Aristoteles aufgreift und platonisch umdeutet. Er meint, dass auch die rein geistigen Dinge, die mit keiner physischen Materie verbunden sind, eines materiellen Substrates bedürfen. Ihre Vielheit bedeutet, dass sie sich voneinander unterscheiden. Das setzt für jedes von ihnen eine eigene Form voraus. Form ist aber für Plotin nur denkbar, wenn es außer einer formenden Instanz auch etwas Geformtes gibt. Daher hält er die Annahme einer allen Formen gemeinsamen geistigen Materie für erforderlich. Die geistige Materie kommt ebenso wie die körperliche nicht ungeformt vor; im Unterschied zu ihr ist sie aber, wie alles Geistige, keinen Veränderungen unterworfen. Ein weiteres Argument Plotins lautet, dass allem Körperlichen, also auch der körperlichen Materie, in der geistigen Welt etwas Analoges als Vorbild zugrunde liegen müsse.
Auf dem Gebiet der Zeitphilosophie fand Plotin in Platons Dialog Timaios nicht nur einzelne Anregungen, sondern ein Konzept, das er übernahm und ausbaute. Der griechische Begriff für Ewigkeit, Äon, bezeichnet ursprünglich Lebenskraft, Leben und Lebenszeit, auf den Kosmos bezogen dessen unbegrenzte Fortdauer, wobei die Fülle dessen, was ein langer oder endloser Zeitraum erbringen kann, impliziert ist. Daran knüpft Platon an. Er prägt aber den Begriff radikal philosophisch um, da aus seiner Sicht eine zeitliche Aneinanderreihung keine Fülle ergibt. Vielmehr ist alles, was sich im Verlauf der Zeit abspielt, durch Mangel charakterisiert: Vergangenes ist abhanden gekommen, Künftiges noch nicht verwirklicht. Uneingeschränkte Fülle ist daher nur jenseits der Zeitlichkeit möglich. Daraus ergibt sich das Konzept einer Ewigkeit, die nicht eine lange oder unbegrenzte Dauer ist, sondern eine überzeitliche Gesamtheit des Seins. Durch die Aufhebung der Trennung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem wird Vollkommenheit möglich. Die Ewigkeit verharrt im Einen, während der Zeitfluss, der ein ständiges Nacheinander von Früher und Später bedeutet, die Wirklichkeit aufspaltet. In der Sprache des Platonismus ausgedrückt ist die Ewigkeit das Urbild, die Zeit das Abbild.
Plotin übernimmt diesen Ewigkeitsbegriff. Er nähert sich ihm vom Aspekt der Lebendigkeit her, der in der ursprünglichen Wortbedeutung enthalten ist. Eine Gemeinsamkeit von Zeit und Ewigkeit ist, dass beide als Erscheinungsformen des Lebens zu verstehen sind, wobei mit Leben die Selbstentfaltung einer Ganzheit gemeint ist. Die geistige Welt ist durch zeitlose Ewigkeit charakterisiert, die körperliche durch den endlosen Zeitfluss. Wie alle Bestandteile des körperlichen Kosmos ist die Zeit ein Produkt der Seele und damit des Lebens, denn die Seele ist in der körperlichen Welt der erschaffende und belebende Faktor. Das Leben der Seele äußert sich darin, dass sich ihre Einheit als kosmische Vielheit zeigt. Ebenso ist auch die Ewigkeit des überzeitlich Seienden als eine Art von Leben aufzufassen. Auch hier versteht Plotin unter Leben die Selbstentfaltung eines einheitlichen Ganzen (des Geistes) in die Vielheit seiner Elemente (der Ideen). Dies bedeutet aber keine Aufspaltung der Einheit, denn die Elemente verbleiben in der Einheit des Ganzen. So wie die Ewigkeit auf der Selbstentfaltung des Geistes, basiert die Zeit auf der Selbstentfaltung der Seele. In der Zeit tritt die Einheit des Lebens der Seele in eine Vielheit auseinander, deren Elemente durch den Zeitfluss voneinander getrennt werden. Damit wird für die Seele das Ineinander der Ideenwelt zu einem geordneten Nacheinander einzelner Ideen, die Seele verzeitlicht sich.
Als Bestandteil der geistigen Welt gehört jede einzelne Seele eigentlich der ewigen Einheit des Geistigen an, doch ihr naturgegebener Wille zu einem Eigendasein ist die Ursache ihrer Vereinzelung. Da diese Vereinzelung als Abtrennung von der Ganzheit des Seins notwendigerweise eine Verarmung ist, besteht in der Seele der Impuls zur Beseitigung dieses Mangels an Fülle. Zeitlich ausgedrückt heißt das Rückkehr in die Einheit.
Das Streben nach Rückkehr zielt auf eine Veränderung, die sich im Bewusstsein der Seele abspielen muss. Das Bewusstsein unterscheidet zwischen dem Wissenden und dem Gewussten und erfasst abgetrennte Inhalte wie den Ist-Zustand und den Soll-Zustand, die es zueinander in Beziehung bringt. Das ist nur als diskursiver Vorgang möglich und setzt daher Zeit voraus. Aus diesem Grund benötigt und erzeugt die Einzelseele eine von ihr individuell erlebte Zeit, ihre spezifische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Obwohl somit die Wirklichkeit des Lebens zeitlich aufgespalten wird, verliert die Seele dabei nicht ihre naturgegebene Teilhabe an der Einheit des Geistes. Daher kann sie Erinnerung erzeugen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen Zusammenhang bringen und so die Zeit als Kontinuum erfassen; anderenfalls würde die Zeit in ein unverbundenes Nacheinander isolierter Augenblicke zerfallen. Da die Seele ein bestimmtes Ziel anstrebt, ist die von ihr geschaffene Zeit zukunftsgerichtet und die Aufeinanderfolge der Ereignisse immer entsprechend geordnet. Im Gegensatz zu menschlichen Seelen haben himmlische Seelen (Weltseele, Gestirnseelen) keine Erinnerung, da sie nicht in die Zeit hinabgestürzt sind.
Plotins Ethik ist stets auf das Heil des Philosophen bezogen, der eine Entscheidung zu fällen hat. Bei allen Überlegungen darüber, was man tun oder lassen soll, steht die Frage im Mittelpunkt, welche Konsequenzen ein bestimmtes Verhalten für den Philosophen selbst hat, ob es sein philosophisches Streben hemmt oder fördert. Diesem Gesichtspunkt wird alles andere untergeordnet. Wie in allen ethischen Theorien der antiken Platoniker ist auch hier die Erlangung und Pflege der Tugenden ein zentrales Anliegen. Ein großer Unterschied zum Denken Platons besteht aber darin, dass der Philosoph nicht in seiner Eigenschaft als Staatsbürger und Teil einer sozialen Gemeinschaft ins Auge gefasst wird. Der für Sokrates und Platon wichtige Dienst am Staat, die Unterordnung persönlicher Bestrebungen unter das Staatswohl spielt in Plotins Lehre keine Rolle. Seine von Porphyrios bezeugte Absicht, eine nach Platons Vorstellungen vom Idealstaat organisierte Siedlung zu gründen, findet in seinen Schriften keinen Widerhall. Berühmt ist seine in philosophischer Literatur oft zitierte Formulierung, die philosophische Lebensweise sei ein Abscheiden von allem anderen, was hier ist, Flucht des Einsamen zum Einen.
Alles Handeln zielt für Plotin letztlich auf ein Betrachten als Zweckursache ab. Der Mensch handelt, weil er das von ihm Geschaffene oder Beschaffte als Schauobjekt zu gewinnen trachtet. Wenn er zu innerer Schau (Theorie) der Ideen nicht in der Lage ist, verschafft er sich als Ersatz dafür gegenständliche Objekte, in denen die Ideen abgebildet sind. Da das Bedürfnis nach Schau das Motiv allen Tuns ist, kommt der Betrachtung und damit der Innenwelt des Subjekts ein prinzipieller Vorrang gegenüber jeder praktischen Bezugnahme auf die Außenwelt zu.
Das Wohl der Person ist für Plotin identisch mit dem Wohl der Seele, denn die Seele allein ist die Person. Da der Körper kein Bestandteil der Person, sondern nur äußerlich und vorübergehend mit ihr verbunden ist, fordert Plotin dazu auf, das Streben nach körperlichen Lüsten zu vermeiden. Generell betrachtet er die irdischen Schicksale mit distanzierter Gelassenheit und vergleicht die Wechselfälle des Lebens mit der Inszenierung eines Theaterstücks. Kein Ereignis hält er für so wichtig, dass es einen legitimen Grund zum Aufgeben der gleichmütigen Grundhaltung des Philosophen böte. Äußere Güter sind für das Glück belanglos, da sie es nicht steigern können; das Glück beruht vielmehr ausschließlich auf dem vollkommenen Leben, der optimal verwirklichten philosophischen Lebensweise.
Das Schlechte und damit auch das im moralischen Sinne Böse weist kein eigenes Sein auf, sondern ist nur Abwesenheit des Guten. Die Abwesenheit des Guten ist niemals absolut; sie ist nur eine größere oder geringere Einschränkung seiner Wirksamkeit, denn die Einwirkung des Guten erreicht sogar die Materie. Daher ist das Böse keine eigenständige Macht, sondern etwas Nichtiges, Bedürftiges und Kraftloses. Es wird überwunden, indem man die Aufmerksamkeit unablässig auf das Gute richtet.
Große Bedeutung misst Plotin der Willensfreiheit zu. Er betont, dass die Tätigkeiten der Seele nicht von Natur aus Wirkungen oder Glieder äußerer Ursachenverkettungen seien. Vielmehr bezieht die Seele die Kriterien ihrer Entscheidungen aus sich selbst. Nur durch ihre Verbindung mit dem Körper unterliegt sie äußeren Zwängen und auch davon ist ihr Handeln nur teilweise betroffen. Ihrer Natur nach ist sie ein selbstbestimmtes Wesen. Die Willensfreiheit sieht Plotin nicht in der Fähigkeit, willkürlich zwischen verschiedenen Optionen zu wählen, also keiner Determination unterworfen zu sein. Vielmehr besteht Willensfreiheit darin, dass man in der Lage ist, gerade das zu tun, wonach das eigene Wesen des Handelnden spontan strebt, wenn er keinem äußeren Druck und keinem Irrtum unterliegt. Das nicht willkürliche, aber spontane Handeln, mit dem die Seele gemäß ihrer geistigen Natur konsequent ihrer eigenen Einsicht folgt, ist Ausdruck ihrer Selbstgenügsamkeit. Sie fügt sich nicht in eine bereits bestehende Kausalität ein, sondern setzt selbst den Anfang einer Ursachenreihe. Dieser Überzeugung folgend wendet sich Plotin gegen deterministische und fatalistische Lehren, die das menschliche Schicksal als Ergebnis äußerer Einwirkungen auffassen. Insbesondere bekämpft er ein astrologisches Weltbild, das die menschlichen Charaktereigenschaften und Schicksale auf Einwirkungen der Gestirne zurückführt und damit die Freiheit der Seele beschränkt. Einen Einfluss der Sterne räumt er zwar ein, doch hält er ihn für unwesentlich. Die Möglichkeit eines blinden Zufalls verneint er, da nichts in der Welt willkürlich geschehe, sondern alles wohlgeordnet sei.
Eine Selbsttötung lehnt Plotin im Allgemeinen ab. Er begründet dies damit, dass das Motiv zu einer solchen Tat in der Regel mit Affekten zusammenhänge, denen sich der Philosoph nicht unterwerfen solle. Außerdem schneide man sich damit noch vorhandene Entwicklungsmöglichkeiten ab. Nur in Sonderfällen, etwa wenn Geistesverwirrung droht, hält er den freiwillig gewählten Tod für einen Ausweg, der zu erwägen ist.
Plotin geht davon aus, dass jede Seele aufgrund ihrer immateriellen Beschaffenheit in der geistigen Welt, der sie entstammt, beheimatet ist. Sie hat aber die Möglichkeit, in die Körperwelt hinabzusteigen und sich dort mit einem Körper zu verbinden, den sie dann lenkt und als Werkzeug benutzt. In dieser Rolle kann sie wiederum wählen, ob sie ihre Aufmerksamkeit und ihr Streben überwiegend auf das rein Geistige richten oder sich an körperbezogenen Zielen orientieren will. Auf der Erde findet sie materielle Abbilder der Ideen vor, die sie an ihre Heimat erinnern und daher verlockend sind. Diese Abbilder sind allerdings im Gegensatz zu den zeitlosen Ideen vergänglich und daher trügerisch. Außerdem sind sie als Abbilder im Vergleich mit ihren Urbildern stets sehr unvollkommen.
Die Verbindung der Seele mit dem Körper fasst Plotin nicht im gängigen Sinne so auf, dass die Seele sich im Körper aufhält und ihn bewohnt, sondern er meint umgekehrt, dass sie den Körper umschließt. Beim Tod des Körpers verlässt ihn die Seele. Die Trennung vom Körper bedeutet aber für die Seele keinen Abschied von der Körperwelt, denn nach der platonischen Seelenwanderungslehre sucht sie sich einen neuen Körper. Dies kann nach Plotins Meinung auch ein tierischer oder sogar ein pflanzlicher Körper sein. So reiht sich eine Wiedergeburt an die andere. Grundsätzlich hat die Seele aber die Möglichkeit, diesen Kreislauf zu unterbrechen und aus der Körperwelt in ihre geistige Heimat zurückzukehren.
Eine zentrale Rolle spielt im Denken Plotins die Frage, warum sich eine Seele jemals dafür entscheidet, ihren naturgemäßen Ort in der geistigen Welt zu verlassen und sich ins Exil zu begeben. Die Verbindung mit einem Körper unterwirft sie einer Vielzahl von Beschränkungen und Nachteilen, die für sie naturwidrig sind, und ist daher erklärungsbedürftig. Plotin bemüht sich eingehend um eine Erklärung. Der Abstieg der Seelen aus der geistigen Welt in die Körperwelt und ihre mögliche Rückkehr ist das Kernthema seiner Philosophie. Er fragt nach den Ursachen und Bedingungen beider Vorgänge.
Die Erklärungen und Einschätzungen des Abstiegs, die er findet und in seinen Schriften erörtert, vermitteln kein einheitliches Bild. Generell bewertet er jede Wendung zu einem niederen Zustand negativ. Das Höhere ist stets das Erstrebenswerte und alles strebt von Natur aus dem Guten zu. Dass die konsequente Abwendung vom Körperlichen und Hinwendung zum Geistigen und der Aufstieg in die Heimatregion das Ziel der Seele sein soll, steht für Plotin unzweifelhaft fest. Ausdrücklich äußert er seine Ansicht, wonach es für die Seele besser ist, ihre Bindungen an die Körperwelt zu lösen und aus dem irdischen Dasein auszuscheiden; damit erlangt sie Glückseligkeit. Das Leben mit dem Körper ist für sie ein Übel, die Trennung von ihm etwas Gutes, der Abstieg der Beginn ihres Unheils. Porphyrios berichtet von seinem Eindruck, dass Plotin sich schämte, einen Leib zu haben. Solche Äußerungen scheinen die Folgerung nahe zu legen, dass der Abstieg der Seele naturwidrig und ein Fehler ist, der rückgängig gemacht werden sollte. Diese Konsequenz zieht Plotin aber nicht, denn sie widerspricht seiner Grundüberzeugung, dass die bestehende Weltordnung vollkommen und naturnotwendig ist. Im Rahmen einer durchgängig vollkommenen Weltordnung muss auch der Aufenthalt der Seele in einer ihr eigentlich fremden Umwelt einen Sinn haben. Diesen Sinn bemüht er sich zu finden.
Die Lösung findet er in der Annahme, dass das, was für die einzelne Seele ein Übel ist, unter dem übergeordneten Aspekt der kosmischen Gesamtordnung sinnvoll und notwendig ist. Die Seele erleidet durch ihren Abstieg eine beträchtliche Einbuße an Wissen und Erkenntnisfähigkeiten. Sie vergisst dabei ihre Herkunft und ihr eigenes Wesen und setzt sich vielen Nöten aus. Aber die Körperwelt profitiert dabei, denn sie erhält durch die Anwesenheit der Seele Anteil am Leben und an der geistigen Welt. Solche Teilhabe kann ihr nur die Seele vermitteln, da die Seele die einzige Instanz ist, die als Angehörige des Grenzbereichs zwischen der geistigen und der physischen Welt die Verbindung zwischen den beiden Teilen der Gesamtwirklichkeit herstellen kann. In einer vollkommenen Gesamtordnung muss auch der niedrigste Bereich des Ganzen soweit vervollkommnet werden, wie dies überhaupt möglich ist. Diese Aufgabe fällt den Seelen zu, die sich damit an der Fürsorge für das All beteiligen. Daher können und sollen sich die Seelen nicht endgültig von der körperlichen Existenzweise befreien. Eine Rückkehr in die geistige Heimat kann nur vorübergehend sein, denn die Körperwelt bedarf immer der Beseelung, und zwar nicht nur durch die Weltseele und die Gestirnseelen, sondern auch durch die einzelnen Seelen auf der Erde. Der Abstieg der Seelen ist im Rahmen der gesamten Weltordnung eine Notwendigkeit, doch werden sie nicht von einer äußeren Macht dazu gezwungen, sondern folgen einem inneren Drang. Der Faktor, der sie dabei motiviert, ist ihre Kühnheit oder Dreistigkeit. Wenn die Seelen absteigen, wenden sie sich nicht grundsätzlich vom Guten ab und dem Schlechten und Schlechteren zu. Sie streben weiterhin stets nach dem Guten, doch suchen sie es nunmehr in Bereichen, wo es in geringerem Maße hervortreten kann.
Daneben trägt Plotin noch weitere Argumente für seine Annahme vor, dass der Abstieg der Seelen in die Körperwelt kein Fehler in der Weltordnung ist. Die Seele ist von Natur aus so veranlagt, dass sie sowohl in der geistigen als auch in der materiellen Welt leben kann. Daher muss es ihrer Natur entsprechen, diese doppelte Veranlagung auch auszuleben. Indem die Seele im irdischen Dasein Schlechtigkeit erlebt, gewinnt sie höhere Wertschätzung für das Gute. Außerdem kann sie ihre eigenen Kräfte durch die Verbindung mit einem Körper zu einer Wirksamkeit bringen, die in der geistigen Welt mangels Gelegenheit zur Entfaltung ausgeschlossen ist. In der geistigen Welt existieren diese Kräfte nur potenziell und bleiben verborgen, zur Verwirklichung gelangen können sie nur durch die Auseinandersetzung mit der Materie. Die Seele, die in die Körperwelt hinabgestiegen ist, will für sich sein. Sie will etwas anderes als der Geist sein und sich selbst gehören; an ihrer Selbstbestimmung hat sie Freude. Sie begeistert sich für das andersartige Irdische und schätzt es aus Unkenntnis höher als sich selbst.
Dass die Seelen ihrem Drang zum Abstieg folgen, bedeutet für Plotin ein Verschulden, das Leiderfahrung zur Folge hat, doch im Rahmen der Weltordnung ist es sinnvoll und notwendig. Diese Ambivalenz des Abstiegs, den Plotin einerseits als schuldhaft, andererseits als naturnotwendig darstellt, ist ein offenes Problem.
Eine Besonderheit der Lehre Plotins ist seine Überzeugung, dass sich die Seele nicht in ihrer Gesamtheit, sondern nur teilweise an einen Körper bindet. Sie bewahrt nicht nur durch ihre Denkfähigkeit die Verbindung mit dem Geist, sondern ihr höchster Teil verbleibt immer in der geistigen Welt. Durch diesen höchsten Teil hat sie, auch wenn ihr verkörperter Teil Unheil erleidet, ständig Anteil an der ganzen Fülle der geistigen Welt. Damit erklärt sich für Plotin das Verhältnis der Seele zu den leidvollen Gemütserregungen. Die mannigfaltigen Leiden und Unzulänglichkeiten des irdischen Daseins erlebt die Seele mit, aber die Affekte, die dabei entstehen, betreffen sie in Wirklichkeit nicht. Ihrem eigenen Wesen nach und hinsichtlich ihres höchsten Teils ist die Seele frei von Leid. Auch der Körper als solcher kann nicht leiden. Der Träger der Affekte ist der aus dem Leib und dem verkörperten Teil der Seele bestehende Organismus. Er ist auch das Subjekt der Sinneswahrnehmung.
Als Weg zur Befreiung der Seele betrachtet Plotin die philosophische Lebensweise. Auch hier gilt der Grundsatz, dass die Seele dasjenige erlangt oder verwirklicht, dem sie sich zuwendet. Wenn sie sich nach oben orientiert, steigt sie auf. Die Anleitung soll Platons Lehre bieten, die Plotin unter diesem Gesichtspunkt ausbaut. Pflege der Tugenden und unablässige Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf den Geist sind Voraussetzungen zur Erreichung des Ziels. Den Antrieb zu diesem Streben verschafft der Seele ihre Sehnsucht nach dem Schönen, denn die Sehnsucht lenkt sie zur Quelle der Schönheit, dem Geist. Das Schöne besteht nicht, wie die Stoiker meinen, in der Symmetrie von Teilen untereinander und zum Ganzen, denn auch Ungeteiltes kann schön sein. Vielmehr ist es eine metaphysische Realität, auf welche das sinnlich wahrnehmbare Schöne als ihr Abbild hinweist. Indem das sinnlich Schöne auf das geistig Schöne hinlenkt, erfreut und erschüttert es die Seele, denn es erinnert sie an ihr eigenes Wesen. Die Schönheit hängt ursächlich mit der Beseeltheit zusammen; alles Lebendige ist durch die bloße Anwesenheit der Seele schöner als alles Leblose, auch wenn ein Bildwerk hinsichtlich der Symmetrie einem lebenden Menschen weit überlegen sein mag. Somit ist die Schönheit im eigentlichen Sinn ein Aspekt der geistigen Welt und unterliegt als solcher nicht einem auf Sinneswahrnehmung gestützten Urteil.
Um das metaphysische Schöne wahrnehmen zu können, muss die Seele sich selbst schön und damit gottähnlich machen, indem sie sich reinigt. Dies geschieht mittels der Tugend, denn die Tugendhaftigkeit ist Ausdruck des Trachtens nach dem Guten und die Annäherung an das Gute führt zugleich auch zum Schönen, da das Licht des Guten die Quelle aller Schönheit ist. Die Seele hat sich durch Hässliches verunreinigt, aber nur äußerlich; wenn sie die Verunreinigung beseitigt, kann ihre bereits vorhandene naturgegebene Schönheit hervortreten. Der Weg führt vom körperlich Schönen, einem sehr unzulänglichen Abbild, zum seelischen Schönen und von dort zum an sich Schönen, das im Geist zu finden ist. Der in jeder Seele vorhandene Eros richtet sich beim unphilosophischen Menschen auf Schönheit in den Sinnesobjekten, beim Philosophen auf die geistige Welt. Noch höher als die Liebe zum metaphysischen Schönen steht die Liebe zum absoluten Guten.

ZWEITER TEIL

ERSTES KAPITEL

ORIGENES

Origenes, Schüler von Clemens von Alexandrien, war im Wesentlichen Platoniker mit Spuren der Stoa. Er hatte deutliche idealistische Anschauungen und erachtete alles Zeitliche und Materielle als bedeutungslos und gleichgültig; die einzig realen, ewigen Dinge seien hingegen in der Idee beschlossen. Er sah folglich in Gott das ideale Zentrum der geistigen und ewigen Welt, Gott, den reinen Grund, dessen schöpferische Macht die Welt ins Sein gerufen hat, mit der Materie als lediglich notwendigem Substrat.
Ebenso platonisch ist die Lehre, dass jene Seele, die zur Erkenntnis des höchsten Grundes in der Lage ist, aber gefangen im Körper in dieser Welt, nach dem Tod in den göttlichen Bereich steigt, nachdem sie zuvor durch das Feuer gereinigt worden ist.
Auf seiner Suche, das System der griechischen Gedankenwelt mit dem Christentum zu verbinden, fand Origenes seine Vorgänger sowohl im platonischen Philo von Alexandrien und auch der Gnosis. Aber im Kanon des Neuen Testaments und in der Tradition der Kirche verfügte Origenes über ein Kriterium, das ihn von den Extremen der gnostischen Exegese fernhielt.
Dennoch finden sich viele gnostische und hellenistische Ansichten in seinem Werk. So akzeptierte er die Dreiteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist. Er übertrug das auf die heiligen Schriften, die wörtlich, moralisch und mystisch aufzufassen seien. Seele und Geist seien beim Menschen präexistent, das heißt schon vor der Empfängnis seiend. Diese Präexistenz-Lehre sorgte bis zum Mittelalter immer wieder für Streit. Origenes hat aber die Lehre von der Reinkarnation in einem Kommentar zum Evangelium des Matthäus explizit bestritten.
Origenes war ein rigoroser Anhänger der Bibel, keine seiner Aussagen war nicht mit einem biblischen Zitat verbunden. Da der göttliche Logos aus der Heiligen Schrift sprach, galt sie ihm als ein organisches vollständiges Ganzes, und er bekämpfte die Lehre des Marcion von der Minderwertigkeit des Alten Testaments. Er berücksichtigte die Unterschiede und auch Widersprüchlichkeiten zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, aber er erachtete diese als unwesentlich, da sie sich aus einer nicht spirituellen historischen Exegese und einem bloßen Buchstabenglauben ergeben.
In seiner Exegese suchte Origenes die tiefere Bedeutung zu entdecken, die sich in der Heiligen Schrift repräsentierte (den allegorischen, geistlichen Sinn). Eine seiner Hauptmethoden war die Übersetzung der Eigennamen, die ihm, wie Philo von Alexandrien es getan, ermöglichten, regelmäßig in jedem Ereignis der Geschichte eine tiefere Bedeutung zu finden, aber gleichzeitig bestand er auf einer genauen grammatikalischen Deutung des Textes als Grundlage aller Exegese.
Origenes unterschied scharf zwischen der unsichtbaren, idealen, und der sichtbaren, realen Kirche, eine doppelte Kirche der Menschen und der Engel, oder in platonischer Redeweise, die irdische Kirche und sein himmlisches Ideal darstellend. Die ideale Kirche allein sei die Kirche Christi, zerstreut über die ganze Erde, die andere stelle auch einen Schutz für Sünder bereit.
Wichtiger war ihm die platonische Idee der Trennung zwischen der großen Menge der Menschen, die lediglich fähig ist zur wörtlichen Auslegung, und jener Minderheit, welche die verborgene Bedeutung der Schrift und verschiedener Mysterien zu begreifen in der Lage ist, für welche die organisierte irdische Kirche nur etwas Vergängliches ist.
Origenes’ Gottesbegriff ist ein vollkommen abstrakter: Gott ist eine vollkommene Einheit, unsichtbar und unkörperlich und überschreitet alle materiellen Dinge und ist folglich unbegreiflich und unverständlich. Er ist gewissermaßen unveränderbar und überschreitet Raum und Zeit. Aber seine Macht wird durch seine Güte, Gerechtigkeit und Weisheit begrenzt, und obwohl völlig frei von Zwängen, begrenzen ihn seine Güte und Allmacht, sich zu offenbaren.
Diese Offenbarung, die nach außen gewandte Selbst-Emanation Gottes, wird auf verschiedene Weisen ausgedrückt; der Logos sei nur einer von vielen Logoi. Der Logos war die erste Schöpfung Gottes 8nach Sprüche Salomos, achtem Kapitel), um eine schöpferische Verbindung zwischen Gott und der Welt zu schaffen; solch eine Vermittlung sei notwendig, weil Gott, als eine unveränderliche Einheit, nicht die Quelle einer vielfältigen Schöpfung sein könne.
Der Logos ist die vernünftige schöpferische Grundregel, die das Universum durchdringt. Da Gott sich ewig manifestiert, ist auch der Logos gleichsam ewig. Er bildet eine Brücke zwischen der Schöpfung und dem Ungeschaffenen, und nur durch ihn als dem sichtbaren Repräsentanten der göttlichen Weisheit macht der unbegreifliche und nicht körperliche Gott sich bekannt. Die Schöpfung kommt zur Existenz allein durch den Logos, und Gottes nächste Annäherung an die Welt ist das Gebot, zu schaffen. Während der Logos im Wesentlichen eine Einheit ist, umgreift er eine Vielfalt von Begriffen, so dass Origenes den Logos platonisch benennt: Wesen der Wesen und Idee der Ideen.
Die Verteidigung der Einheit Gottes gegen die Gnosis führte Origenes dazu, an der Unterordnung des Sohnes unter dem Vater festzuhalten; die Lehre der ewigen Schöpfung entstand später. Origenes hob deutlich die Unabhängigkeit des Logos sowie die Unterscheidung von Wesen und Substanz Gottes hervor. Die Bezeichnung „wesensgleich dem Vater“ verwendete er nicht. Er sei bloß ein Bild, ein nicht mit Gott zu vergleichender Reflex; wie einer unter anderen Göttern, allerdings von höchstem Rang.
In der Logos-Theorie hebt Origenes die Menschlichkeit Christi deutlich hervor: Der Vater sei größer als der Sohn. Im Arianismus-Streit (auf dem Konzil von Nizäa) versuchen ihn sowohl Arianer als auch orthodoxe Katholiken in ihrem Sinne zu zitieren.
Das Wirken des Logos wurde von Origenes platonisch als das der Weltseele verstanden, in der Gott seine Allmacht manifestiert. Seine Schöpfung war der göttliche Geist als unabhängiges Wesen; und die geschaffenen vernünftigen Wesen waren Teilreflexe des Logos, die, da sie zum vollkommenen Gott als ihrem Verursacher umkehren mussten, gewissermaßen Vollkommenheit anstrebten; wobei der Willensfreiheit ungeachtet der göttlichen Vorsehung eine wesentliche Rolle zukam. Der Logos, ewig schöpferisch, formt endlose Reihen begrenzter, verständlicher, sich voneinander unterscheidender Welten, er nahm die stoische Lehre des Universums auf, er nahm die biblische Lehre des Anfangs und des Endes der Welt auf, er begriff die sichtbare Welt als Stadien eines ewigen kosmischen Prozesses.
Das Sein des Menschen wird als vorübergehende Angelegenheit angesehen, aber seine höhere Natur wird im Bild des Schöpfers geformt. Die Seele teilt er in das Vernunftgemäße und das Vernunftwidrige, wobei das letzte materiell und vorübergehend ist, während das Ehemalige, das nicht körperliche und immaterielle Leben, die Willensfreiheit und das Vermögen zum Neuaufstieg zum reineren Leben besitzt. Der ethische Einfluss dieses kosmischen Prozesses ist unübersehbar. Die Rückkehr zum ursprünglichen Sein in den göttlichen Grund ist der Gegenstand des gesamten kosmischen Prozesses. Durch die Welten, die in ewiger Reihenfolge aufeinander folgen, ist der Geist in der Lage, zum Paradies zurückzukehren. Gott richtete das Universum so ein, dass alle einzelnen Werke zusammen auf ein kosmisches Ziel ausgerichtet sind.
Hinsichtlich der Anthropologie des Origenes ist der Mensch umschlossen vom Bild Gottes, indem er Gott nachahmt, und ist durch gute Werke in der Lage, wie Gott zu sein, wenn er zuvor seine eigene Schwäche erkennt und sich ganz der göttlichen Gnade anvertraut. Ihm wird durch Schutzengel und besonders durch den Logos eine Hilfe zuteil, die durch Heilige und Propheten wirkt.
Den Höhepunkt dieser stufenweisen Offenbarung bildet die universale Offenbarung Christi. In Christus erscheint Gott, der bisher nur als der Herr in Erscheinung trat, als der Vater. Die Inkarnation des Logos war außerdem notwendig, da er nicht anders dem sinnlichen Aufnahmevermögen des Menschen verständlich würde; aber der innewohnende Logos blieb ein Mysterium. Origenes spricht von einem bemerkenswerten Körper, und nach seiner Ansicht wurde der Leichnam Jesu von Gott in einen ätherischen und göttlichen Körper umgewandelt. Seine Vorstellung von der Seele Jesu ist unsicher und schwankend. Er fragt, ob sie nicht ursprünglich mit Gott, aber vollkommen war und Gottes Emanation sei, und auf Gottes Gebot hin einen materiellen Leib angenommen habe. Er sah die Lösung der Schwierigkeit darin, dass er auf das Mysterium der göttlichen Herrschaftsgewalt über das Universum verwies.
Logischer erklärte er die materielle Natur der Welt, sie sei eine bloße Episode im geistlichen Entwicklungsprozess, deren Ende die Vernichtung alles Materiellen sei. Diese Welt werde zu Gott zurückkehren, wo Gott wieder alles in allem sei. Die Lehre der Auferstehung des Fleisches unterstützte er durch die Erklärung, dass der Logos die Einheit des menschlichen Wesens beibehält, indem er seinen Körper in neue Formen ändert und so die Einheit und die Identität der Beschaffenheit des Menschen in der Harmonie mit der Lehre eines endlosen kosmischen Prozesses festhält. Der Logosbegriff des Origenes erlaubte ihm keine definitive Aussage über das Erlösungswerk Jesu. Da die Sünde nach Origenes ein Mangel an reiner Erkenntnis war, war das Werk Jesu im Wesentlichen sein Beispiel und seine Unterweisung. Origenes sah den aber den Tod Jesu auch als Opfer an und setzte ihn mit anderen Fällen einer Selbstopferung für das allgemeine Gute gleich.
Die idealisierende Tendenz des Origenes, die geistlichen Angelegenheiten allein als real zu betrachten, war grundlegend für sein gesamtes System und führte ihn dazu, die vordergründige Eschatologie eines sinnlichen Jenseits zu bekämpfen; er brach jedoch nicht mit den eindeutigen himmlischen Hoffnungen und den Darstellungen des Paradieses, die in der Kirche überwogen. Origenes stellt eine aufsteigende Reinigung der Seelen dar, bis sie, gereinigt von allen Schatten des Bösen, Gott-Vater von Angesicht zu Angesicht sehend, die Wahrheit Gottes kennen würden, so wie der Sohn ihn kannte. Seine Vorstellung entsprach dabei weitgehend dem platonischen Konzept eines Reinigungsortes, das die Welt des Übels reinigen und folglich zur kosmischen Erneuerung führen würde. Durch eine weitere Spiritualisierung konnte Origenes Gott selbst als dieses Reinigungs-Feuer namhaft machen. Im Verhältnis, wie die Seelen von Sünde und Unwissenheit befreit wurden, werde die materielle Welt überschritten, bis, nach unendlichen Äonen, am letzten Ende, Gott alles in allem ist und die Welten und die Geister zur Erkenntnis Gottes zurückkehren.
Ewige Strafen, wie sie in der später vorherrschenden Vorstellung einer Hölle vorkommen, kannte Origenes nicht. Gestützt auf das Schriftwort: „Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem“ war er der Überzeugung, dass selbst Dämonen und der Satan am Ende erlöst werden. Diese Lehre wurde 553 auf dem fünften ökumenischen Konzil, dem zweiten Konzil von Konstantinopel, verworfen.
In seinen Schriften beschäftigte sich Papst Benedikt XVI wiederholt mit Origenes und seiner Eschatologie.

ZWEITES KAPITEL

JOACHIM VON FIORE

Bedeutend ist Joachim von Fiore vor allem wegen seines Geschichtsbildes und seiner exegetischen Methode, bei der er die allegorischen Schriftauslegungen den typologisch-historischen vorzieht. Den historischen Ablauf des Alten und des Neuen Testaments deutet er in einem heilsgeschichtlichen Sinn. Die Geschichte wird in drei Zeitalter gegliedert, welche er mit der Allerheiligsten Dreifaltigkeit in Verbindung bringt: Die Zeit des Vaters  ist die Zeit des Alten Testaments, die Zeit des Sohnes beginnt mit dem Neuen Testament und endet nach seiner Vorhersage 1260, und die Zeit des Heiligen Geistes. Dieses dritte, glückliche Zeitalter werde von der spirituellen Intelligenz erleuchtet sein und alle Freuden des Himmlischen Jerusalem bieten. Das letzte, das Dritte Zeitalter, steht im Zentrum des Geschichtsbildes des Joachim. Dieses Zeitalter wird auch das Dritte Reich genannt. Dem Dritten Reich geht die Ankunft des Antichrist voraus, der dann von einer kirchlichen Persönlichkeit besiegt wird. So identifizierten einige Franziskaner den heiligen Franziskus auf Grund seiner Stigmata als Anderen Christus. Joachims Lehre wird auch mit dem Begriff der Drei-Zeiten-Lehre bezeichnet.
Joachim von Fiore sagte über Petrus Lombardus, er habe neben Gott Vater und Sohn und Heiligem Geist noch die Trinität als vierte kollektive Einheit und damit eine Quaternitas eingeführt. Die These von der Vierfaltigkeit wurde auf dem Vierten Laternakonzil von 1215 als Häresie verurteilt. Joachim wurde von der Kirche nie als Häretiker verurteilt. Seine Lehren verbreiteten sich einige Jahrzehnte nach seinem Tod sehr rasch. Besonders der Franziskanerorden nahm im 13. Jahrhundert Ideen von Joachim auf. 
Seine Ideen fanden im späten 13. und 14. Jahrhundert großen Anklang und verbreiteten sich schnell. So beeinflussten sie auch Dante, vermutlich über die spirituale Strömung der Franziskaner, so dass Dante dann auch Joachim von Fiore in seine Göttliche Komödie aufnahm. So wie er auf die spiritualen Franziskaner wirkte, so kann man auch seinen Einfluss bei den Wiedertäufern der Reformation, und schließlich auch bei Lessing, Hegel, Auguste Comte, Karl Marx und Ernst Bloch erkennen.
Papst Benedikt XVI war lange Jahrzehnte ein führender Joachim-Spezialist. In seiner Habilitationsschrift von 1956 beschäftigte er sich mit der Rezeption von Joachims Geschichtstheologie durch den heiligen Bonaventura. Bonaventura war als Generalminister des Franziskanerordens konfrontiert mit Auseinandersetzungen um die Rolle, die einige Ordensangehörige dem heiligen Franz von Assisi in Joachims Lehre von den drei Zeitaltern zugeschrieben hatten. Benedikt XVI betonte, Joachim sei nicht antihierarchisch eingestellt gewesen, mit dem heiligen Benedikt von Nursia habe laut Joachim das Geist-Zeitalter begonnen.

DRITTES KAPITEL

AVICENNA

Avicenna beschäftigte sich ausgiebig mit philosophischen Fragen, sowohl mit Metaphysik als auch mit Logik und Ethik. Seine Kommentare zu Werken des Aristoteles enthielten konstruktive Kritik an dessen Auffassungen und schufen Voraussetzungen für eine neue Aristoteles-Diskussion. Christliche Wissenschaftler sehen ihn oft als Rationalisten in der Nachfolge von Aristoteles, muslimische Wissenschaftler neigen eher dazu, ihn als Mystiker zu betrachten.
Avicenna schrieb seine frühesten Arbeiten in Buchara. Das erste, ein Kompendium über die Seele, ist eine kurze Abhandlung, in der er sich mit neuplatonischem Gedankengut beschäftigte. Das zweite ist die Philosophie für den Prosodisten, in der er sich mit der Metaphysik des Aristoteles auseinandersetzt.
Nach seinem Aufbruch aus Buchara verfasste Avicenna weitere philosophische Werke, darunter das Buch der Heilung, eine wissenschaftliche Enzyklopädie. Es handelt nicht hauptsächlich von Medizin. Die Bedeutung des arabischen Titels ist etwa: Angemessenheit. Das Buch behandelt Arithmetik, Astronomie, Geometrie, Logik, Musik, Naturwissenschaften, Philosophie und Psychologie. Es wurde sowohl von hellenistischen Denkern wie Aristoteles und Ptolemäus als auch von muslimischen Wissenschaftlern beeinflusst. Das zweite war das Buch des Wissens, in dem er einem Gönner eine Zusammenfassung seiner Philosophie auf der Grundlage des Buchs der Heilung bietet.
Avicenna verfasste außerdem das Buch der Ratschläge und Erinnerungen, ein Werk, das sein Denken über eine Vielzahl von logischen und metaphysischen Themen vorstellt. Ein anderes Werk ist Das Urteil, das sich von den anderen Arbeiten durch seine Radikalität und seine Vermischung von aristotelischem Gedankengut und Neuplatonismus unterscheidet. Sein letztes Werk ist Die östliche Philosophie, das er in um 1020 schrieb; es ist weitgehend verloren gegangen.
Die frühe islamische Philosophie, die sich noch eng am Koran orientierte, unterschied klarer als Aristoteles zwischen Wesen und Existenz. Avicenna entwickelte eine umfassende metaphysische Weltbeschreibung, indem er neuplatonisches Gedankengut mit aristotelischen Lehren verband. Das Verhältnis von Stoff und Form verstand er so, dass im Stoff (der Materie) die Möglichkeiten der Formen (der Essenz) bereits enthalten sind. Gott sei notwendig an sich, alles andere Sein notwendig durch anderes. Gott ist das einzige Sein, bei dem Essenz (Wesen) und Existenz (Dasein) nicht zu trennen sind und das daher notwendig an sich ist. Alles andere Sein ist bedingt notwendig und lasse sich in Ewiges und Vergängliches unterteilen. Gott schuf durch seine geistige Tätigkeit die Weltschöpfung. Der Intellekt des Menschen hat die Aufgabe, den Menschen zu erleuchten. In der Frage der Ideen oder Allgemeinbegriffe vertrat Avicenna auf Platon aufbauend die These, dass diese vor der Erschaffung der Welt bereits im Verstande Gottes sind, in den Dingen effektiv in der Natur zu finden sind und jenseits der Dinge auch in der menschlichen Erkenntnis. Mit dieser Unterscheidung zwischen vor den Dingen, in den Dingen und jenseits der Dinge wurde Avicenna für den abendländischen Universalienstreit von großer Bedeutung. Avicenna bestritt aber die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Gottes Interesse an Einzelereignissen sowie eine Erschaffung der Welt in der Zeit.
Avicenna hatte in Buchara einen Großteil seiner Ausbildung für den Koran und die islamische Religion verwendet. Es heißt, er habe bereits mit zehn Jahren den Koran auswendig gekannt. Zeitlebens war er ein frommer Muslim, der sich streng an die Scharia hielt. Er verfasste fünf Abhandlungen über verschiedene Suren, die generell voll Respekt sind. Nur seine philosophischen Tätigkeiten brachten ihn manchmal in Konflikt mit der islamischen Orthodoxie: Ausgehend von der Seelenlehre des Aristoteles differenzierte er die drei Seelenvermögen weiter aus und ordnete sie der Weltseele unter. Damit widersprach er zentralen Glaubensinhalten, was ihm die Feindschaft sunnitischer Theologen einbrachte. Wie die christlichen Scholastiker nach ihm, versuchte Avicenna die griechische Philosophie mit seiner Religion, die Vernunft mit dem Glauben zu verbinden. So benutzte er philosophische Lehren, um die islamischen Glaubenssätze wissenschaftlich zu unterlegen. Obwohl er sowohl Religion als auch Philosophie als zwei notwendige Teile der ganzen Wahrheit auffasste, argumentierte er, dass die islamischen Propheten mehr Bedeutung als die antiken Philosophen haben sollten.
In der lateinischen Scholastik wurde Avicenna zu dem nach Averroes angesehensten Vertreter der persischen Philosophie und Vermittler der aristotelischen Philosophie und Naturkunde. Seine Werke wurden von Theologen wie Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus rezipiert, aber auch seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert besonders an den medizinischen Fakultäten, und dort dann sowohl unter medizinischen wie auch philosophischen Fragestellungen.
Dante versetzt in seiner Göttlichen Komödie Avicenna zusammen mit seinen beiden muslimischen Glaubensbrüdern Averroes und Saladin in das „edle Schloss“ im Limbus der Hölle, wo ansonsten nur Personen der vorchristlichen heidnischen Antike, insbesondere Philosophen und Dichter der griechischen und römischen Welt, angesiedelt sind: er teilt dort mit ihnen das Schicksal, durch eine tugendhafte Lebensführung zwar der ewigen Verdammnis entgangen zu sein, zugleich aber mangels Teilhabe am Sakrament der Taufe von der Erlösung ins Paradies ausgeschlossen zu sein und deshalb einen Zustand ohne Strafe, aber in ewiger Gottesferne, erleiden zu müssen. Dass er und seine beiden Glaubensbrüder im Unterschied zu ihren heidnischen Leidensgenossen der vorchristlichen Zeit die christliche Lehre bereits kannten und sich zur Taufe hätten entscheiden können, ihr Beharren in einem anderen Glauben folglich auf eigener Wahl beruhte und sie trotzdem nicht mit ihren übrigen Glaubensbrüdern zur Strafe in einem tiefer gelegenen Kreis der Hölle verdammt sind, bringt die besondere Wertschätzung zum Ausdruck, die Dante ihnen entgegen brachte

VIERTES KAPITEL

AVERROES

Averroes war ein offener und kritischer Geist seiner Zeit. In seiner Beschäftigung mit Aristoteles ging er so systematisch wie nur möglich vor und interpretierte ihn wie niemand zuvor. Er schrieb Kommentare in mehreren Abstufungen, kürzere, mittlere und größere, und machte sich als Kommentator des Aristoteles einen Namen. Dante erwähnt ihn in dieser Funktion in seiner Göttlichen Komödie. Aristoteles ist dabei für Averroes der vollkommenste Mensch, der im Besitze der unfehlbaren Wahrheit gewesen sei, sich den Menschen aber nur einmalig gezeigt habe. Er sei die inkarnierte Vernunft gewesen. Diese maßlose Bewunderung führte natürlich auch zu allzu großer Subjektivität und Fehlern in der Interpretation. Besonders seine Kritik an Avicenna war nicht berechtigt, da er sich nicht ausreichend mit ihm beschäftigt hatte. Seine eigene Philosophie baut sehr auf Logik auf, wie es von einem großen Aristoteliker auch nicht anders zu erwarten wäre. Sie beginnt zunächst mit der Frage, ob man überhaupt philosophieren dürfe, ob es vom religiösen Gesetz her erlaubt, verboten, empfohlen oder notwendig sei. In Koran-Versen wie „Denkt nach, die ihr Einsicht habt!“ findet Averroes nicht nur die Aufforderung an die Muslime, über ihren Glauben nachzudenken, sondern auch, die bestmögliche Beweislage für ihr Denken zu finden, und diese sieht er eindeutig in der Philosophie, vor allem in der aristotelischen Beweisführung gegeben. Aber auch Averroes schränkt ein, dass nicht alle Menschen sich mit Philosophie beschäftigen können, sondern nur jene, die einen starken Intellekt besitzen. Er teilt den Koran und dessen Exegese in seinem Werk Die entscheidende Abhandlung in drei Gruppen ein: Erstens, klare und evidente Verse, die direkt und für jedermann verständlich sind (etwa „Es gibt keinen Gott außer Gott“). Zweitens, in ihrer Aussage klare Verse, die aber darüber hinaus auch von Personen mit starkem Intellekt interpretiert und reflektiert werden können (etwa „Der Barmherzige hat sich auf dem Thron zurechtgesetzt“, für „Einfache“ so zu verstehen, dass Gott wie ein König auf dem Thron sitze, während „Personen mit starkem Intellekt“ hier schon einen Machtanspruch Gottes erkennen). Drittens, Verse, bei denen nicht klar ist, ob sie wörtlich oder im übertragenen Sinne zu verstehen sind und bei denen folglich auch die Meinung der Gelehrten abweichen kann (etwa Verse über die Auferstehung oder Ähnliches)
Er greift al-Ghazali in seiner Schrift Die Inkohärenz der Inkohärenz an, der Titel ist in Anlehnung an al-Ghazali Die Inkohärenz der Philosophen gewählt. Dort hatte al-Ghazali die Philosophen vor allem deswegen angegriffen, da sie Unglauben auf Grund von drei Dingen lehrten: Erstens, die Urewigkeit der Welt. Zweitens, das Wissen Gottes um die Einzeldinge nur auf allgemeine Weise. Drittens, die mögliche Auferstehung des Menschen nur mit der Seele, nicht aber dem Leibe.
Averroes antwortete auf diese drei Punkte folgendermaßen: Erstens, der Koran sagt nirgends, dass die Welt aus dem Nichts geschaffen und in der Zeit entstanden sein soll. In den sechs Tagen der Schöpfung schwebte Gottes Thron dem Koran nach sogar „über dem Wasser“, woher davon auszugehen ist, dass die Welt schon existiert haben könnte. Solche Verse ordnet Averroes der dritten Gruppe der Koran-Verse zu, wegen deren Interpretation niemand des Unglaubens bezichtigt werden dürfe. Zweitens, die Philosophen behaupten gar nicht, dass Gott kein Wissen um die Einzeldinge hätte. Sie betonen aber, dass es anders sei als das Wissen der Menschen und dass die Menschen also gar nicht wissen könnten, was Gott alles weiß. Ihr Wissen entstehe Schritt für Schritt, während Gottes Wissen von Ewigkeit her alle Dinge umfasse und daher eine Voraussetzung dafür sei, dass die Einzeldinge nacheinander entstehen. Drittens, auch leugnen die Philosophen die Auferstehung nicht und lehren nichts, was im Widerspruch zum Koran stünde. Auch jene Verse ordnet er der dritten Gruppe der Koran-Verse zu. Also dürfe niemand aufgrund einer anderen Interpretation des Unglaubens bezichtigt werden.
Hier setzt sodann sein eigenes philosophisches System an. Allerdings gibt es hier keine eigenständigen Werke mehr, sondern seine Lehre erstreckt sich auf seine zahlreichen Kommentare und Kompendien zu griechischen Autoren, obwohl er nicht des Griechischen mächtig war. Die Wahrheit sei nach Aristoteles verloren gegangen. Avicenna und anderen wirft er vor, Philosophie mit Theologie verbunden zu haben und somit die Philosophie für Leute wie al-Ghazali überhaupt erst angreifbar gemacht zu haben. Auch Averroes beschäftigte sich wie fast alle islamischen Philosophen mit dem Intellekt und der Vernunft. So habe nicht jeder Mensch seinen eigenen individuellen potenziellen Intellekt, der ihm die Glückseligkeit ermögliche. Denn es gebe nur Einen universalen potenziellen Intellekt. Das Individuum verfüge aber nur über jene Tätigkeiten, die mit der körperlichen Existenz zusammenhängen, die von einer Seele koordiniert würden, einer Seele, die mit dem Körper verbunden sei und mit ihm vergehe. Die geistige Erkenntnis gehöre also nicht in den Bereich des Individuellen.

FÜNFTES KAPITEL

MAIMONIDES
Maimonides wurde zwischen 1135 und 1138 geboren. Er entstammte einer angesehenen Familie aus Cordoba, deren Haus zu den Zentren des dortigen intellektuellen Lebens gehörte. Unterweisung in die jüdische Lehre erhielt er durch seinen Vater, einen Rabbiner in Cordoba. Zudem unterrichteten ihn arabische Lehrer in griechisch-arabischer Philosophie und Naturwissenschaften.
1148, nach der Invasion der Almohaden, die einen intoleranten Islam vertraten und Berber und jüdische Gemeinden verfolgten, wurde seine Familie vor die Wahl gestellt, zum Islam überzutreten oder auszuwandern. Maimonides’ Familie entschied sich für letzteres: Sie floh, verbrachte mehrere Jahre in Spanien und in der Provence und ließ sich 1160 im Marokkanischen Fes nieder. Maimonides vermochte sich während dieser Zeit weiterzubilden und verfasste 1158 eine Einführung in die Grundlagen der Kalenderberechnung und 1159 eine Einführung in die aristotelische Logik.
Maimonides’ Vater und 1160 auch Maimonides selbst intervenierten im Streit um die Beurteilung von Juden, die sich ohne innere Überzeugung zum Islam bekannten, wobei sich beide gegen deren rigorose Verurteilung richteten.
1165 zog die Familie weiter nach Jerusalem, dann nach Alexandrien und schließlich nach Kairo, wo Maimonides bis zu seinem Tod lebte.
Die ersten Jahre in Ägypten konnte er ohne Verpflichtungen als Gelehrter verbringen, da sein Bruder als Juwelenhändler zwischen Indien und den Mittelmeerländern für den Familienunterhalt sorgte. Nachdem sein Bruder bei einem Schiffsunglück den Tod gefunden hatte und dabei nicht nur das gesamte Vermögen der Familie, sondern auch anvertrautes Kapital anderer Händler verloren gegangen war, musste Maimonides, auch um die Schulden zu begleichen, eine Erwerbsarbeit aufnehmen. Um nicht als Rabbiner finanziell von einer Lizenz des Exilarchen abhängig sein zu müssen, wählte er den Beruf des Arztes, in dem er sich einen so großen Ruf erwarb, dass er 1185 Leibarzt des Sekretärs von Sultan Saladin wurde, der praktisch ägyptischer Regierungschef war, dann auch Leibarzt des Sultans selbst. Seit 1177 war er zudem Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Kairo. Damals schrieb er an seinen provenzalischen Übersetzer:
Ich wohne in Misr, und der Sultan residiert in Kairo; diese zwei Orte sind zwei Sabbatreisen voneinander entfernt. Meine Pflichten beim Sultan sind sehr ermüdend. Ich muss ihn jeden Tag besuchen, angefangen am frühen Morgen, und wenn er sich unwohl fühlt oder eines seiner Kinder oder ein Mitglied seines Harems krank ist, darf ich Kairo nicht verlassen, sondern muss für die meiste Zeit des Tages im Palast bleiben. Es geschieht auch oft, dass ein oder zwei königliche Beamte krank werden und ich ihre Heilung beaufsichtigen muss. Deshalb gelange ich sehr früh am Morgen nach Kairo, und auch wenn nichts Außergewöhnliches geschieht, kehre ich nicht vor dem Nachmittag nach Misr zurück. Dann sterbe ich fast vor Hunger. Ich finde ein volles Vorzimmer vor, gefüllt mit Juden wie Nichtjuden, Edelmännern und Bürgerlichen, Freunden und Feinden, eine bunt gemischte Menge, die auf meine Rückkehr wartet. Ich steige ab von meinem Reittier, wasche mir die Hände und widme mich meinen Patienten und bitte sie, ein leichtes Mahl mit mir zu teilen, das einzige, das ich innerhalb von 24 Stunden verzehre. Dann untersuche ich sie, schreibe Rezepte und gebe ihnen Anweisungen für die verschiedenen Krankheiten. Die Patienten kommen und gehen bis zum Sonnenuntergang, manchmal gar bis zur späten Nacht. Wenn es Abend wird, bin ich so müde, dass es mir kaum noch gelingt, zu sprechen.
Seine erste Frau war jung gestorben, und in Ägypten heiratete er ein zweites Mal. Seine zweite Frau war die Schwester eines königlichen Sekretärs, der selbst Maimonides’ einzige Schwester heiratete. Der Erziehung seines einzigen Sohnes Abraham widmete Maimonides viel Liebe und Aufmerksamkeit. Ein weiterer Trost in dieser Zeit, in der er mit ausführlicher Korrespondenz und dem Verfassen seiner Hauptwerke beschäftigt war, war sein begeisterter Schüler Joseph, den er wie einen Sohn liebte, für ihn den Führer der Unschlüssigen schrieb und ihm Kapitel um Kapitel schickte.
Als Maimonides am 13. Dezember 1204 starb, wurde in sämtlichen jüdischen Gemeinden öffentliche Trauer ausgerufen. In Jerusalem wurde ein öffentliches Fasten verordnet, wobei aus diesem Anlass aus der Bibel vorgelesen wurde: „Fort ist die Herrlichkeit aus Israel, denn die Lade Gottes ist weggeschleppt worden“. Maimonides wurde entsprechend seinem Wunsch in Tiberias bestattet.
Während seines Aufenthalts in Kairo schrieb und redigierte er seine wichtigsten, vieldiskutierten Werke:
In Sanhedrin Mischna kommentierte er dieMischna; seine in der Einleitung zusammengefassten 13 Glaubensartikel wurden in gekürzter Form später in vielen Ausgaben des jüdischen Gebetbuchs aufgenommen.
1180 erschien Die Wiederholung des Gesetzes, eine Überarbeitung der rabbinischen Rechtsauslegung in 14 Bänden, die Mischna und Tora streng logisch organisierte. Maimonides gilt seitdem als die Autorität schlechthin auf dem Gebiet der religionsgesetzlichen Literatur. Im Gegensatz zu Maimonides’ anderen bedeutenden Werken, die auf Arabisch verfasst wurden, ist Die Wiederholung des Gesetzes im Original Hebräisch geschrieben.
An seinem religionsphilosophischen Hauptwerk Der Führer der Unschlüssigen arbeitete Maimonides von 1176 bis 1200.
Das Werk wurde von Maimonides’ Zeitgenossen in einer wörtlichen Fassung unter dem Titel Lehrer der Unschlüssigen oder Verwirrten  ins Hebräische übersetzt. Wenig später erschienen lateinische Übersetzungen.
Problem des Werks ist die scheinbare Unvereinbarkeit zweier Systeme: einerseits dem des Glaubens mit seiner geoffenbarten Wahrheit und andererseits dem von aristotelischer Logik und Metaphysik. Auf diesem scheinbaren Widerspruch beruht die titelgebende Unschlüssigkeit des gläubigen Philosophen. Maimonides selbst versucht, die jüdische Religion mit deraristotelischen und zum Teil auch der neuplatonischen Philosophie zu verbinden. Dazu schlägt er unter anderem eine Vielfältigkeit der Bedeutungen verschiedener Torastellen vor, insbesondere solche, wo bildhaft und anthropomorph formuliert wird und Kategorien eines physischen Körper Gott beigelegt werden. Der Philosoph und Wissenschaftler solle im Falle eines scheinbaren Widerspruchs allegorisch deuten und so auf eine tiefere Wahrheitsebene stoßen, die mit den Prinzipien von Logik und Wissenschaft übereinstimme. Der einfache Gläubige hingegen möge den Buchstabensinn als unmittelbare Wahrheit nehmen. Den erkenntnis-, sprachtheoretischen und metaphysischen Rahmen seines Werkes bildet eine besonders radikale Form der negativen Theologie.
Der Führer der Unschlüssigen fand im 13. Jahrhundert auch Verbreitung in Europa und wurde zu einer der zentralen Schriften in religiösen und philosophischen Debatten. Insbesondere Thomas von Aquin setzte sich kritisch mit ihr auseinander und entwickelte seine Analogielehre teils als Antwort auf die negative Theologie des Maimonides. Wohlwollender ist die Rezeption zuvor bei Albertus Magnus, später dann bei Meister Eckard und Nikolaus von Kues.

SECHSTES KAPITEL
ALBERTUS MAGNUS

Albertus Magnus war zugleich Philosoph, Jurist, Naturwissenschaftler, Theologe, Dominikaner und Bischof von Regensburg.
Sein großes, vielseitiges Wissen verschaffte ihm den Namen der Große, den Titel Kirchenlehrer und den Ehrentitel Doctor Universalis. Er kannte die antike und zeitgenössische Fachliteratur und wollte das Wissen seiner Zeit vollständig erfassen und in Lehrbüchern verständlich darlegen.
Die wichtigste Folge seiner Arbeit ist die Begründung des christlichen Aristotelismus, damit der Hochscholastik und letztendlich der modernen Naturwissenschaft. Bis zu Albertus' Wirken waren die Werke von Aristoteles in der christlichen Welt wegen ihres heidnischen Ursprungs umstritten. Albertus setzte sich auch auf kirchenpolitischer Ebene massiv für die Aufnahme der aristotelischen Werke in den Kanon christlicher Schulen ein.
Im Werk De mineralibus vertrat Albert die Meinung, dass Metalle aus vier Elementen (nach Empedokles) darunter Quecksilber und Schwefel aufgebaut sein müssten. Unedle Metalle sollten durch Säuberung in edlere Metalle übergehen. Durch die Verwandtschaft zwischen Schwefel und Metallen, so glaubte er, erkennt man die Beziehung auch zwischen Metallen. Er nennt in seinem Werk weiße, gelbe, rote Salze. Er erwähnt eine brennbare, ölige Flüssigkeit auf starkem Wein (Alkohol). Albert erwähnt auch den Weinstein, das er aus dem arabisch- persischen Wort übersetzt. Albert verfügte auch gute Kenntnisse über Destillation und Sublimation.
Darüber hinaus gelten einige seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten im jeweiligen Wissenschaftssektor als bahnbrechend: so die erste ausführliche Darstellung der mitteleuropäischen Flora und Fauna und seine geographischen Beschreibungen. Seine Arbeiten zur Gesteinskunde stellen den ersten Versuch dar, eine vollständige Systematik für Mineralien zu entwickeln.
Im Versuch, das naturphilosophische Denken des Aristoteles mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren, arbeitete er das gesamte Wissen seiner Zeit aus Theologie, Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften durch.
Insgesamt 477 durchnummerierte Arten von Tieren sind in seinem Sammelwerk De animalibus aufgeführt, und zwar 113 Vierfüßler, 114 fliegende, 140 schwimmende und 61 kriechende Tiere sowie 49 Würmer. Unter Berufung auf Aristoteles erklärt Albertus Magnus, auch die niedrigsten Tiere verdienen, dass man sie erforsche, müsse man doch ihre Formenvielfalt studieren, um so den Künstler zu preisen, der sie erschaffen hat, weil sich nämlich in der Kunst des Schöpfers seine Art zu schaffen offenbart.


SIEBENTES KAPITEL
THOMAS VON AQUIN

Die Argumentationen des Thomas stützen sich zu einem großen Teil auf die sich im Hochmittelalter wieder ausbreitenden Gedanken des Aristoteles, die er als Schüler von Albertus Magnus in seinem universitären Wirken weitergibt und in seinen Werken mit der christlichen Theologie verbindet. So identifiziert er den unbewegten Beweger aus der Physik des Aristoteles mit dem christlichen Gott. Gleichwohl arbeitet er in seiner Gotteslehre die Bedeutung der Offenbarung Gottes heraus, die für philosophische Überlegungen allein unerreichbar bleibe.
Thomas von Aquin und Albertus Magnus waren nicht die ersten katholischen Aristoteliker. Schon der Kirchenvater Johannes von Damaskus begründete seine Dogmatik ausdrücklich mit Aristoteles und seiner Methode. Er übersetzte große Teile seines Werks. Dies geschah 100 Jahre vor der ersten arabischen Aristotelesübersetzung. Papst Eugen III. ließ die Werke von Johannes von Damaskus ins Lateinische übersetzen. Struktur und Inhalt seiner Dogmatik sind auch Grundlage für die Zusammenstellung autoritativer Lehraussagen durch Petrus Lombardus. Auch in der Summe der Theologie von Thomas wird Johannes von Damaskus sehr häufig zitiert.
Thomas von Aquin zitiert zudem häufig die Schrift Über die Natur des Menschen, die er für ein Werk des Kirchenvaters Gregor von Nyssa hält.
Ein Kernelement der Onthologie von Thomas ist die Lehre von der Analogia entis. Sie besagt, dass der Begriff des Seins nicht eindeutig, sondern analog ist, also das Wort „Sein“ einen unterschiedlichen Sinn besitzt, je nachdem, auf welche Gegenstände es bezogen wird. Danach hat alles, was ist, das Sein und ist durch das Sein, aber es hat das Sein in verschiedener Weise. In höchster und eigentlicher Weise kommt es nur Gott zu: Nur er ist Sein. Alles andere Sein hat nur Teil am Sein und zwar entsprechend seinem Wesen. In allen geschaffenen Dingen muss also Wesen und Existenz unterschieden werden; einzig bei Gott fallen diese zusammen.
Auch die Unterscheidung von Substanz und Akzidenz ist für das System des Thomas bedeutend. Er folgt dabei der aristotelischen These, wonach dem Akzidens kein eigenes Sein zukommt, sondern nur ein Sein an der Substanz.
Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die von Materie und Form. Einzeldinge entstehen dadurch, dass die Materie durch die Form bestimmt wird. Die Grundformen Raum und Zeit haften untrennbar an der Materie. Die höchste Form ist Gott als Verursacher und als Endzweck der Welt. Die ungeformte Urmaterie, das heißt der erste Stoff, ist die materia prima.
Um die mit dem Werden der Dinge zusammenhängenden Probleme zu lösen, greift Thomas auf die von Aristoteles geprägten Begriffe Akt und Potenz zurück. Weil es in Gott keine substanzielle Veränderung gibt, ist er purer Akt, also reine Wirklichkeit.
Zu den besonders bedeutenden Aussagen der Erkenntnistheorie des Thomas gehört ihre Wahrheitsdefinition als Übereinstimmung von Gegenstand und Verstand.
Thomas unterscheidet zwischen dem tätigen Verstand und dem möglichen Verstand. Der tätige Verstand zeichnet sich vor allem durch die Fähigkeit aus, aus Sinneserfahrungen und bereits geistig Erkanntem universale Ideen und allgemeingültige(Wesens-Erkenntnisse zu abstrahieren. Dagegen ist es der mögliche Verstand, der diese Erkenntnisse aufnimmt und bewahrt.
Hintergrund ist die auf Platon zurückgehende Ideenlehre, der zufolge die sinnlich wahrnehmbaren Einzeldinge ihre Existenz und ihr Wesen den Ideen verdanken, durch die sie bestimmt werden. Dieser Hintergrund ist aber kaum mehr sichtbar. Während Thomas an Aristoteles wenig Kritik übt, zitiert er Platon ausschließlich, um ihn zu kritisieren. Selbst zu dem sonst von ihm hochgeschätzten Kirchenvater Augustinus zeigt Thomas Distanz, insoweit dieser vom Platonismus benetzt ist.
Die Erkenntnislehre des Thomas von Aquin unterscheidet sich fundamental von der Platons. Für Platon ist die Welt der sinnlich wahrnehmbaren Objekte nur ein sehr unvollkommenes Abbild der eigentlichen Realität hinter den Dingen. Für Aristoteles und Thomas ist aber die physische Existenz die höchste Vollkommenheit und nicht bloßes Abbild von etwas Höherem. Daraus ergibt sich, dass sich die platonische Ideenlehre, wenn überhaupt, nur sehr beschränkt auf die Erkenntnislehre des Thomas anwenden lässt.
Der tätige Verstand kann durch Abstraktion der Formen aus den einzelbestimmten Dingen, deren Wesenheit sowie in weiteren Schritten die Akzidenzien erkennen. Als erste Ursache des Seins und Soseins der Dinge erkennt der menschliche Geist Gott, in dessen Geist die ewigen Ideen die Vorbilder für die Formen der Dinge sind.
Thomas’ Anthropologie weist dem Menschen als leibgeistigen Vernunftwesen einen Platz zwischen den Engeln und den Tieren zu. Gestützt auf Aristoteles’ Schrift von der Seele zeigt Thomas, dass die Seele den Geist als Kraft besitzt, in der Form, dass die Erkenntnis die Form der Seele ist, während die Seele wiederum die Form des Leibes ist: Weil der Geist oder Intellekt eine einfache, also nicht zusammengesetzte Substanz ist, kann er auch nicht zerstört werden und ist somit unsterblich. Der Geist kann auch nach der Trennung vom Leib seinen Haupttätigkeiten, dem Denken und Wollen, nachkommen. Die nach der Auferstehung des Fleisches zu erwartende Wiedervereinigung mit einem Leib kann zwar nicht philosophisch, wohl aber theologisch erwiesen werden.
In der Ethik verbindet Thomas die aristotelische Tugendlehre mit den Erkenntnissen des Augustinus. Die Tugenden bestehen demnach im rechten Maß und in dem Ausgleich vernunftwidriger Gegensätze. Das ethische Verhalten zeichnet sich durch das Einhalten der Vernunftordnung aus und entspricht damit auch dem göttlichen Gesetzeswillen. Als Kardinaltugenden werden von Thomas Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit bezeichnet. Unabhängig davon zu sehen seien die drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Für Glaube, Hoffnung und Liebe ist der Oberbegriff „christliche Tugenden“ zwar gebräuchlich, aber richtiger sind es die „göttlichen“ Tugenden, nicht in dem Sinn, als seien sie Tugenden Gottes, sondern dies meint, dass Gott das Objekt dieser Tugenden ist: Glaube an Gott, Hoffnung auf Gott, Liebe zu Gott.
Das höchste Gut ist die ewige Glückseligkeit, die im jenseitigen Leben durch die unmittelbare Anschauung Gottes erreicht werden kann. Es zeigt sich daran der Primat der Erkenntnis vor dem Wollen.

Thomas wollte der Theologie den Charakter einer Wissenschaft geben. Dies wird von der Kirche als eines seiner wesentlichen Verdienste gesehen. Zur Klärung der Glaubensgeheimnisse zieht er dabei die natürliche Vernunft heran, insbesondere das philosophische Denken des Aristoteles. Thomas hat die Gegensätze aufgelöst, die zu seiner Zeit zwischen den Anhängern zweier Philosophen bestanden: denen des Augustinus, der das Prinzip des Glaubens betont, und denen des wiederentdeckten Aristoteles, der von der Erfahrungswelt und der darauf aufbauenden Erkenntnis ausgeht. Thomas versucht zu zeigen, dass sich diese beiden Lehren nicht widersprechen, sondern ergänzen, dass also einiges nur durch Glauben und Offenbarung, anderes auch oder nur durch Vernunft erklärt werden kann. Vor allem in dieser Synthese der antiken Philosophie mit der christlichen Dogmatik wird seine Leistung gesehen.

Thomas legte im Rahmen der Philosophischen oder Natürlichen Theologie Argumente dafür dar, dass der Glaube an die Existenz Gottes nicht vernunftwidrig ist, sich also Glaube und Vernunft nicht widersprechen. Seine Fünf Wege, dargestellt in seinem Hauptwerk, der Summe der Theologie, hat Thomas zunächst nicht als Gottesbeweise bezeichnet, sie können jedoch als solche aufgefasst werden, da sie rationale Gründe für Gottes Existenz darlegen. Die Argumentationskette endet jeweils mit der Feststellung: Das ist es, was alle Gott nennen.
Prägend wurde Thomas‘ Theologie auch für die katholische Eucharistie-Lehre. Er wandte die Begriffe der Substanz und der Akzidenzien auf das Geschehen in der  Heiligen Messe an: Während die Akzidenzien, das heißt die Eigenschaften von Brot und Wein, erhalten bleiben, verwandelt sich die Substanz der eucharistischen Gaben in Leib und Blut des auferstandenen Christus (Transsubstantiation).
Thomas ist in erster Linie wegen seiner Verdienste um die Theologie und die Philosophie in die Geschichte eingegangen. Darüber hinaus wird sein Werk aber auch wegen einer tiefen Frömmigkeit geschätzt.
Am Tag des heiligen Nikolaus 1273 wurde Thomas während einer Feier der Heiligen Messe von etwas ihn zutiefst Berührendem betroffen und hat anschließend jegliche Arbeit an seinen Schriften eingestellt. Auf die Aufforderung zur Weiterarbeit hat er mit den Worten reagiert haben: Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe. Dieser Ausspruch war eine Reaktion auf eine tiefe Gotteserfahrung.
Die Dreifaltigkeit oder Trinität Gottes sieht Thomas zwar als ein Geheimnis (Mysterium), sie kann jedoch unter Zuhilfenahme der göttlichen, das heißt biblischen Offenbarung teilweise verstanden werden. Demnach ist der eine Gott in drei Personen die Eine Göttliche Natur und darum gleich ewig und allmächtig. Weder der Begriff der Zeugung beim Sohn noch derjenige der Hauchung beim Heiligen Geist darf im wörtlichen Sinn verstanden werden. Vielmehr ist die zweite und die dritte Person Gottes die ewige Selbsterkenntnis und Selbstbejahung der ersten Person Gottes, das heißt des Vaters. Weil bei Gott Erkenntnis und Wille und sein Wesen mit seinem Sein zusammenfallen, ist seine vollkommene Selbsterkenntnis und Selbstliebe von seiner eigenen göttlichen Natur.

ACHTES KAPITEL
JAKOB BÖHME
Seine wahre Lehrmeisterin sei die ganze Natur, sagte Jakob Böhme. Von der ganzen Natur und ihrer inneren Geburt habe er seine ganze Philosophie und Theologie studiert und habe sie nicht von Menschen. Trotzdem ist der Einfluss vieler hoher Meister unverkennbar, zum Beispiel der von Paracelsus. Vor allem die von der göttlichen Vorstellung zum Menschen hinführende Erkenntnislehre  – Lernen sei, sich selbst erkennen, der Mensch lerne die Welt, er selbst sei die Welt; obwohl alle übernatürliche Erkenntnis aus der göttlichen Vorstellung komme, so komme sie doch nicht ohne den Menschen, sondern in, mit, aus und durch den Menschen – bildet den theoretischen Hintergrund des Böhmeschen Schaffens.
Die wertvollen Gedanken Böhmes liegen in seinen Schriften nicht immer auf den ersten Blick offen, sondern sind mit seinen mystischen, phantastischen, zum Teil mit alchemistischen Spekulationen durchsetzten Auffassungen verflochten. Böhme, der niemals eine Universität besuchte und sich sein gesamtes Wissen selbst erarbeiten musste, verfügte nicht über eine exakte, mit abstrakten Begriffen operierende Wissenschaftssprache. Bei allen Nachteilen, die hieraus erwachsen, traten in seiner ausdrucksstarken und lebensnahen Bildersprache die volkstümlichen Züge hervor, die ihn in ungewöhnlich scharfen, von ihm selbst ausgesprochenen Gegensatz zur geltenden Schulgelehrsamkeit brachten. Dies hing auch damit zusammen, dass sein persönliches Ziel nicht nur philosophisch-theoretisch, sondern ebenso prophetisch war.
Böhmes Gedanken kreisen erstens um die pantheistische Gleichsetzung von Natur und Gott, zweitens um den Gedanken, dass der Widerspruch als ein notwendiges Moment in allen Erscheinungen der Wirklichkeit vorhanden sei, drittens um die Bedeutung des weiblichen Prinzips (Sophia) für wirkliche Erkenntnis und viertens um die Freiheitsfähigkeit des Menschen, die aus dem inneren Bezug zum Urgrund erwächst.
Böhme schreibt: So man aber von Gott reden will, was Gott ist, so muss man fleißig bedenken die Kräfte der Natur.
Er fasste Gott nicht als reinen Geist, vielmehr bedarf dieser einer ewigen Natur, um überhaupt erst lebendiger Geist werden zu können. Die ganze Natur sei voll großer Sehnsucht, immer willens, die göttliche Kraft zu gebären. Sie sei der Leib Gottes und habe alle Kraft wie das ganze Gebären in sich. Damit findet man bei Böhme, wenn auch nicht als Resultat direkter Anknüpfung, das gleiche pantheistische Motiv wieder, welches bei der Betrachtung der Geschichte des Materie-Form-Problems bei Giordano Bruno erwuchs und durch die allmähliche Hereinnahme der göttlichen Wirklichkeit in die Vorstellung des Materiellen gekennzeichnet war.
Die Kluft, die Böhme hiermit zur offiziellen Gotteslehre des Christentums öffnete, war trotz aller Beteuerungen der Rechtgläubigkeit nicht zu überbrücken und musste notwendigerweise zu Anfeindungen führen. Böhme empfand mit aller Härte den in der traditionellen scholastischen Kosmologie enthaltenen Widerspruch zwischen der reinen Geistigkeit der göttlichen Vorstellung und der stofflichen, erdhaften Wirklichkeit, die vom Geist erschaffen worden sein sollte. In keiner Schrift findet er eine Antwort auf die ihn quälende Frage, welche Materie oder Kraft wohl Gras, Kraut, Bäume, Erde und Steine hervorgebracht habe. Damit wurde von Böhme das Problem der Schöpfung wieder aufgeworfen und somit, aus seiner Sicht, die Frage nach dem Verhältnis von Geistigem und Materiellem neu gestellt.
Bei Beachtung seiner gesellschaftlichen Lebensumstände sowie des Standes der damaligen einzelwissenschaftlichen Forschung wird es verständlich, dass seine Antworten mystischen Charakter tragen; zugleich weisen sie wertvolle dialektische Momente auf. Er griff auf die Vorstellung von Luzifer zurück, dessen Aufstand den Zorn, den Grimm in Gott erweckt habe. Deshalb finde der Mensch im Grunde der Natur nicht göttliche Ruhe, sondern ein Wüten und Reißen, Brennen und Stechen und ein ganz widerwilliges Wesen, nichts als eitel Grimm. Dieser Grimm ist nicht einseitig moralisch aufzufassen, sondern im Zusammenhang mit Böhmes Qualitätslehre zu sehen. Er stellte den Grimm als böse Qualität der guten Qualität der Gnade gegenüber. Beide seien die Zusammenballung je dreier spezieller Qualitäten oder Quellgeister, deren gegensätzliche Verhaltensweisen das Geschehen in der Welt bestimmen.
Die Fassung des Begriffs Qualität durch Böhme zeigte dessen beträchtliches dialektisches Denkvermögen. Sie bedeutete für ihn Beweglichkeit, nämlich die Qualen und das Treiben eines Dinges. Qualen als treibende Bewegung war für ihn eine Grundeigenschaft des Seins. Er setzte dann nur noch den Grimm unter Überwindung des Begriffpaares von Gut und Böse als Ausgangspunkt für die Bewegung in der Wirklichkeit. Klar findet man den Gedanken vom Vorhandensein des Widerspruchs in den Dingen herausgearbeitet: Alles stößt, quetscht und feindet sich an  und also ist ein Widerwille in der Kreatur, und also ist ein jeglicher Körper mit sich selbst uneins.
Die untrennbare Verbindung des Widerspruchsprinzips, das in der Natur wirkt, mit seinem Pantheismus hat Böhme selbst unübertroffen so formuliert: Denn wenn keine Natur wäre, so wäre auch keine Herrlichkeit und Macht, viel weniger Majestät, auch kein Geist; sondern eine Stille ohne Wesen, ein ewiges Nichts ohne Glanz und Schein.
Sophia:
Alle Werke Böhmes durchzieht das Bemühen, das von ihm als zu einseitig und äußerlich empfundene rationalistische Denken durch die Erkenntniskräfte von Herz, Leib und Seele zu ergänzen. Diese begreift er als weibliche Seite der göttlichen Weisheit: Ein jeder Geist ist roh und kennt sich nicht: nun begehrt ein jeder Geist einen Leib,  zu einer Speise und Wonne. Die Jungfrau der Weisheit umgab den Seelen-Geist zuerst mit himmlischer Wesenheit, mit himmlischem göttlichem Fleisch, und der heilige Geist gab die himmlische Tinktur. Das ist meine Jungfrau, die ich in Adam  verloren hatte, da ein irdisches Weib aus ihr wurde. Jetzt habe ich meine liebe Jungfrau aus meinem Leibe wiedergefunden. Nun will ich sie nie mehr von mir lassen. Der Leib ist der Seele Spiegel und Wohnhaus, und ist auch eine Ursache, dass die pure Seele den Geist verändert nach der Lust des Leibes oder des Geistes dieser Welt..
Die Idee der Freiheit, die für die klassische deutsche Philosophie maßgebend wurde, findet bei Böhme erstmals ihre Begründung. Da der Mensch als leibliches, seelisches und geistiges Wesen selbst Teil des Ewigen, des göttlichen Ungrundes ist, kann er auch in sich selbst einen Bezug dazu herstellen. Da der Ungrund oder das Göttliche unbedingter, ewig freier Wille und Ursprung aller Dinge ist, wird auch der Mensch umso freier, je mehr er dieses Göttliche in sich entdeckt. So kann er persönlich oder gesellschaftlich Bedingtes in und um sich relativieren und mehr den Sinn des Ganzen sehen, und so auch sich selbst als ganzes und freies Wesen begehren: Zuerst ist die ewige Freiheit, sie hat den Willen, und ist selber der Wille. Nun hat ein jeder Wille eine Sucht, etwas zu tun oder zu begehren, und in darin schaut er sich selbst: er sieht in sich die Ewigkeit, in der er selber ist; er macht sich selber den Spiegel seinesgleichen, dann er beschaut sich, was er ist: so findet er nun nichts mehr als sich selber, und begehrt sich selber.

 

NEUNTES KAPITEL

KANT

Mit seinem kritischen Denkansatz (Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen) ist Kant der wichtigste Denker der deutschen Aufklärung. Man unterscheidet bei seinem philosophischen Weg zwischen der vorkritischen und der kritischen Phase, weil seine Position sich spätestens mit Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft verändert hat. Noch bis in die Zeit um 1760 Jahre kann man Kant dem Rationalismus in der Nachfolge von Leibniz zurechnen. Kant selber charakterisierte diese Zeit als dogmatischen Schlummer.
In seiner zweiten Dissertation im Jahre 1770 ist bereits ein Bruch erkennbar. Neben dem Verstand ist nun auch die Anschauung eine Erkenntnisquelle, deren Eigenart zu beachten ist. Die Dissertation und die Berufung an die Universität führen dann zu einer Phase des Schweigens, in der Kant seine neue, als Kritizismus bekannte Erkenntnistheorie ausarbeitet. Erst nach elf Jahren intensiver Arbeit wird diese dann 1781 in der Kritik der reinen Vernunft veröffentlicht. Nachdem er die Frage beantwortet hat, welche Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zugrunde liegen, kann Kant sich auf dieser Grundlage schließlich im Alter von 60 Jahren den für ihn eigentlich wichtigen Fragen der praktischen Philosophie und der Ästhetik zuwenden.
Bis zu seiner Promotion 1755 arbeitete er als Hauslehrer und verfasste die ersten naturphilosophischen Schriften. Im gleichen Jahr wurde er mit einer Arbeit über das Feuer promoviert und habilitierte sich mit einer Abhandlung über die ersten Grundsätze der metaphysischen Erkenntnis.
Kant befasste sich intensiv mit einigen Fragen der damaligen Naturphilosophie, die später in den Hintergrund tritt, die er aber nie ganz aufgibt: Die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels formuliert eine Theorie der Planetenentstehung. Aus ihr entstand später die Theorie der Planetenentstehung aus einem Urnebel.
Im Jahr 1762 erschien die Abhandlung vom einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, in der Kant zu beweisen versucht, dass alle bisherigen Beweise für die Existenz Gottes nicht tragfähig sind, und eine eigene Version des ontologischen Gottesbeweises entwickelt, die den Mängeln bisheriger Gottesbeweise abhelfen soll.
Die folgenden Jahre waren bestimmt von wachsendem Problembewusstsein gegenüber der Methode der traditionellen Metaphysik, das sich vor allem in Kants Schrift, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, einer Kritik Swedenborgs, äußerte. In einer 1770 erschienenen Schrift unterscheidet er zum ersten Mal scharf zwischen der sinnlichen Erkenntnis der Erscheinungen der Dinge (Phänomene) und der Erkenntnis der Dinge, wie sie an sich sind, durch den Verstand. Raum und Zeit fasst er zudem als dem Subjekt angehörige reine Anschauungen auf, die notwendig sind, um die Erscheinungen untereinander zu ordnen. Damit sind zwei wesentliche Punkte der späteren kritischen Philosophie vorweggenommen, auch wenn Kants eine Verstandeserkenntnis der Dinge, wie sie an sich sind, noch für möglich hält. In den folgenden zehn Jahren vollzieht sich die Entwicklung der kritischen Philosophie ohne wesentliche Veröffentlichung (die stummen Jahre).
Als Kant die Kritik der reinen Vernunft veröffentlichte, hatte sich seine Philosophie grundlegend gewandelt. Vor der Behandlung einzelner metaphysischer Fragen will Kant nun die Frage beantworten, wie überhaupt eine Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Diese Metaphysik muss den Anspruch erfüllen, grundlegende Erkenntnisse zu enthalten, die schlechthin gelten. Die Kritik behandelt die reinen Bedingungen der Erkenntnis, das heißt diejenigen, die unabhängig von jeder bestimmten empirischen Erfahrung möglich sind, in drei Abschnitten: der transzendentalen Ästhetik als Theorie der Möglichkeit der Anschauungen, der Analytik der Begriffe und der Analytik der Grundsätze, die jeweils dasselbe für Begriffe und Urteile leisten. Letztere gehören zur transzendentalen Logik. Eine Grundlegung der Schlüsse in transzendentaler Hinsicht gibt es jedoch nicht, da die durch sie hergestellte Einheit der Erfahrung zunächst nur subjektiv ist. An ihrer Stelle enthält die transzendentale Logik eine transzendentale Dialektik, worunter Kant eine Logik unvermeidlicher Irrtümer der Vernunft versteht. In diesem Rahmen findet auch eine Auseinandersetzung mit klassischen metaphysischen Positionen statt, die Kant als Folgen solcher Irrtümer darstellt. Diese vier Teile machen die transzendentale Elementarlehre aus. Schließlich behandelt Kant in der transzendentalen Methodenlehre die didaktischen und argumentativen Verfahren, die an die Stelle der älteren dogmatischen Metaphysik treten. Das Buch wurde 1827 wegen der darin enthaltenden Widerlegungen der herkömmlichen Gottesbeweise vom Apostolischen Lehrstuhl auf das Verzeichnis verbotener Bücher gesetzt.
Die transzendentale Ästhetik stellt die Formen der Sinnlichkeit schlechthin vor: die reinen Anschauungen Raum und Zeit. Indem Kant Raum und Zeit zu Formen des sinnlichen Anteils der Erkenntnis macht, werden sie Grundlagen der Mathematik als Wissenschaft, aber auch der Naturwissenschaft und der Alltagserkenntnis. Es muss daher nicht zwischen einem idealen Raum der Mathematik und einem realen Raum der physischen Wechselwirkung oder zwischen einem realen Raum der Physik und einem phänomenalen Raum des Erlebens unterschieden werden. Alle Anschauungen sind Empfindungen in einer räumlichen und zeitlichen Ordnung, die den objektiven Beziehungen zwischen den Gegenständen, so wie wir sie erfahren, zu Grunde liegt.
Im ersten Teil der transzendentalen Logik, der transzendentalen Analytik, behauptet Kant, dass zur Erkenntnis auch bestimmte reine Begriffe, die Kategorien, notwendig sind. Nur durch sie können aus dem sinnlich Gegebenen Gegenstände der Erfahrung werden. Diese Begriffe findet Kant am Leitfaden der möglichen logischen Verknüpfung von Vorstellungen. Durch Anwendung der Kategorien auf Raum und Zeit ergibt sich ein System von Grundsätzen, die schlechthin gewiss sind, und allgemeine Bedingungen für erfahrbare Objekte darstellen, wie zum Beispiel die kausale Verknüpfung aller Erscheinungen. Damit ist die Möglichkeit einer reinen Mathematik und einer reinen Naturwissenschaft gegeben. Doch mit dieser Bestimmung der Kategorien als für die Einheit der Erscheinungen notwendige Verknüpfungsregeln, ergibt sich, dass diese Begriffe nicht auf die Dinge, wie sie an sich sind, anwendbar sind, sondern nur, sofern sie die Sinnlichkeit berühren und somit Vorstellungen in der Ordnung von Raum und Zeit im individuellen Bewusstsein erzeugen.
In dem Versuch der menschlichen Vernunft, das Unbedingte zu erkennen und die sinnliche Erkenntnis zu übersteigen, verwickelt sie sich in Widersprüche, da jenseits der Erfahrung keine Wahrheitskriterien mehr zugänglich sind. Dennoch hat die Vernunft ein notwendiges Bedürfnis, diesen Versuch zu unternehmen, die Naturanlage zur Metaphysik, da nur ein solcher Versuch zwischen Erfahrungswelt und dem Subjekt eine sinnvolle Verbindung stiftet. Kant analysiert diese notwendigen Irrtümer und Widersprüche in der transzendentalen Dialektik. Die metaphysischen Beweise zum Beispiel für die Unsterblichkeit der Seele, die Unendlichkeit der Welt oder das Dasein Gottes führten zu unauflöslichen Widersprüchen, die Ideen der Vernunft sind nur als die Erfahrungserkenntnis leitende Begriffe von sinnvollem Gebrauch. Kant kommt zu der Idee, dass die Existenz Gottes und einer unsterblichen Seele oder die Ewigkeit der Welt keine Gegenstände einer möglichen Erkenntnis sein können. Insbesondere für die Freiheit weist er aber nach, dass diese, insofern sie transzendental verstanden wird, weder durch reine Vernunft, noch durch Erfahrung je widerlegt werden kann. Insofern Zustände auch spontan entstehen können und der Verstand sie nur als Fälle von empirischer Regelmäßigkeitbegreifen kann, kann für jede Erscheinung auch an eine transzendentale Ursache geglaubt werden, zum Beispiel an einen freien Willen des Menschen oder an Gott.
„Was kann ich wissen?“ Kant war in seiner vorkritischen Phase Vertreter des Rationalismus. Durch seine Versuche, die Metaphysik Leibnitzens mit der Naturphilosophie von Newton zu vereinbaren und schließlich durch das Studium Humes wird Kant jedoch aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt. Er erkennt die Kritik Humes am Rationalismus als methodisch richtig an, das heißt eine Rückführung der Erkenntnis allein auf den reinen Verstand ohne sinnliche Anschauung ist für ihn nicht mehr möglich. Andererseits führt der Empirismus von Hume zu der Folgerung, dass eine sichere Erkenntnis überhaupt nicht möglich sei, das heißt in den Skeptizismus. Diesen erachtet Kant jedoch angesichts der Evidenz gewisser Urteile vor allem in der Mathematik und in der klassischen Physik für unhaltbar. Immerhin habe der Hume’sche Skeptizismus einen methodischen Funken geschlagen, an welchem ein erkenntnistheoretisches Licht zu entzünden sei. So kommt Kant zu der Frage, wie Erkenntnis überhaupt und insbesondere Erkenntnis schlechthin möglich sei; denn dass sie möglich sei, stehe angesichts der Leistungen der Mathematik und der Physik außer Frage. Unter welchen Bedingungen ist also Erkenntnis überhaupt möglich? Oder: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis?
Die Kritik der reinen Vernunft, in der Kant seine Erkenntnistheorie als Fundament einer wissenschaftlichen Metaphysik formuliert, ist daher eine Auseinandersetzung einerseits mit der rationalistischen, andererseits mit der empiristischen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Zugleich wird die Kritik der reinen Vernunft eine Auseinandersetzung mit der traditionellen Metaphysik, soweit diese Konzepte und Modelle zur Erklärung der Welt jenseits unserer Erfahrung vertritt. Gegen den Dogmatismus der Rationalisten steht, dass Erkenntnis ohne sinnliche Anschauung, das heißt ohne Wahrnehmung, nicht möglich ist. Gegen den Empirismus steht, dass sinnliche Wahrnehmung unstrukturiert bleibt, wenn der Verstand nicht Begriffe hinzufügt und durch Urteile und Schlüsse mit der Wahrnehmung verbindet.
Für Kant ist es ein Skandal der Philosophie, dass man es bisher nicht geschafft hat, die Metaphysik von den Streitigkeiten zu befreien. Sein Ziel ist es, wie in der Mathematik seit Thales oder in den Naturwissenschaften seit Galilei auch in der Metaphysik zu wissenschaftlichen Aussagen zu kommen. Kant muss hierzu in der Metaphysik das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu haben, das heißt die Grenzen des Wissens aufzeigen, um klarzustellen, ob in Bezug auf bestimmte Vorstellungen gar keine Erkenntnis mehr möglich ist, weil die vorgestellten Objekte jenseits allen Erkenntnisvermögens liegen.
Für Kant erfolgt Erkenntnis in Urteilen. In diesen Urteilen werden die Anschauungen, die aus der Sinnlichkeit stammen, mit den Begriffen des Verstandes verbunden. Sinnlichkeit und Verstand sind die beiden einzigen, gleichberechtigten und voneinander abhängigen Quellen der Erkenntnis. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.

Wie kommt es nun zur Erfahrung, also zur Erkenntnis der Welt? Kant diskutiert dies in der Transzendentalen Analytik, dem zweiten Teil der Kritik der reinen Vernunft. Zuvor bestimmt er jedoch mit der tanszendentalen Ästhetik die sinnlichen Grundlagen der Wahrnehmung. Durch die reinen Anschauungen Raum und Zeit unterscheiden wir einen äußeren Sinn, in dem uns Vorstellungen im Raum nebeneinander gegeben sind. Wir haben andererseits einen inneren Sinn, mit dem wir Vorstellungen als zeitliche Abfolge erleben. Die reinen Anschauungen Raum und Zeit sind damit die Formen aller sinnlichen Vorstellungen von Gegenständen überhaupt, weil wir uns diese ohne Raum und Zeit nicht vorstellen können. Die Sinne aber enthalten Vorstellungen nur, wenn sie von einer begrifflich nicht fassbaren Außenwelt (dem Ding an sich) angeregt werden.
Kant vertritt aber keine simple Abbildtheorie. Nach Kants berühmter kopernikanischer Wende erkennen wir nicht das Ding an sich, sondern nur dessen Erscheinung, was es für uns ist. Die Erscheinung ist dasjenige, was das Erkenntnissubjekt als Gegenstand einer durch die Sinnlichkeit gegebenen Anschauungen erkennt. Dabei sind die allgemeinsten Regeln, unter denen die Dinge, wie wir sie erkennen, stehen, die Strukturen der Sinnlichkeit und des Verstandes, und nicht etwa die in einem Sein an sich begründeten ontologischen Prinzipien. Der Mensch erkennt also aufgrund seiner eigenen persönlichen Erkenntisfähigkeit und weiß nicht, ob diese Erkenntnis tatsächlich eine Entsprechung in der Außenwelt hat. Kant erläutert diese Umänderung der Denkart in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, indem er sich auf Kopernikus bezieht, der die sichtbare Bewegung der Planeten und Fixsterne durch die Eigenbewegung der Erde um ihre eigene Achse und um die Sonne erklärt. Der Zuschauer ist derjenige, der sich dreht, nicht der Sternenhimmel. So, wie wir uns die Welt vorstellen, gibt es Gegenstände, deren Wirkung von den Sinnen aufgenommen werden, die Sinnlichkeit wird angeregt. Wir bemerken allerdings nur die Ergebnisse dieser Anregung, die sinnlichen Anschauungen. Die Erscheinungen werden uns nur als räumliche Gegenstände gegeben. Das Räumlich-Sein ist sogar die Bedingung ihrer Existenz. Die Außenwelt, wenn wir sie als die Gesamtheit der Erscheinungen verstehen, ist dabei bereits eine subjektive Vorstellung. Solche aus einzelnen Elementen zusammengesetzten empirischen Anschauungen nennt Kant Empfindungen. Raum und Zeit werden als reine Formen der sinnlichen Anschauung den Empfindungen der Materie hinzugefügt. Sie sind reine Formen der menschlichen Anschauung und gelten nicht für Gegenstände an sich. Dies bedeutet, dass die Erkenntnis immer vom Subjekt abhängig ist. Unsere Realität sind die Erscheinungen, das heißt alles was für uns in Raum und Zeit ist. Dass wir uns keine Gegenstände ohne Raum und Zeit vorstellen können, liegt nach Kant an unserer Beschränktheit und nicht in den Gegenständen an sich. Ob Raum und Zeit in den Dingen an sich existieren, können wir nicht wissen.
Erscheinungen allein führen aber noch nicht zu Begriffen, und erst recht nicht zu Urteilen. Sie sind zunächst völlig unbestimmt. Kant führt seine Überlegungen hierzu in dem Abschnitt über die transzendentale Logik aus, die den Anteil des Verstandes an der Erkenntnis behandelt, und die in eine Theorie der Begriffe und der Urteile zerfällt. Die Begriffe kommen aus dem Verstand, der diese spontan durch die produktive Einbildungskraft nach Regeln bildet. Hierzu bedarf es des transzendentalen Selbstbewusstseins als Grundlage allen Denkens. Das reine von allen sinnlichen Anschauungen abstrahierte Bewusstsein des „Ich denke“, das man auch als die Selbstzuschreibung des Geistigen bezeichnen kann, ist der Angelpunkt der Kantischen Erkenntnistheorie. Dieses Selbstbewusstsein ist der Ursprung reiner Verstandesbegriffe, der Kategorien. Quantität, Qualität, Relation und Modalität sind die vier Funktionen des Verstandes, nach denen Kategorien gebildet werden.

Anhand der Kategorien verknüpft der Verstand mit Hilfe der Urteilskraft die Empfindungen nach so genannten Schemata. Ein Schema ist das allgemeine Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen; zum Beispiel sehe ich auf der Straße ein vierbeiniges Etwas. Ich erkenne: dies ist ein Dackel. Ich weiß: ein Dackel ist ein Hund, ist ein Säugetier, ein Tier, ein Lebewesen. Schemata sind also strukturierende Allgemeinbegriffe, die nicht aus der empirischen Anschauung gewonnen werden können, sondern dem Verstand entstammen, sich aber auf die Wahrnehmung beziehen.
Nachdem beschrieben wurde, wie Erkenntnis überhaupt möglich ist, kommt nun die grundlegende Frage, ob wir die Wissenschaft der Metaphysik begründen können. Gibt es aus reinen Verstandesüberlegungen Aussagen, die unsere Erkenntnisse inhaltlich vermehren?
Kants Antwort ist Ja. So sind zum Beispiel unter dem Begriff der Relation die Kategorien der Substanz, der Kausalität und der Wechselwirkung erfasst. Am Beispiel der Kausalität kann man sehen: In unserer sinnlichen Wahrnehmung erkennen wir zwei aufeinander folgende Phänomene. Deren Verknüpfung als Ursache und Wirkung entzieht sich aber unserer Wahrnehmung. Kausalität wird von uns gedacht und zwar mit Allgemeinheit und Notwendigkeit. Wir verstehen Kausalität als Grundprinzip der Natur  (dies gilt auch in der modernen Physik, auch wenn diese in ihren Grundlagen nur mit Wahrscheinlichkeiten und Energiefeldern operiert), weil wir die Kausalität in die Natur, wie sie uns erscheint, hineindenken. Allerdings schränkt Kant diese Auffassung gegen die Rationalisten klar ein. Kategorien ohne sinnliche Anschauung sind reine Form und damit leer, das heißt zu ihrer Wirksamkeit bedarf es der empirischen Empfindungen. Hier liegt die Grenze unserer Erkenntnis.
Wie kommt es nun zu den metaphysischen Theorien? Dies ist eine Frage der Vernunft, die den Teil des Verstandes bezeichnet, mit dem wir aus Begriffen und Urteilen Schlüsse ziehen. Es liegt im Wesen der Vernunft, dass diese nach immer weiter gehender Erkenntnis strebt und am Ende versucht, das Unbedingte oder Absolute zu erkennen. Dann aber verlässt die Vernunft den Boden der sinnlich fundierten Erkenntnis und begibt sich in den Bereich der Spekulation. Dabei bringt sie notwendigerweise die drei transzendentalen Ideen Unsterblichkeit der Seele, Freiheit im Kosmos und Unendlichkeit Gottes hervor. Kant zeigt nun in der Dialektik als der Wissenschaft vom Schein, dass die Existenz dieser Prinzipien weder bewiesen noch widerlegt werden könne.
Kant veröffentlichte 1783 eine Schrift, die allgemeinverständlich in die kritische Philosophie einführen sollen. Seine Ethik führte er 1785 in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten aus. Hier wird der kategorische Imperativ als Prinzip der Ethik entwickelt, und die Idee der Freiheit, die in der ersten Kritik für die theoretische Vernunft nicht beweisbar war, wird nun als notwendige Voraussetzung der praktischen Vernunft gerechtfertigt.
1788 erscheint die Kritik der praktischen Vernunft, die den moralphilosophischen Ansatz erläutert und ausbaut, und schließlich 1793 die Kritik der Urteilskraft, in deren Vorwort Kant verkündet, dass mit dieser sein kritisches Geschäft abgeschlossen sei und dass er nun ungesäumt zum Doktrinalen schreiten werde, also der Ausarbeitung eines Systems der Transzendentalphilosophie. Der eigentlichen Ausarbeitung geht jedoch noch Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) voraus, worin Kant den Vernunftgehalt der Religion untersucht und den Ansatz einer moralisch-praktischen Vernunftreligion weiter erläutert.
Die Frage: „Was soll ich tun?“ ist die grundlegende Frage der kantischen Ethik. Aber eine Antwort auf diese Frage war erst durch erkenntnistheoretische Untersuchungen in der Kritik der reinen Vernunft möglich, durch die Kant ein theoretisches Fundament für seine praktische Philosophie geschaffen hatte.
So untersucht Kant zunächst einmal die Bedingungen der Möglichkeit von Sollensaussagen. Nicht die Religion, nicht der gesunde Menschenverstand oder die empirische Praxis könnten diese Frage beantworten, sondern nur die reine Vernunft. Kants theoretische Überlegungen zur Ethik bestehen aus drei Elementen: Dem sittlich Guten, der Annahme der Freiheit des menschlichen Willens und der allgemeinen Maxime des kategorischen Imperativs. Sittlichkeit ist das Moment der Vernunft, das auf praktisches Handeln gerichtet ist. Sie ist eine Idee, die im Menschen von vorneherein vorhanden ist.
Der Mensch ist ein intelligentes Wesen, das heißt, er ist in der Lage, in der Vernunft unabhängig von sinnlichen Einflüssen zu denken und zu entscheiden. Alle vernunftbegabten Wesen sind nicht fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt: Der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, das ist, als gut erkennt.
Dies bedeutet, dass die ethische Entscheidung im Subjekt liegt. Kant ist durchaus bewusst, dass die Forderung der Sittlichkeit ein Ideal ist und dass kein Mensch sie zu jeder Zeit erfüllen kann. Dennoch ist er der Auffassung, dass jeder Mensch den Maßstab der Sittlichkeit in sich hat und weiß, was er nach dem Gesetz der Sittlichkeit tun sollte. Der autonome Wille der Vernunft gebietet also die sittlich gute Handlung. Die Vernunft legt dem Menschen die Pflicht auf, dem Gebot der Sittlichkeit zu folgen. Der kategorische Imperativ ist weit bekannt geworden:
Die Naturgesetzformel lautet so: Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.
Die Allgemeine Gesetz-Formel:. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Die Menschheitszweckformel: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
In der praktischen Anwendung muss die gefundene Maxime in sich widerspruchsfrei sein und mit dem tatsächlichen Willen übereinstimmen. Kants Ethik ist also eine Pflichtethik im Gegensatz zu einer Tugendethik, die Aristoteles vertritt.
Aber das moralische Denken Kants ist untrennbar von seiner Freiheitsauffassung. Ohne Freiheit wäre der kategorische Imperativ unmöglich. Die transzendentale Freiheit ist in der Tat die Bedingung der Möglichkeit des kategorischen Imperativs.

Kant setzt sich dabei mit den Meinungen englischer Aufklärungsphilosophen zur Willensfreiheit auseinander. Hume beispielsweise behauptet, dass der Mensch den gleichen Kausalketten unterworfen sei wie die Natur. Kant versucht den Widerspruch zwischen dem zeittypischen Denken in Kausalitätsketten und der Notwendigkeit des freien Willens als moralischer Instanz aufzulösen. Dazu betrachtet er den Menschen aus doppelter Perspektive. Zum einen sieht er den Menschen als Ding. Hier unterliegt er den Naturgesetzen, also dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Als Ding wird er von Trieben, Instinkten, Gefühlen und Leidenschaften gesteuert. Seiner Meinung nach ist der Mensch als Vernunftwesen jedoch auch Ding an sich und gehört damit dem Reich der Freiheit an. Damit hat er die Möglichkeit, der mechanischen Kausalität zu widerstehen und sich an moralischen Prinzipien zu orientieren. Freiheit ist für ihn also nicht Willkür, sondern die Freiheit, Gesetzen zu folgen, die sich die Vernunft selbst gegeben hat. Ein freier Wille ist für Kant also ein Wille unter sittlichen Gesetzen; Freiheit ohne diese freiwillige Unterwerfung ist für ihn keine Freiheit. Moralisch schlechte Handlungen basieren nicht auf Willensfreiheit, sondern sind durch die mechanische Kausalität bedingt. Die Würde des Menschen besteht darin, dass er seinen Instinkten widersteht und seine Vernunft Ursache seiner Handlungen ist.
Und wenn der Mensch in der Tat seine Pflicht erfüllt, ist er nach Kant der Glückseligkeit würdig. Kant beginnt seine Überlegungen zum Thema Glück mit einer umfassenden Kritik der Eudämonie. Der Begriff Glück (eudaimonia) beruht seiner Meinung nach auf unsicheren Erfahrungen und veränderbaren Meinungen. Aus diesem Mangel an Objektivität folgert er, dass ein am Glück ausgerichtetes Leben von eigenen Trieben, Bedürfnissen, Gewohnheiten und Vorlieben geprägt ist. Außerdem folgt für ihn aus der Vielfalt der subjektiven Meinungen über das menschliche Glück, dass keine objektiven Gesetze ableitbar sind. An die Stelle des Glücks setzt er die Würdigkeit zur Glückseligkeit. Diese ist für den Menschen als Ding an sich nur erreichbar, indem er sich den moralischen Gesetzen unterwirft. Durch das daraus folgende sittliche Verhalten erwirbt der Mensch dann die Würdigkeit zur Glückseligkeit. Kant lässt aber offen, wie diese Glückseligkeit aussehen wird. Im irdischen Leben ist seiner Meinung nach nur die Zufriedenheit erreichbar. Das ist die Zufriedenheit des Menschen damit, dass er ein vernünftiges Leben führt, sich an der Sittlichkeit orientiert. Obwohl Kant der Meinung ist, dass die eigene Glückseligkeit für den Menschen nicht erreichbar ist, hält er es für menschliche Pflicht, die Glückseligkeit anderer Personen zu fördern. Dies geschieht seiner Meinung nach durch Hilfsbereitschaft gegenüber Anderen und uneigennütziges Handeln in Freundschaft, Ehe und Familie.
Eine Antwort auf seine dritte Frage „Was darf ich hoffen?“ hielt Kant selbst in der Kritik der reinen Vernunft allein aus der Vernunft heraus nicht für möglich. Nachdem Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens durch die Vernunft nicht zu beweisen seien, die Vernunft aber auch nicht das Nichtexistieren dieser Ideen beweisen kann, ist die Frage des Absoluten eine Glaubensfrage: Ich musste das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen.
Entsprechend könne man, nach Kant, im Verlauf der Geschichte keine göttliche Absicht finden. Geschichte ist ein Abbild des Menschen, der frei ist. Aufgrund dieser Freiheit kann man in der Geschichte keine Regelmäßigkeiten oder Weiterentwicklungen etwa in Richtung Glückseligkeit oder Vollkommenheit erkennen, weil der Fortschritt keine notwendige Voraussetzung zum Handeln ist. Dennoch kann man einen Plan in der Natur denken, das heißt sich vorstellen, dass die Geschichte einen Leitfaden hat. Folgt man dieser Vorstellung, so entwickelt sich die Vernunft im Zusammenleben der Menschen. Für dieses Zusammenleben hat der Mensch aus der Vernunft heraus das Recht geschaffen, das schrittweise die Gesellschaftsordnung immer mehr bestimmt. Dies führt am Ende zu einer vollkommenen Verfassung, die Bestand hat, wenn auch zwischen den Staaten eine Gesetzesmäßigkeit entstanden ist.
Hierauf aber Rücksicht zu nehmen, desgleichen auf die Ehrbegierde der Staatsoberhäupter, als auch ihrer Diener, um sie auf das einzige Mittel zu richten, das ihr rühmliches Andenken auf die spätere Zeit bringen kann: das kann noch dasrüber hinaus einen kleinen Bewegungsgrund zum Versuch einer solchen philosophischen Geschichte abgeben.
Dieses Selbstverständnis bestimmte Kants Haltung als Denker der Aufklärung, die er als Bestimmung des Menschen ansieht. Berühmt ist seine Definition:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Diese ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern am Mangel der Entschließung und des Mutes liegt, sich des Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Wage es, vernünftig zu sein! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Dies ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) schreibt Kant:
Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch zu tun können meint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und abergläubischer Gottesdienst.
Kant war optimistisch, dass das freie Denken, das sich unter Friedrich dem Großen entwickelt hatte, dazu führt, dass sich die Sinnesart des Volkes allmählich verändert und am Ende die Grundsätze der Regierung beeinflusst, den Menschen, der mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln. Gott lässt sich nach Kant nicht beweisen. Doch konsequentes moralisches Handeln ist nicht möglich ohne den Glauben an Freiheit, Unsterblichkeit und Gott. Daher ist die Moral das Ursprüngliche und die Religion erklärt die moralischen Pflichten als göttliche Gebote. Die Religion folgte also dem bereits vorhandenen Moralgesetz. Um die eigentliche Pflicht zu finden, muss man nun umgekehrt das Richtige aus den verschiedenen Religionslehren herausfiltern.
Kant hat seine Einstellung zur Religion in seinem selbst gedichteten Nachruf auf den Königsberger Theologen Lilienthal anschaulich so zusammengefasst: Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis. Was uns zu tun gebührt, dessen nur sind wir gewiss. Dem kann, wie Lilienthal, kein Tod die Hoffnung rauben, der glaubt, um recht zu tun, und der recht tut, um fröhlich zu glauben.
Die Kritik der Urteilskraft wird als drittes Hauptwerk Kants bezeichnet. In dem 1790 veröffentlichten Werk versucht Kant sein System der Philosophie zu vervollständigen und eine Verbindung der theoretischen Vernunft, die der Naturerkenntnis zugrunde liegt, einerseits, sowie der praktischen, reinen Vernunft, die zur Anerkennung der Freiheit als Idee und zum Sittengesetz führt, andererseits herzustellen. Das Gefühl der Lust und der Unlust ist das Mittelglied zwischen Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen. Das verbindende Prinzip ist die Zweckmäßigkeit. Diese zeigt sich zum einen im ästhetischen Urteil vom Schönen und Erhabenen und zum anderen im teleologischen Urteil, welches das Verhältnis des Menschen zur Natur bestimmt. In beiden Fällen ist die Urteilskraft nicht bestimmend, wie in der theoretischen Vernunft, wo ein bestimmter Begriff unter einen allgemeinen Begriff gefasst wird, sondern reflektierend, das bedeutet, dass aus dem Einzelnen das Allgemeine gewonnen wird.
Die Bestimmung des Ästhetischen ist ein subjektiver Erkenntnisvorgang, in dem einem Gegenstand von der Urteilskraft das Prädikat schön oder nicht schön zugesprochen wird. Kriterien für Geschmacksurteile sind, dass diese unabhängig von einem Interesse des Urteilenden gefällt werden, dass diese Urteile subjektiv sind, also nicht einem Begriff untergeordnet werden, dass weiterhin das Urteil Allgemeingültigkeit beansprucht und dass schließlich das Urteil mit Notwendigkeit erfolgt. Wie in der Ethik sucht Kant nach den formalen Kriterien eines Urteils und klammert die materiale Bestimmung des Schönen aus.
Im Gegensatz zum Schönen ist das Erhabene nicht an einen Gegenstand und seine Form gebunden:
Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.
Sowohl das Schöne als auch das Erhabene gefallen durch sich selbst. Aber das Erhabene erzeugt kein Gefühl der Lust, sondern Bewunderung und Achtung. Erhabenes in der Kunst ist für Kant nicht möglich, die Kunst ist höchstens eine schlechte Nachahmung des Erhabenen in der Natur:
Schön ist das, was in bloßer Beurteilung gefällt. Hieraus folgt von selbst, dass es ohne alles Interesse gefallen müsse. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.
In der teleologischen Urteilskraft wird die in der Natur liegende Zweckmäßigkeit betrachtet. Zweck ist dabei keine Eigenschaft von Gegenständen, sondern wird von uns gedacht und in die Objekte hineingelegt, er ist wie die Freiheit eine Idee. Der von der Vernunft gedachte objektive Naturzweck eines Gegenstandes ergibt sich dabei aus dem Verhältnis der Teile und des Ganzen zueinander. Mit einem reinen Mechanismus können wir die Struktur eines Baumes und die Abgestimmtheit der Naturprozesse nicht erklären. Im Gegensatz zu einer Uhr ist ein Baum selbst reproduzierend. Wir sehen die Zusammenhänge der Naturdinge so als ob ein Zweck darin läge.
Wenn man also für die Naturwissenschaft und in ihren Kontext den Begriff von Gott hereinbringt, um sich die Zweckmäßigkeit in der Natur erklärlich zu machen, und hernach diese Zweckmäßigkeit wiederum braucht, um zu beweisen, dass ein Gott sei: so ist in keiner von beiden Wissenschaften innerer Bestand.
Ein ästhetisches Urteil ist, auch wenn es ohne alles Interesse und ohne alle Begriffe im Gegensatz zum Erkenntnisurteil gedacht wird, rein subjektiv; gleichwohl beansprucht es nach Kant Allgemeingültigkeit. Dies ist nur möglich, wenn eine quasi-Erkenntnis vorliegt, sonst ist eine Allgemeingültigkeit nicht denkbar. Diese Erkenntniskraft entsteht im freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand, das beim Betrachter eines Gegenstandes ein Gefühl der Lust erzeugt und ein Wohlgefallen auslöst, das wir mit dem Gegenstand verbinden, den wir schön nennen. Insofern fordert der Betrachter eines Gegenstandes, der ein ästhetisches Urteil durch Wohlgefallen denkt, dass dieses Urteil für jedermann Gültigkeit hat und auch durch keine Diskussion wegzudenken ist.
Wenn der Betrachter einen Gegenstand beurteilt, muss etwas am Gegenstand vorhanden sein, damit dieses freie Spiel der Erkenntniskraft in Gang kommt und das Gefühl der Lust auslöst, das zum Urteil eines schönen Gegenstandes führt. Die Eigentümlichkeit des Geschmacksurteils besteht also darin, dass es, obgleich es nur subjektive Gültigkeit hat, dennoch alle Subjekte so in Anspruch nimmt, als ob es ein objektives Urteil wäre, das auf Erkenntnisgründen beruht.
Mit der Frage „Was ist der Mensch?“ setzte sich Kant vorwiegend empirisch auseinander. Ab 1773 begann er mit der Vorlesung zur Anthropologie als neuem Fach an der Universität. Diese Vorlesungen haben im philosophischen Werk keinen unmittelbaren Niederschlag gefunden, bilden aber unbezweifelbar einen wesentlichen Hintergrund für Kants Denken. Er betrachtete diese Art von Vorlesungen, zu denen auch die über Pädagogik zu rechnen ist, als Hebammenkunst für den Übergang zur Universität als Vermittlung von Weltweisheit, die mehr die empirischen Phänomene und ihre Gesetze zum Gegenstand hatte als die ersten Gründe. Dabei sollten diese Vorlesungen unterhaltsam und niemals trocken sein. Neben einschlägigen philosophischen Werken verarbeitete Kant vor allem aktuelle Literatur und Reiseberichte, entwickelte also seine Vorstellungen anhand der Berichte Dritter, um verbunden mit eigener Beobachtung und guter Menschenkenntnis ein möglichst umfassendes Menschenbild zu zeichnen.
Kants Interesse galt dabei der Frage, was der Mensch als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll. Im Gegensatz zu seinen theoretischen Schriften ist die Anthropologie pragmatisch. Während der kategorische Imperativ absolute Gültigkeit beansprucht, ist ein pragmatischer Imperativ auf einen Handlungszweck orientiert. Der moralische Imperativ ist eine Frage der reinen praktischen Vernunft; der pragmatische Imperativ fällt hingegen in den Bereich der empirischen Naturlehre. Pragmatisch heißt die Anwendung des theoretisch gewonnenen Wissens der Erkenntnistheorie, der Moralphilosophie und auch der ästhetischen Urteilskraft auf den Bereich der empirischen Erfahrungen.
Betrachtet man den Inhalt von Kants Anthropologie, so handelt es sich nicht um eine philosophische Anthropologie. Der erste Teil seines Buches über die Anthropologie, die Anthropologische Didaktik, befasst sich mit dem Vermögen der Erkenntnis, des Gefühls und des Begehrens. Dabei behandelte Kant Fragen des Selbstbewusstseins, des Wahrnehmungsapparates, des Vorstellungsvermögens, Fragen der Lust und der Unlust, die Unterscheidung von Verstehen und Urteilen oder die Prinzipien der Assoziation. Im zweiten Teil, der Anthropologischen Charakteristik, beschrieb Kant Charaktereigenschaften und wie der Mensch diese entwickeln kann. Dabei thematisierte er die einzelne Person, die Geschlechterunterschiede, Völker, Rassen und die Menschheit als Ganzes und versuchte dabei, durch Klassifikationen Strukturen zu erarbeiten und zu vermitteln. Themen waren beispielsweise die traditionelle Lehre von den Temperamenten, die Frage der Veranlagung von Eigenschaften und der Denkungsart. Frauen sah Kant als gefühlsbetont und geschmacksorientiert und weniger rational als Männer. Den fünf großen europäischen Nationen (Franzosen, Engländer, Spanier, Italiener und Deutsche) wies er typische Nationalitätenmerkmale zu. Und schließlich klassifizierte er die Menschen mit dem Begriff Rasse und teilte die Menschheit in vier Rassen (die Weißen, die Gelben, die Schwarzen, die Roten) Am Schluss der Anthropologie grenzte Kant den Menschen vom Tier ab durch das Vermögen der Vernunft, mit welcher der Mensch in der Lage ist, das Böse zu überwinden und zu einer Humanität zu gelangen, welche die Menschheit als Gemeinschaft von Weltbürgern vereint.

 

ZEHNTES KAPITEL

FICHTE

Kern in Fichtes Philosophie ist der Begriff des Absoluten Ich. Dieses Absolute Ich ist nicht mit dem individuellen Geist zu verwechseln. Später nutzte er die Bezeichnung Absolutes, Sein oder Gott. Fichte beginnt in seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre mit einer Bestimmung des Ich:
Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Tathandlung.
Fichte ging es um die praktische Umsetzung seiner Philosophie, weshalb er die Errichtung eines lückenlosen philosophischen Systems als zweitrangig erachtete. Im Vordergrund stand für ihn die Verständlichkeit seiner Lehre. Er vertrat ein positives Menschenbild und ging davon aus, dass in jedem Menschen der Grund echter Selbsterkenntnis und damit auch Gotteserkenntnis gelegt ist und der Philosoph lediglich auf diese hinweisen muss.
In seiner populären Darstellungsweise schuf sich Fichte unter den Fachgelehrten viele Freunde, aber auch Feinde. Goethe urteilte skeptisch über Fichte, dass doch einem sonst so vorzüglichen Menschen immer etwas fratzenhaftes in seinem Betragen ankleben muss. Trotz späterer Ablehnung übte Fichte großen Einfluss auf Schelling und Hegel aus. Auch Hölderlin bekannte, Fichtes Vorlesungen aus seiner Jenaer Zeit viel zu verdanken. Einige Ideen Fichtes knüpfen an die Thesen Herders an.
Fichte reagierte auf die Frage, wie theoretische und praktische Vernunft zusammenhängen, indem er antwortete, dass die beiden Teile der Vernunft in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Hierbei sei die praktische Vernunft der theoretischen übergeordnet. Letztere benötige demnach die praktische Vernunft; diese aber sei autonom. Auch für Kant war die praktische Vernunft ein Vermögen des Willens und damit autonom. Laut Fichte bringt der Wille, indem er sich ein Gesetz gibt, zugleich sein Wesen als Vernunftwille hervor. Dieser Vernunftwille macht das aus, was wir sind, nämlich unser Ich. Das Absolute Ich ist, indem es sich setzt, und setzt sich, indem es ist. Aus diesem Grund kommt der praktischen Vernunft absolute Freiheit zu. Fichtes Idealismus ist daher eine Konsequenz aus dem Primat der praktischen Vernunft.
Fichte erklärt die praktische Vernunft zur Bedingung für die theoretische Vernunft. Hierbei geht er von der Handlung des Urteilens aus und schließt mithilfe einer transzendentalen Begründung auf das sich setzende Ich als Bedingung hierfür. Alles Urteilen ist Handeln des menschlichen Geistes. Diesem liegt der Satz „Ich bin“ zugrunde. Das schlechthin gesetzte und auf sich selbst gegründete Ich ist der Grund des Handelns.
Um dem Vorwurf zu entgehen, dass wir eventuell gar nicht urteilen, sondern nur glauben zu urteilen, führte Fichte die intellektuelle Anschauung ein. Sie ist auch praktisch zu verstehen als Anschauen seiner selbst im Vollziehen eines Akts. Wenn wir urteilen, beobachten wir uns nicht, sondern stellen handlungsorientierte Fragen. Diese Fragen gehen von der Annahme aus, dass der Mensch ein Vernunftwesen ist. Würde das nicht zutreffen, könnte er nicht urteilen, was nicht vorstellbar ist. Gleichwohl vertrat Fichte die Auffassung, auch wenn der Mensch nicht an den Bedingungen vernünftigen Urteilens zweifeln könne, folge daraus nicht, dass er diese Bedingungen tatsächlich erfüllt.
Die schärfste Abgrenzung zu Kant vollzog Fichte mit seiner Ablehnung der Konzeption eines Dinges an sich. Nur durch diese Ablehnung kann in seinen Augen die absolute Freiheit des Ichs bewahrt werden. Das Ding an sich wird bei Fichte lediglich zu einem Anstoß, einem irrationalem Fakt innerhalb des Ich, welches das Ich zu bewältigen sucht. Die Folge ist der Ausschluss aus dem Ich, gleichsam hinaus in die Welt als Nicht-Ich. Ist das Absolute Ich demzufolge also ein Ding an sich auf der Seite des Subjekts? Nur wenn es erscheint. Das Absolute Ich existiert nur im Handeln. In seiner philosophischen Reflexion wird das Absolute Ich zu etwas Objektivem.
Da Fichte diese Theorie schnell als unzureichend und ergänzungsbedürftig ansieht, macht er sich auf dem Höhepunkt seiner Jenaer Periode an eine neue Ausarbeitung der Wissenschaftslehre und an eine erste Ausarbeitung der praktischen Philosophie.
Inhaltlich stellt sich seit der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre die Frage, warum das Absolute Ich, welches autonom ist, auf einen Anstoß reagiert. Fichte macht deutlich, dass das Absolute Ich nur ist, wenn es sich seiner selbst bewusst wird. Dies kann nur geschehen, wenn es mit Material konfrontiert wird, auf das es zu reagieren hat. Würde es zu keinem Kontakt kommen, würde das Ich ganz in seiner Tätigkeit aufgehen. Um aber zu sein und damit auch ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, muss es sich für den Anstoß öffnen und dafür Sorge tragen, dass der Stein des Anstoßes erhalten bleibt. Nach Fichte kann das Ich demnach als ein unendliches Streben nach Autonomie verstanden werden. Der Anstoß ist hierbei gleichsam nur notwendige Bedingung des Selbstbewusstseins. Die weiteren Bedingungen für das Selbstbewusstsein finden sich in den jeweiligen Teildisziplinen der Wissenschaftslehre: Naturlehre, Rechtslehre, Sittenlehre und Religionslehre.
Im System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre von 1798 geht Fichte davon aus, dass das Selbstbewusstsein des Absoluten Ich nur sein kann unter der Bedingung des Bewusstseins des Sittengesetzes. Hierbei ist sich das Ich des Sittengesetzes niemals im Abstrakten bekannt, sondern immer in Form konkreter Aufgaben und Pflichten der Welt. Das Ich kann sich nur eine Tätigkeit zuschreiben, wenn diese mit der kausalen Wirklichkeit einer ihm unabhängigen Welt verbunden ist. Dies wiederum ist nur möglich, wenn es sich einen Körper zuschreibt. Da dieser Körper Teil der Welt ist, unterliegt er auch denNaturtrieben. Das Sittengesetz untersucht nun die Bedingungen der Manifestation eines verkörperten und von Naturtrieben beherrschten Ich.
1798 postulierte Fichte, die Existenz Gottes sei nicht notwendig für die Errichtung einer moralischen Wertordnung, allerdings sei der Glaube an Gott, verbunden mit einer von Gott geoffenbarten Ethik, unumgänglich. Während Kant von der Existenz Gottes ausging und seine These untermauerte, die Existenz Gottes sei notwendig im Hinblick auf die Bedingungen der Möglichkeit sittlichen Handelns, sah Fichte nur die Notwendigkeit zu einer moralischen Weltordnung. Diese müsse nicht zwingend auf eine höhere Instanz – also Gott – zurückgeführt werden. Die aktive Weltordnung selbst könne man als Gott bezeichnen, wer dies aber tut, der verkennt die unmittelbare Beziehung des Gottesbegriffs zum moralischen Bewusstsein und ist der wahre Götzendiener und Atheist.
In den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters entwickelt Fichte Ansichten zu einer Geschichtsphilosophie. Tragender Gedanke dieser Geschichtsphilosophie ist die Entwicklung der Menschheit von der Unfreiheit zur Freiheit. Parallel zu jener inneren Entwicklung der Individuen, gehe die äußere Entwicklung ihrer Position und Bestimmung im Staate von der Rolle des Untertanen hin zum freien Bürger. Im Vordergrund steht ein Entwicklungsmodell, das die Geschichte in fünf Epochen unterteilt, wobei Fichte seine eigene Epoche als das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit verstand, während die Grundzüge die künftigen Epochen einleiten sollten. Diese Epochenentwicklung vollziehe sich in folgenden Stufen: Erstens, die instinktive Vernunft: der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts. Zweitens, die äußerlich erzwungene, jedoch nicht durch Gründe überzeugende Autorität: der Stand der anhebenden Sünde. Drittens, die Emanzipation von jeder äußeren Autorität, die Herrschaft des nackten Erfahrungsbegriffs: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. Viertens, die Rückkehr der freien, innerlichen Vernunft, wo die Wahrheit als das höchste erkannt und geliebt wird: der Stand der anhebenden Rechtfertigung. Fünftens, die Verwirklichung der freien, innerlichen Vernunft in allen äußeren Lebensbereichen, wo die Menschheit sich selber als Abbild der Vernunft aufbaut: der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung.
In den Reden an die deutsche Nation ruft Fichte im Bereich der Bildung zu einer Nationalerziehung auf, die das menschliche Verhältnis zur Freiheit in der Vernunft- und Werte-Erziehung verankern soll. Auch hier geht es wieder um die sittliche Bildung zur Freiheit, zur Selbständigkeit, zur Heiligung. In dieser Erhebung zur Vernunft, zum wahren Selbst, welches in der allgemeinen Vernunft zu finden ist, die jede Nation übersteigt, entfällt für Fichte auch die mögliche Feindschaft zu anderen freien Individuen und Nationen, denn der so gebildete Mensch strebe danach, seine Mitmenschen zu achten, und liebe ihre Freiheit und Größe, während ihn ihre Knechtschaft schmerzt: Aber es ist einfach unmöglich, dass ein solches Gemüt nicht auch außer sich an Völkern und einzelnen das ehre, was in seinem Innern seine eigne Größe ausmacht: die Selbständigkeit, die Festigkeit, die Eigentümlichkeit des Daseins.

 

ELFTES KAPITEL

HEGEL

Hegels Anspruch ist es, die Bewegung des Begriffes selbst in systematischer, wissenschaftlicher Form darzustellen. Sein System resultiert dabei au diesem Grundsatz:
Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Selbstwerden zu sein.
Dieses Ganze ist in sich unterschieden und kann als eine Einheit von drei Sphären begriffen werden: Idee, Natur und Geist.
Die Idee ist der Begriff (Logos) schlechthin, aus dem sich die objektiven, ewigen Grundstrukturen der Wirklichkeit ableiten lassen. Damit nimmt Hegel Bezug auf den Idee-Begriff Platons. Die Logik bestimmt den Inhalt dieses prinzipiellen Begriffes in der Form des Gedankens. Der Versuch, mit einem Wort unmittelbar zu beantworten, was die Idee sei, muss notwendigerweise scheitern, da der erste Schritt einer jeden Definition nur das reine Sein des betreffenden, noch unbestimmten Begriffes aussagen kann: Die Idee ist. Die Bestimmung ist also am Anfang noch völlig inhaltslos, abstrakt und leer, und daher gleichbedeutend mit dem Satz: Die Idee ist Nichts. Hegel folgert daraus, dass nichts so genommen werden kann, wie es unmittelbar als Moment ist, sondern immer in seiner Vermittlung zu betrachten ist: in seiner Abgrenzung (Negation) von anderem, in seiner steten Veränderung und in seinem Verhältnis zum Ganzen, sowie im Unterscheiden von Schein und Wesen. Alles Konkrete ist im Werden begriffen. Ebenso durchläuft die Idee in der Logik als dem Reich des reinen Gedankens einen Prozess der Selbstbestimmung, der den Inhalt und Umfang durch sich scheinbar ausschließende, einander entgegengesetzte Begriffe ständig erweitert. Durch eine Reihe von Übergängen, deren härtester von der Notwendigkeit zur Freiheit führt, bringt diese Selbstbewegung die Idee schließlich zu dem Begriff als Begriff, in dessen Reich der Freiheit sie ihre äußerste Vollendung in der Absoluten Idee erreicht. Ihre Absolute Freiheit realisiert die Idee, indem sie sich entschließt, sich selbst zu entäußern. Diese Entäußerung ist die geschaffene Natur, die Idee in der Form des Andersseins.
In der Natur ist die Idee außer sich gekommen und hat ihre absolute Einheit verloren. Die Natur ist zersplittert in die Äußerlichkeit der Materie in Raum und Zeit. Dennoch wirkt die Idee in der Natur weiter und versucht, ihr eigenes Produkt wieder in sich zurückzunehmen. Die Naturkräfte, wie die Gravitation, versetzen die Materie in Bewegung, um ihre ideelle Einheit wiederherzustellen. Dies bleibt jedoch innerhalb der Natur selbst letztendlich zum Scheitern verurteilt, da diese als das Verharren im Anderssein bestimmt ist. Die höchste Gestalt in der Natur ist der tierische Organismus, in dem zwar die lebendige Einheit der Idee objektiv angeschaut werden kann, dem aber das subjektive Bewusstsein seiner selbst fehlt.
Was dem Tier versagt bleibt, offenbart sich jedoch dem Geist: der endliche Geist wird sich im einzelnen Menschen seiner Freiheit bewusst. Die Idee kann nun durch den Geist zu sich selbst zurückkehren, indem dieser die Natur durch Arbeit wie sich selbst in Staat, Kunst, Religion und Philosophie nach der Idee formt. Im Staat wird die Freiheit zum allgemeinen Gut aller Individuen. Ihre eigene Beschränktheit hindert aber die Individuen daran, die unendliche, absolute Freiheit zu erlangen. Damit das Ganze vollkommen wird, schafft sich also der unendliche, absolute Geist im Endlichen sein Reich, in dem die Schranken des Begrenzten überwunden werden: die Kunst stellt die Wahrheit der Idee für die sinnliche Anschauung dar. Die Religion offenbart dem endlichen Geist in der Vorstellung den Begriff von Gott. In der Philosophie entsteht das Gebäude der vernunftgeleiteten Wissenschaft, in dem das selbstbewusste Denken die ewige Wahrheit der Idee begreift und in allem wiedererkennt. Das Absolute wird sich dadurch seiner selbst bewusst als der ewigen, unzerstörbaren Idee, als des Schöpfers der Natur und aller endlichen Geister. Außerhalb seiner Totalität kann es nichts weiter geben. Im Begriff des absoluten Geistes sind auch die extremsten Gegensätze und alle Widersprüche aufgehoben, sie sind alle miteinander versöhnt.
Das treibende Moment in der Bewegung des Begriffs stellt die Dialektik dar. Sie ist sowohl Methode als auch das Prinzip der Dinge selbst. Die Dialektik umfasst dabei wesentlich drei Momente, die nicht voneinander abgesondert betrachtet werden können.: Erstens, die abstrakte oder verständige Seite; der endliche Verstand bestimmt etwas als seiend: Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; ein solches beschränktes Abstraktes gilt ihm als für sich bestehend und seiend. Zweitens, die dialektische oder negativ-vernünftige Seite. Die unendliche negative Vernunft erkennt die Einseitigkeit dieser Bestimmung und verneint sie. Es entsteht so ein Widerspruch. Die begrifflichen Gegensätze negieren einander, das heißt sie heben sich gegenseitig auf: Das dialektische Moment ist das eigene Sich-Aufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten Momente. Drittens, die spekulative oder positiv-vernünftige Seite. Die positive Vernunft erkennt in sich selbst die Einheit der widersprüchlichen Bestimmungen und führt alle vorherigen Momente zu einem positiven Resultat zusammen, die dadurch in ihr aufbewahrt werden: Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige fasst die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf.
Dialektik ist nicht nur die Darstellung der Vereinigung der Gegensätze, sondern ist die konstitutive Bewegung der Dinge selbst. Die unendliche Vernunft entzweit sich, so Hegel, permanent neu. Das Bestehende nimmt sie in einem unendlichen Prozess in sich auf und bringt es erneut aus sich hervor. Im Grunde vereint sie sich dabei mit sich selbst. Hegel verdeutlicht diese Entwicklung der Idee des Geistes anhand einer Samenkornmetapher:
Die Pflanze verliert sich nicht in der bloßen Veränderung. So ist es im Keim der Pflanze. Es ist dem Keim nichts anzusehen. Er hat den Trieb, sich zu entwickeln; er kann es nicht aushalten, nur an sich zu sein. Der Trieb ist der Widerspruch, dass er nur an sich ist und es doch nicht sein soll. Der Trieb setzt in die Existenz heraus. Es kommt vielfaches hervor; das ist aber alles im Keime schon enthalten, freilich nicht entwickelt, sondern eingehüllt und ideell. Die Vollendung dieses Heraussetzens tritt ein, es setzt sich ein Ziel. Das höchste Außer-sich-kommen ist die Frucht, das heißt die Hervorbringung des Keims, die Rückkehr zum ersten Zustande.
Existenz ist immer auch Veränderung. Der Zustand eines Dinges, sein Sein ist nur ein Moment seines ganzen Begriffs. Um ihn völlig zu erfassen, muss der Begriff zu sich selbst zurückkehren, so wie das Samenkorn wieder zu seinem ersten Zustand zurückkehrt. Die Aufhebung eines Moments kommt hier doppelt zum Tragen. Einmal zerstört die Aufhebung die alte Form (das Samenkorn) und zum anderen bewahrt sie diese in ihrer Entwicklung auf. Der Entwicklungsgedanke in dieser Konzeption vollzieht sich als Fortschritt, als ein Überschreiten zu einer neuen Form. In der Natur fällt der Begriff allerdings wieder in sich zurück (die Rückkehr zum Samenkorn), so dass für Hegel die Natur nur ein ewiger Kreislauf des selben ist. Eine echte Entwicklung gibt es erst, wenn die Aufhebung nicht nur Rückkehr in sich selbst bedeutet, sondern auch der Aufhebungsprozess zu sich selbst gelangt. Ein wahrer Fortschritt ist daher nur im Reiche des Geistes möglich, das heißt wenn der Begriff von sich selbst weiß, wenn er sich selbst bewusst ist.
Der Begriff ist bei Hegel der Unterschied der Dinge selbst. Der Begriff ist Negation. Hegel drückt es auch noch plastischer aus: der Begriff ist die Zeit. In der Philosophie der Natur kommen daher keine neuen Bestimmungen hinzu. Erst in der Philosophie des Geistes kann es einen Fortschritt, ein Über-sich-selbst-Hinausgehen geben. Das endliche Moment wird aufgehoben; es geht zugrunde, wird negiert, aber findet in der Einheit seines Begriffs seine Bestimmung. Im Reiche des Geistes löst eine Figur des Geistes die vorige ab, zum Beispiel folgt der Gotik die Renaissance. Die Grenze setzt der neue Stil, der einen Bruch mit dem alten Stil darstellt. Hegel nennt diese Brüche auch qualitative Sprünge. In der Natur gibt es für Hegel allerdings keine solchen Sprünge; sie kehrt nur ewig in sich selbst zurück.
Die abstrakte Bewegung der doppelten Negation, der Negation der Negation, lässt sich als Auflösung des Negativen bestimmen: das Negative wendet sich gegen sich selbst, die Negation setzt sich selbst als Unterschied. Die Bestimmung dieser Selbstauflösung ist ihre höhere Einheit. In der Natur kommt das Negative nicht über sich selbst hinaus, sondern bleibt im Endlichen gefangen. Das Samenkorn geht auf, wächst zu einem Baum, der Baum stirbt und hinterlässt das Samenkorn, Anfang und Ende fallen zusammen. In der Philosophie des Geistes gibt es eine Entwicklung des Begriffs: die Geschichte. Der Begriff kommt zu sich selbst. Die Negation ist hier nicht zirkulär, sondern treibt den Fortschritt spiralförmig in eine Richtung hin. Die Negation ist der Motor und das Prinzip der Geschichte, aber sie enthält nicht das Ziel ihrer Entwicklung. Die Negation erhält in der Philosophie des Geistes einen radikal dynamischen Aspekt. In der Philosophie des Geistes fallen Anfang und Resultat auseinander. Die Aufhebung ist ein zentraler Terminus bei Hegel. Er enthält drei Momente: Aufhebung im Sinne von verneinen, bewahren und emporheben.
Für Hegel ist wahres Denken das Erkennen von Gegensätzen und die Notwendigkeit, diese in ihrer Einheit zusammenzufassen. Der Begriff ist der Ausdruck für diese Bewegung. Diese Art der Philosophie nennt Hegel die spekulative.
Hegel wendet sich gegen die Erbauungsphilosophie seiner Zeit, die sich zu gut für den Begriff und durch dessen Mangel für ein anschauendes und poetisches Denken hält. Der Gegenstand der Philosophie ist für ihn zwar das Erhabenste überhaupt; sie muss sich aber hüten, erbaulich sein zu wollen. Um Wissenschaft zu werden, muss sie bereit sein, die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen. Die Philosophie realisiert sich im System, denn nur das Ganze ist das Wahre. Sie betrachtet in einem dialektischen Prozess den Begriff des Geistes in seiner immanenten, notwendigen Entwicklung.
Für den gesunden Menschenverstand ist die Philosophie eine verkehrte Welt, da sie auf die Idee oder das Absolute als den Grund aller Dinge zielt. Sie hat somit mit Kunst und Religion denselben Inhalt, aber eben in der Weise des Begriffs.
Logik, Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes sind nicht nur die Grunddisziplinen der Philosophie; in ihnen drückt sich auch die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte aus, die vom Weltgeist verrichtet wurde. Das Ziel der Philosophie kann daher nur erreicht werden, wenn sie die Weltgeschichte und die Geschichte der Philosophie begreift und damit auch ihre Zeit in Gedanken erfasst.
Die Aufgabe der Philosophie ist es, das was ist zu begreifen, denn das was ist, ist die Vernunft. Ihre Aufgabe ist es nicht, die Welt darüber zu belehren, wie sie sein soll; denn dazu kommt sie ohnehin immer zu spät: Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.
In der Phänomenologie des Geistes formuliert Hegel als Voraussetzung für alles wahrhafte Philosophieren, den wissenschaftlichen Standpunkt zu gewinnen. Er bezeichnet diesen auch als das Absolute Wissen. Um dieses zu erreichen, muss ein Weg gegangen werden, der für den dann gewonnenen Standpunkt nicht gleichgültig ist: nicht das Resultat ist das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden.
Der Weg zum Absoluten Wissen ist das Begreifen des Absoluten selbst. Auch für das Absolute ist die Zugangsweise zu ihm nicht gleichgültig. Es umschließt auch den Prozess seiner Erkenntnis. Der Zugang zum Absoluten ist zugleich dessen Selbstäußerung. Wahre Wissenschaft ist letztlich nur in der Perspektive der Selbstäußerung des Absoluten möglich.

Hegel beginnt mit einer Analyse des natürlichen Bewusstseins. Die eigentliche Wirklichkeit, die Substanz, ist für das natürliche Bewusstsein in seiner elementarsten Stufe das, was es unmittelbar vorfindet: die sinnliche Gewissheit. Dies entspreche philosophisch der Position des Empirismus. Hegel zeigt auf, dass der empirische Wirklichkeitsbegriff notwendig ein Selbstbewusstsein voraussetzt, welches das sinnlich Wahrgenommene als solches interpretiert.
Aber auch das Selbstbewusstsein ist nicht das eigentlich Wirkliche. Es kann sein eigenes Bei-sich-sein nur im Unterschied zu einer natürlichen Wirklichkeit bestimmen; sein Wesentlichsein ist daher notwendig von dieser natürlichen Wirklichkeit abhängig.
In der dritten Form des natürlichen Bewusstseins, der Vernunft, kommt die Bestimmung der Substanz des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins zu einer Synthese. Das zur Vernunft entwickelte Selbstbewusstsein beharrt auf seiner eigenen Substantialität, erkennt aber zugleich, dass es sich zu einer natürlichen Wirklichkeit verhält, die ebenfalls substantiell ist. Dies lässt sich nur miteinander versöhnen, wenn das Selbstbewusstsein seine Substantialität in der Substantialität der natürlichen Wirklichkeit wiedererkennt. Nur dann lässt sich der unversöhnliche Widerspruch, den zwei Substanzen mit sich bringen, vermeiden.
Hegel bestimmt die Vernunft als sittliche Vernunft. Als solche ist sie nicht nur Produkt des Selbstbewusstseins, sondern bezieht sich immer schon auf eine äußere Wirklichkeit, die ihr vorausgeht. Die Vernunft kann nur als die sittliche Substanz einer wirklichen Gesellschaft existieren; in dieser Form ist sie objektiver Geist..
Der Geist ist seinerseits wiederum vom Selbstbewusstsein abhängig. Dieses hat die Freiheit, sich dem gesellschaftlich herrschenden Gesetz nicht zu fügen. Seine Freiheit gründet letztlich auf dem Absoluten Geist.
Der Absolute Geist zeigt sich in der Religion. In der Naturreligion deutet das Selbstbewusstsein noch die natürliche Wirklichkeit als Selbstausdruck eines absoluten Wesens, während in der offenbaren Religion die menschliche Freiheit die zentrale Rolle spielt. Die Religion geht über in das Absolute Wissen. Damit ist der Standpunkt gewonnen, von dem aus erst Wissenschaft im eigentlichen Sinn betrieben werden kann. Der ganze Inhalt der Erfahrung des Bewusstseins ist neu zu entfalten, aber nicht mehr aus der Perspektive des sich zu sich selbst und seinem Gegenstand erst durchringenden Bewusstseins, sondern aus der Perspektive des Begriffs.
Hegel setzt in der Logik den wissenschaftlichen Standpunkt voraus. Dieser hatte gezeigt, dass die logischen Bestimmungen weder als bloße Bestimmungen einer subjekt-unabhängigen Wirklichkeit aufgefasst werden können wie in der klassischen Metaphysik, noch als bloße Bestimmungen des Subjektes wie in der Philosophie Kants. Sie müssen vielmehr aus der Einheit von Subjekt und Objekt begriffen werden.
Die Aufgabe der Logik ist es, das reine Denken in seiner spezifischen Bedeutung darzustellen. Sie soll die klassischen Disziplinen der Philosophie, Logik und Metaphysik, ersetzen, indem sie die beiden Programme, die Darstellung des reinen Denkens und der Idee des Absoluten, miteinander vereint.
Die logischen Bestimmungen haben zugleich ontologischen Charakter. Sie sind nicht lediglich Bewusstseinsinhalte, sondern zugleich das Innere der Welt.
Hegels Anliegen ist es, eine systematische Herleitung der Bestimmungen durchzuführen und ihre Notwendigkeit darzulegen. Das entscheidende Mittel dafür stellt das Prinzip der Dialektik dar, das Hegel zufolge in der Natur logischen Bestimmens selbst gründet. Daher ist er der Überzeugung, dass auf diese Weise sämtliche Bestimmungen als ein System der Totalität vollständig herzuleiten sind.
Die Logik gliedert sich in eine objektive Logik – die Lehren von Sein und Wesen – und eine subjektive Logik – die Lehre vom Begriff.
Den Anfang der Logik muss für Hegel ein Begriff machen, der sich durch reine Unmittelbarkeit auszeichnet. Dies wird im Begriff des Seins ausgedrückt, der keinerlei Bestimmungen aufweist. Doch der Verzicht auf jede weitere Differenzierung macht die Bestimmung Sein völlig inhaltsleer. Somit ergibt sich für das Sein immerhin die Bestimmung des Nichts.
Die reine Unmittelbarkeit des Anfangs lässt sich so nur in den zwei gegensätzlichen Bestimmungen Sein und Nichts zum Ausdruck bringen. Die beiden Begriffe gehen ineinander über. Dieser Übergang beider ineinander stellt selbst eine neue Kategorie dar, das Werden. Im Werden sind beide Bestimmungen, Sein und Nichts, enthalten und zwar in ihrem wechselseitigen ineinander Übergehen.
Wird nun ein durch diese Einheit des Werdens vermitteltes Sein gedacht, dann ergibt sich die Bestimmung des gewordenen Seins, des Daseins. Sein Werden verlangt aber, dass auch das Nichts an ihm erkennbar ist. Nach dieser Seite hin zeigt sich das Dasein als ein Etwas, das dem Anderen gegenübersteht. Ein Etwas kann nur erfasst werden, wenn es von Anderem unterschieden wird.
Jede Bestimmung ist eine Grenzziehung, wobei zu jeder Grenze auch etwas gehört, was jenseits von ihr vorhanden ist. Eine Grenze als solche zu denken heißt auch, das Grenzenlose zu denken. Ebenso ist mit dem Gedanken des Endlichen der des Unendlichen gegeben. Das Unendliche ist das Andere des Endlichen, wie auch umgekehrt das Endliche das Andere des Unendlichen ist.
Doch für Hegel kann das Unendliche dem Endlichen nicht einfach gegenübergestellt werden. Das Unendliche würde sonst an das Endliche grenzen und wäre damit begrenzt und endlich. Das wahrhaft Unendliche muss vielmehr so gedacht werden, dass es das Endliche mit umgreift, als die Einheit des Endlichen und Unendlichen, die Einheit, die selbst das Unendliche ist, welches sich selbst und die Endlichkeit in sich begreift.
Hegel will diese Einheit nicht pantheistisch verstanden wissen, da es sich bei ihr um keine indifferente Einheit handelt, sondern um eine solche, in der das Unendliche das Endliche durchaus bestehen lässt. Er nennt diese die wahrhafte Unendlichkeit. Sie unterscheidet sich von der schlechten Unendlichkeit, die nur durch ein bloßes Weiterschreiten von Grenze zu Grenze in einem unendlichen Fortschritt zustande kommt.
Der Rückbezug auf das Jenseits der Grenze charakterisiert das Endliche; er ist das Ergebnis seiner Vermittlung mit dem Unendlichen und macht das Für-sich-sein des Endlichen aus. Aus der Bestimmung des Für-sich-seins entwickelt Hegel noch andere Bestimmungen. Wenn etwas für sich ist, ist es Eines. Ist dieses Eine vermittelt durch Andere, so sind diese ebenfalls jeweils als Eines zu betrachten. Aus dem Eins ergibt sich die Vielheit von Eins. Sie unterscheiden sich voneinander, sind aber ebenso aufeinander bezogen, was Hegel als Attraktion bezeichnet. Ihre gleichförmige Vielheit führt zum Begriff der Quantität.
Der entscheidende Unterschied der Quantität zur Qualität besteht darin, dass durch die Veränderung der Quantität die Identität dessen, was verändert wird, bestehen bleibt. Ein Ding bleibt, was es ist, egal ob es größer oder kleiner gemacht wird.
Hegel unterscheidet zwischen der reinen, unbestimmten Quantität und der bestimmten Quantität. So ist der Raum als solcher eine Instanz der reinen Quantität. Spricht man dagegen von einem bestimmten Raum, so ist er eine Instanz der bestimmten Quantität.
Die beiden Begriffe Anziehung und Abstoßung, die in der Bestimmung der Quantität aufgehoben sind, werden hier zu den Momenten der Kontinuität und Trennung. Auch diese beiden Begriffe setzen einander voraus. Kontinuität bedeutet, dass ein kontinuierlich fortsetzendes Etwas da ist. Dieses Etwas ist notwendigerweise ein von einem Anderen getrenntes Etwas. Umgekehrt setzt auch der Begriff der Trennung den der Kontinuität voraus; man kann nur trennen unter der Voraussetzung, dass etwas da ist, was nicht getrennt ist und wovon das Getrennte getrennt ist.
Eine bestimmte Quantität ist von einer bestimmten Größe, die sich immer durch eine Zahl ausdrücken lässt. Der Begriff der Zahl gehört darum unter die Bestimmung der bestimmten Quantität. Eine Zahl hat zwei Momente: sie ist als Anzahl und als Einheit bestimmt. Der Begriff der Anzahl als eine Summe von Einheiten schließt den Begriff der Trennung, der Begriff der Einheit dagegen schließt den Begriff der Kontinuität ein.
Eine bestimmte Quantität kann eine intensive oder extensive Größe sein. Eine intensive Größe lässt sich mit Hilfe des Begriffs Grad charakterisieren – eines Grades, der je nach Größe mehr oder weniger Intensität hat. Extensive Größen haben weder Grad noch Intensität. Über extensive Größe wird vermittels eines angelegten Maßstabs entschieden. Intensive Größen dagegen können durch keinen außerhalb von ihnen liegenden Maßstab bestimmt werden.
Der Lehre vom Maß handelt von der Einheit von Qualität und Quantität. An anschaulichen Beispielen erläutert Hegel den Charakter dieser Einheit. So führt etwa die quantitative Veränderung der Temperatur des Wassers zu einer qualitativen Änderung seines Zustandes. Es gefriert oder wird zu Dampf. Damit entsteht die Bestimmung eines zugrundeliegenden, indifferent bleibenden Substrates, dessen Zustände sich entsprechend den Maßverhältnissen ändern. Der Gedanke eines Etwas, das in dieser Weise nach Substrat und Zuständen in sich unterschieden ist, führt zur Lehre vom Wesen.
Hegel umschreibt den Begriff des Wesens durch den der Erinnerung, den er im wörtlichen Sinne versteht als Innerlichwerden und In-sich-gehen. Er bezeichnet eine Sphäre, die tiefer liegt als die äußerliche Unmittelbarkeit des Seins, dessen Oberfläche erst durchstoßen werden muss, um zum Wesen zu gelangen. Die logischen Bestimmungen des Wesens sind von der des Seins unterschieden. Im Unterschied zu den seinslogischen Kategorien treten sie vorzugsweise paarweise auf und erhalten ihre Bestimmtheit aus dem Bezug auf ihr jeweils Anderes: Wesentliches und Unwesentliches, Identität und Unterschied, Positives und Negatives, Grund und Begründetes, Form und Materie, Form und Inhalt, Bedingtes und Unbedingtes.
Hegel beginnt mit der Abhandlung der Reflexionsbestimmungen: Identität, Unterschied, Widerspruch und Grund. Er analysiert die Reflexionsbestimmungen in ihrem Verhältnis zueinander und zeigt auf, dass ihnen in ihrer Isolierung gegeneinander keine Wahrheit zukommt. Die bedeutendste Reflexionsbestimmung ist die des Widerspruchs. Hegel legt großen Wert darauf, dass der Widerspruch nicht wie bei Kant in die subjektive Reflexion geschoben werden dürfe. Dies würde eine zu große Zärtlichkeit zu den Dingen bedeuten. Vielmehr kommt der Widerspruch den Dingen selbst zu. Er ist das Prinzip aller Selbstbewegung und deshalb auch in aller Bewegung vorhanden.
Das Prinzip des Widerspruchs gilt nicht allein für die äußerliche Bewegung, sondern ist das Grundprinzip alles Lebendigen: Etwas ist lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist es, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten – anderenfalls geht es an dem Widerspruch zu Grunde. In ganz besonderem Maße gilt dieses Prinzip für die Sphäre des Denkens: Das spekulative Denken besteht nur darin, dass das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält. Der Widerspruch ist so für Hegel die Struktur von logischer, natürlicher und geistiger Wirklichkeit überhaupt.
Im zweiten Abschnitt der Wesenslogik, Die Erscheinung, setzt sich Hegel explizit mit Kant und dem Problem des Dinges an sich auseinander. Seine Absicht ist es nicht nur, die Differenz von Ding an sich und Erscheinung zu eliminieren, sondern darüber hinaus die Erscheinung zur Wahrheit des Dinges an sich zu erklären: Die Erscheinung ist das, was das Ding an sich ist, oder seine Wahrheit.
Was etwas an sich ist, zeigt sich für Hegel nirgends als in seiner Erscheinung und es ist daher sinnlos, dahinter noch ein Reich des An-sich aufzubauen. Die Erscheinung ist die höhere Wahrheit sowohl gegen das Ding an sich als auch gegen die unmittelbare Existenz, da sie die wesentliche Existenz ist, dahingegen die unmittelbare Existenz die noch wesenlose Erscheinung ist.
Im dritten Abschnitt, Die Wirklichkeit, erörtert Hegel zentrale Lehrstücke der logischen und metaphysischen Tradition. Ein zentrales Thema ist dabei die Auseinandersetzung mit Spinozas Begriff des Absoluten.
Hegel sieht im Absoluten einerseits alle Bestimmtheit des Wesens und der Existenz oder des Seins überhaupt sowohl als der Reflexion aufgelöst, da es sonst nicht als das schlechthin Unbedingte verstanden werden könnte. Würde es aber bloß als die Negation aller Prädikate gedacht, so wäre es lediglich das Leere – obschon es doch als dessen Gegenteil, nämlich als die Fülle schlechthin gedacht sein soll. Diesem Absoluten kann nun aber nicht das Denken als äußere Reflexion gegenüberstehen, denn hierdurch würde der Begriff des Absoluten aufgehoben. Die Auslegung des Absoluten kann daher nicht in eine ihm äußere Reflexion fallen, sondern muss vielmehr seine eigene Auslegung sein: In der Tat aber ist das Auslegen des Absoluten sein eigenes Tun, und das bei sich anfängt, wie es bei sich ankommt.
Das dritte Buch der Wissenschaft der Logik entwickelt eine Logik des Begriffs, die sich in die drei Abschnitte Subjektivität, Objektivität und Idee unterteilt.
Im Abschnitt über die Subjektivität handelt Hegel die klassische Lehre von Begriff, Urteil und Schluss ab.
Zur Erläuterung des Begriffs des Begriffs erinnert Hegel an die Natur des Ich. Zwischen dem Begriff und dem Ich besteht eine Analogie: Wie der Begriff, so ist auch das Ich sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht.
Hegels Verwendung des Terminus Begriff unterscheidet sich von dem, was man gewöhnlich unter einem Begriff versteht. Für ihn ist der Begriff keine vom empirischen lnhalt absehende Abstraktion, sondern das Konkrete. Ein wesentliches Moment des Begriffs stellt seine Negativität dar. Hegel lehnt das dem gewöhnlichen Begriffsverständnis zugrundeliegende Konzept einer absoluten Identität ab, da der Begriff der Identität für ihn notwendigerweise den Begriff des Unterschieds mit einschließt.
Hegels Begriff hat drei Momente: Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. Negieren heißt zu bestimmen und zu begrenzen. Das Ergebnis der Negation des Allgemeinen ist das Getrennte, die Besonderheit, das als Ergebnis der Negation dieser Negation mit dem Allgemeinen identisch ist, da die Besonderheit zu der ursprünglichen Einheit zurückkehrt und zur Individualität wird.
Der Begriff des Objekts lässt sich für Hegel nur insofern verstehen, als er eine notwendige Verbindung zum Begriff des Subjekts hat. Insofern ist er auch Gegenstand der Wissenschaft der Logik. Hegels philosophische Analyse führt schrittweise von einer mechanischen über eine chemische zu einer teleologischen Betrachtungsweise des Objekts. Im teleologischen Objekt können die Prozesse, die zum Zweck führen, und der Zweck selbst nicht mehr voneinander verschieden werden. In ihm objektiviert sich die Subjektivität selbst. Diese Einheit von Subjektivität und Objektivität nennt Hegel die Idee.
Im Begriff der Idee sind alle Bestimmungen der Seins- und Wesenslogik wie die der Logik des Begriffs aufgehoben. Die Idee ist das Wahre; sie ist damit identisch mit allem, was die Wissenschaft der Logik in Bezug auf die logische Struktur des Seins darlegt. Alle Kategorien sind in der Idee integriert; mit ihr endet die sogenannte Bewegung des Begriffs.
Hegel unterscheidet drei Aspekte der Idee: Leben, Erkenntnis und die absolute Idee.
Im Leben kann die Idee als Einheit von Seele und Körper verstanden werden. Die Seele macht einen Organismus erst zu einem solchen. Die verschiedenen Teile eines Organismus sind, was sie sind, ausschließlich aufgrund ihres Verhältnisses zur Einheit des Organismus.
In der Erkenntnis (des Wahren und des Guten) strebt das erkennende Subjekt nach Wissen über ein gegebenes Objekt. Das Objekt der Erkenntnis ist dabei vom Subjekt zugleich unterschieden und mit ihm identisch.
In der absoluten Idee schließlich – als der Kulmination des philosophischen Denkens – sieht das Bewusstsein die Identität von Subjektivem und Objektivem – von An-sich und Für-sich – ein. Das Subjekt erkennt sich selbst als Objekt und das Objekt ist darum das Subjekt.
Der Übergang von der Idee zur Natur gehört zu den dunkelsten Passagen in Hegels Werk. Es geht an dieser Stelle um das Problem der Metaphysik, welchen Grund ein göttliches Absolutes wohl haben könnte, sich in der Schöpfung einer unvollkommenen Welt zu verendlichen.
Hegel bemerkt, dass die absolute Idee als letzte logische Bestimmung noch in den reinen Gedanken eingeschlossen, die Wissenschaft nur des göttlichen Begriffs ist. Indem sie solchermaßen noch in die Subjektivität eingeschlossen ist, ist sie Trieb, diese aufzuheben und entschließt sich darum, sich als Natur frei aus sich zu entlassen.
Der Logos muss aufgrund des ihm eigenen dialektischen Charakters aus sich heraustreten und sich sein Anderes, die Natur, entgegensetzen, die sich durch Begriffslosigkeit und Vereinzelung auszeichnet. Diese Entäußerung des Logos geschieht letztlich zu seiner eigenen Vollendung.
Hegel definiert die Natur als die Idee in der Form des Andersseins. Die Natur als das Nicht-Logische bleibt bei Hegel dialektisch an den Logos zurückgebunden. Als das Andere des Logos ist sie im Grunde selbst noch von diesem her bestimmt, das heißt die Natur ist nur ihrer äußeren Erscheinung nach ein Nichtlogisches; ihrem Wesen nach ist sie an sich die Vernunft. Das an sich logische Wesen der Natur drückt sich in den Naturgesetzen aus. Diese liegen den Naturdingen zugrunde und bestimmen ihr Verhalten, ohne jedoch selbst ein Naturding zu sein. Naturgesetze sind nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern haben ihrerseits eine logische Existenz; sie existieren im Denken des die Natur erkennenden Geistes.
Hegel sieht das Verhältnis zwischen Idee und Natur nicht als gleichgewichtig an; vielmehr steht für ihn die Natur unter dem Primat der Idee. Die Natur ist nicht schlechthin Idee oder Geist, sondern das Andere. In der Natur ist die Idee sich äußerlich geworden, jedoch nicht etwa umgekehrt die Natur sich äußerlich in der Idee.
Da das Geistige für Hegel insgesamt einer höheren Stufe angehört als das bloß Natürliche, ist für ihn selbst das Böse noch höher einzustufen als die Natur. Der Mangel der Natur zeigt sich darin, dass sie nicht einmal böse sein kann: Wenn aber die geistige Zufälligkeit, die Willkür bis zum Bösen fortgeht, so ist dies selbst noch ein unendlich Höheres als das gesetzmäßige Wandeln der Gestirne oder als die Unschuld der Pflanze; denn was sich so verirrt, ist Geist.
So versteht Hegel auch die Natur nicht als etwas bloß Objektives und Unmittelbares. Sie ist dem Bewusstsein nicht einfach nur von außen her gegeben, sondern ein immer schon geistig Erfasstes. Dennoch spielt Hegel diese gewusste, immer auch durch Leistungen der Subjektivität konstituierte Natur nie gegen eine Natur an sich aus. Es ist für Hegel sinnlos, der Natur ein über das Bewusstsein hinaus bestehendes, wahres, jedoch nicht erkennbares Sein zuzusprechen.
Hegel betrachtet die Natur als ein System von Stufen, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert. Die Naturphänomene zeigen dabei eine Tendenz zunehmender Idealität – vom elementaren Außereinandersein bis zur Idealität des Psychischen.
Dieses Stufenkonzept der Natur ist allerdings nicht als Evolutionstheorie mißzuverstehen. Die Aufeinanderfolge der Stufen ergibt sich für Hegel nicht so, dass die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern als existierend in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee. Die Metamorphose kommt nur dem Begriffe als solchem zu, da dessen Veränderung allein Entwicklung ist.
Hegel versteht die Naturphilosophie als eine materiale Disziplin, nicht als bloße Wissenschaftstheorie. Wie die Naturwissenschaft thematisiert sie die Natur, hat jedoch eine von ihr unterschiedene Fragestellung. Es geht nicht um ein bloß theoretisches Verständnis irgendeines Gegenstands oder Phänomens der Natur, sondern um ihre Stellung auf dem Weg des Geistes zu sich selbst. Natur ist für Hegel nichts bloß Objektives. Sie zu begreifen schließt immer ein Sich-selbst-Begreifen des Geistes ein.
Hegel unterscheidet die drei Disziplinen, Mechanik, Physik und organische Physik. Als Mechanik wird dabei der mathematisierbare Teil der Physik betrachtet. Die Physik dagegen beschreibt alle anderen Phänomene, die der Veränderung unterworfen sind: die Umwandlungsprozesse der Materie und des Organischen. Die organische Physik betrachtet ihre Gegenstände, Erde, Pflanzen und Tiere, als einen Organismus.
Der Geist ist für Hegel die Wahrheit und das absolut Erste der Natur. In ihm wird die Entäußerung des Begriffs wieder aufgehoben, die Idee gelangt zu ihrem Für-sich-sein.
Während die Natur auch als denkend durchdrungene immer etwas vom Geiste Unterschiedenes, Unmittelbares bleibt, auf das der Begriff gerichtet ist, fallen im Geist Gegenstand und Begriff in eins zusammen. Geist ist das Begreifende und das Begriffene; er hat den Begriff zu seinem Dasein.
Der Geist, der auf Geistiges gerichtet ist, ist bei sich und somit frei. Alle Gestalten des Geistes weisen eine grundlegend sich auf sich selbst beziehende Struktur auf. Sie tritt bereits bei den Formen des subjektiven Geistes auf, findet ihre charakteristische Gestalt jedoch erst dort, wo sich der Geist objektiviert und zum objektiven Geist wird. In der Gestalt des absoluten Geistes schließlich fallen Wissen und Gegenstand des Geistes zur an und für sich seienden Einheit der Objektivität des Geistes zusammen.
Den ersten Teil der Philosophie des subjektiven Geistes stellt die Anthropologie dar. Ihr Thema ist nicht der Mensch schlechthin, sondern dieSeele, welche Hegel von Bewusstsein und Geist unterscheidet. Der subjektive Geist ist hier an sich oder unmittelbar, dagegen er im Bewusstsein als für sich vermittelt und im Geist als sich in sich selbst bestimmend erscheint.
Hegel wendet sich gegen den Dualismus von Leib und Seele. Für ihn ist die Seele zwar immateriell, steht aber nicht im Gegensatz zur Natur. Sie ist vielmehr die allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben. Als solche ist sie stets auf Natur bezogen. Die Seele ist nur dort, wo Leib ist; sie stellt das Prinzip der Bewegung dar, den Leib in Richtung auf das Bewusstsein zu transzendieren.
Die Entwicklung der Seele durchläuft dabei die drei Stufen einer natürlichen, einer fühlenden und einer wirklichen Seele.
Die natürliche Seele ist noch völlig mit der Natur verwoben und noch nicht einmal in unmittelbarer Weise in sich reflektierend. Die Welt, die noch nicht durch eine Tat der Abstraktion zu sich gekommen ist, ist von ihr nicht ablösbar, sondern bildet einen Teil von ihr.
Die fühlende Seele unterscheidet sich von der natürlichen durch das stärkere Moment der Reflexion. Hegel behandelt in diesem Zusammenhang im Wesentlichen parapsychologische Phänomene, psychische Krankheiten und das Phänomen der Gewohnheit.
Die wirkliche Seele entsteht im Prozess der Befreiung des Geistes von der Natürlichkeit. In ihm wird der Leib schließlich zur bloßen Äußerlichkeit, in dem das Subjekt sich nur auf sich bezieht. Das Geistige steht dabei für Hegel nicht abstrakt neben dem Leib, sondern es durchdringt ihn. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von einem über das Ganze ausgegossenen geistigen Ton, welcher den Körper unmittelbar als Äußerlichkeit einer höheren Natur offenbart.
Der mittlere Abschnitt der Philosophie des subjektiven Geistes hat das Bewusstsein oder das Ich zum Gegenstand. Die Seele wird zum Ich, indem sie in sich selbst reflektiert und eine Grenze zwischen sich und dem Gegenstand zieht. Während die Seele noch nicht in der Lage ist, sich aus ihren Inhalten, den Empfindungen, herauszureflektieren, ist das Ich gerade durch das Sich-von-sich-selbst-unterscheiden definiert.
Aufgrund dieser Abstraktionsfähigkeit ist das Ich leer und einsam, denn jeder objektive Inhalt ist außerhalb des Ichs. Doch das Ich bezieht sich zugleich auf das, was es ausschließt, indem der Verstand die Unterschiede als selbständig annimmt und zugleich auch ihre Relativität setzt, aber diese Gedanken nicht zusammenbringt, sie nicht zum Begriff vereint. Das Bewusstsein ist daher der Widerspruch der Selbständigkeit beider Seiten und ihrer Identität, in welcher sie aufgehoben sind.
Die Angewiesenheit des Ich auf sein Objekt beruht gerade darauf, dass es das Objekt von sich abstoßen muss, um Ich zu sein. Dies zeigt sich in der Entwicklung des Bewusstseins darin, dass einer Änderung seines Objekts eine Änderung seiner selbst entspricht. Das Ziel der Entwicklung ist, dass das Ich den an sich immer schon mit ihm identischen Gegenstand auch ausdrücklich als solchen erkennt, dass es auch in dem Inhalt des Gegenstandes, der ihm zunächst fremd ist, sich selbst begreift.
Die abschließende Stufe des Bewusstseins, in der eine Identität der Subjektivität des Begriffs und seiner Objektivität erreicht ist, ist die Vernunft, der Begriff des Geistes, der zur Psychologie des Geistes überleitet.
Das Thema von Hegels Psychologie ist der Geist im eigentlichen Sinn. Während die Seele noch an die Natur, das Bewusstsein an ein ihm äußerliches Objekt gebunden war, unterliegt der Geist keinen ihm fremden Bindungen mehr. Es geht ab jetzt in Hegels System nicht mehr um das Wissen eines Gegenstandes, sondern um das Wissen des Geistes von sich selbst: Der Geist fängt daher nur von seinem eigenen Sein an und verhält sich nur zu seinen eigenen Bestimmungen. Er wird zunächst zum theoretischen, praktischen und freien Geist, später schließlich zum objektiven und absoluten Geist.
Hegels Bestimmung des Verhältnisses von theoretischem und praktischem Geist ist widersprüchlich. Zum einen sieht er eine Priorität des theoretischen Geistes, da der Wille als der praktische Geist gegenüber der Intelligenz als dem theoretischen Geist das Beschränktere sei. Während der Wille sich mit der äußerlichen, widerstandleistenden Materie, mit der ausschließenden Einzelheit des Wirklichen, in Kampf einlässt und zugleich anderen menschlichen Willen sich gegenüber hat, geht die Intelligenz in ihrer Äußerung nur bis zum Wort, dieser flüchtigen, verschwindenden, in einem widerstandslosen Element erfolgenden, ganz ideellen Realisation, bleibt also in ihrer Äußerung vollkommen bei sich und in sich selber befriedigt. Die Auseinandersetzung mit der materiellen Realität wird von Hegel als anstrengend und mühsam beschrieben. Der praktische Geist wird gegenüber dem theoretischen Geist daher abgewertet. Der theoretische Geist ist dagegen bei sich bleibender Selbstzweck.
Andererseits bewertet Hegel den praktischen Geist als Fortschritt gegenüber dem theoretischen und macht ihn sogar zum realphilosophischen Pendant seiner höchsten logischen Kategorie, der Idee: Der praktische Geist hat nicht nur Ideen, sondern ist die lebendige Idee selbst. Er ist der sich aus sich selbst bestimmende und seinen Bestimmungen äußerliche Realität gebende Geist. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Ich, wie es nur theoretisch oder ideell und wie es praktisch oder reell sich zum Gegenstande, zur Objektivität macht.
Ein wesentliches Element des theoretischen Geistes stellt die Sprache dar. Sie ist die Tätigkeit der Zeichen-machenden Phantasie. Die Sprache hat für Hegel im Wesentlichen eine Bezeichnungsfunktion. Mit ihr gibt der Geist den aus den Bildern der Anschauung gebildeten Vorstellungen ein zweites, höheres Dasein. Die Sprache ist für das Denken unerlässlich. Das Gedächtnis ist sprachliche Erinnerung; in ihm werden nicht Bilder, sondern Namen aufbewahrt, in denen Bedeutung und Zeichen zusammenfallen. Das reproduzierende Gedächtnis erkennt ohne Anschauung oder Bild, allein anhand der Namen, und ermöglicht somit das Denken: Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solches Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung. Es ist in Namen, dass wir denken.
Hegel betont immer wieder, dass es unmöglich ist, in der Sprache die Einzelheit eines Dinges zu fixieren. Die Sprache verwandelt gegen die innere Intention des Sprechers alle sinnlichen Bestimmungen unweigerlich in ein Allgemeines und ist insofern klüger als unsere eigene Meinung. Darüber hinaus überschreitet die Sprache auch die Vereinzelung des Ichs, indem sie meine bloß subjektive Meinung von der Einzelheit aufhebt: Indem die Sprache das Werk des Gedankens ist, kann in ihr nichts gesagt werden, was nicht allgemein ist. Was ich nur meine, ist mein, gehört mir als einem besonderen Individuum an; wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was nur ich meine.
Obwohl Hegel die Sprachlichkeit des Denkens anerkennt, hat für ihn das Denken dennoch eine der Sprache gegenüber primäre Existenz. Nicht das Denken hängt von der Sprache, sondern umgekehrt die Sprache vom Denken ab. Die in der Sprache geronnene Vernunft gilt es zu entdecken.
Hegel betont die vernünftige Natur der Triebe, Neigungen und Leidenschaften, die er als eine Form des praktischen Geistes betrachtet. Sie haben die vernünftige Natur des Geistes einerseits zu ihrer Grundlage, sind aber andererseits mit Zufälligkeit behaftet. Sie beschränken den Willen auf eine Bestimmung unter vielen, in die das Subjekt das ganze lebendige Interesse seines Geistes, Talentes, Charakters und Genusses legt. Doch ist für Hegel nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden, noch kann es ohne solche vollbracht werden. Es ist nur eine tote, oft heuchlerische Moralität, welche gegen die Form der Leidenschaft als solche loszieht.
Hegel wehrt sich gegen jegliche moralische Bewertung von Leidenschaft und Neigungen. Für ihn kommt generell keine Tätigkeit ohne Interesse zustande. Er spricht daher den Leidenschaften eine formelle Vernünftigkeit zu; sie haben die Tendenz, durch die Tätigkeit des Subjekts selbst die Subjektivität aufzuheben und so realisiert zu werden.
Die höchste Stufe des objektiven Geistes stellt die Weltgeschichte dar. Sie ist die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang von Innerlichkeit und Äußerlichkeit.
In der Weltgeschichte und dem Aufkommen und Untergehen einzelner Staaten wird der objektive Geist zum allgemeinen Weltgeist. Er benutzt dazu die endlichen Gestalten des subjektiven und objektiven Geistes als Werkzeuge seiner eigenen Verwirklichung. Diesen Prozess bezeichnet Hegel als das Weltgericht, welches das höchste und absolute Recht darstellt.
Der Endzweck der Weltgeschichte ist die endgültige Versöhnung von Natur und Geist. Damit verbunden ist die Herstellung eines Ewigen Friedens, in dem alle Völker als besondere Staaten ihre Erfüllung finden können. In diesem Frieden ist das Gericht der Geschichte vorüber.
Das Prinzip der Entwicklung beginnt mit der Geschichte Persiens, und darum macht diese den eigentlichen Anfang der Weltgeschichte.
Die großen Ereignisse und Entwicklungslinien der Weltgeschichte können nur im Licht der Idee der Freiheit verstanden werden, deren Entwicklung notwendig für die Erreichung des Ewigen Friedens ist. Die wesentlichen Merkmale des Geistes einer bestimmten geschichtlichen Epoche offenbaren sich in den großen Ereignissen, die wichtige Fortschritte hinsichtlich der größeren Freiheitsentfaltung der Völker darstellen.
Hegel unterscheidet vier Reiche, welche aufeinander folgen wie die Lebensperioden eines Menschen. Die orientalische Welt wird verglichen mit dem Kindesalter, die griechische mit der Jünglingszeit, die römische mit dem Mannesalter und die germanische oder westeuropäische mit dem Greisenalter.
Europa selbst hat wiederum drei Teile: das Gebiet um das Mittelmeer, das seine Jugend darstellt; das Herz mit Frankreich, England und Deutschland als die wichtigsten weltgeschichtlichen Staaten, und das nordöstliche Europa, das sich erst spät entwickelt hat und noch stark mit dem prähistorischen Asien verbunden ist.
Die Geschichte der Völker läuft üblicherweise in drei verschiedenen Perioden ab: Erstens, die Periode des Hervorbringens. In ihr lebt ein Volk für sein Werk und bringt das hervor, was sein inneres Prinzip ist. Es ist eine Periode von großer Tätigkeit, ohne Zwiespalt, in der die Individuen ganz im gemeinschaftlichen Werk aufgehen. Zweitens, die Periode, wo der Geist hat, was er will, und seine Tätigkeit nicht mehr braucht. Das Volk lebt hier im Übergang des Mannesalters zu seinem Greisenalter, im Genuss des Erreichten, in der Gewohnheit seines Seins. Das unveränderte Weiterleben eines Volkes in dieser Periode der bedürfnislosen Fortsetzung der Gewohnheit kommt einem natürlichen Tod gleich. Drittens, die Periode der Reflexion und Subjektivität. Sie wird von Völkern mit einer weltgeschichtlichen Rolle durchlebt. Die bestehenden Tugendvorstellungen werden in Frage gestellt; es wird nach allgemein gültigen Begründungen für sie gesucht. Es ist die Zeit des Aufblühens von Wissenschaft und Philosophie. Diese Suche nach ideeller Befriedigung ist der Weg, auf dem aus dem Tiefsten heraus der Volksgeist sich den Untergang bereitet.
Ein Volk kann nur einmal eine weltgeschichtliche Rolle einnehmen, weil es nur einmal diese dritte Periode durchlaufen kann. Die höhere Stufe, welche danach folgt, ist wieder ein Natürliches, erscheint so als ein neues Volk.
Hegels Philosophie des absoluten Geistes umfasst seine Theorie der Kunst, der Religion und der Philosophie.
Der Geist wird sich erst als absoluter Geist des Prinzips der Welt, das heißt der absoluten Idee, bewusst. Der absolute Geist ist dabei in Kunst, Religion und Philosophie präsent, allerdings in jeweils anderer Form. Während in der Kunst das Absolute angeschaut wird, wird es in der Religion vorgestellt und in der Philosophie gedacht.
In der Kunst fallen Subjekt und Objekt auseinander. Das Kunstwerk ist ein ganz gemein äußerlicher Gegenstand, der sich nicht selbst empfindet und sich nicht selbst weiß; das Bewusstsein seiner Schönheit fällt in das anschauende Subjekt. Das Absolute erscheint außerdem in der Kunst nur in der Gestalt seiner Schönheit und kann daher nur angeschaut werden.
Der Gegenstand der Religion hat dagegen nichts Natürliches mehr an sich. Das Absolute ist in ihr nicht mehr als äußeres Objekt, sondern als Vorstellung im religiösen Subjekt präsent; es wird aus der Gegenständlichkeit der Kunst in die Innerlichkeit des Subjekts hineinverlegt. Die religiöse Vorstellung nimmt allerdings noch eine Zwischenstellung zwischen Sinnlichkeit und Begriff ein, zu denen sie in beständiger Unruhe steht. Diese Zwischenstellung zeigt sich für Hegel darin, dass für die Religion Geschichten, zum Beispiel die Geschichte Jesu Christi, von großer Bedeutung sind, obgleich in ihnen ein zeitloses Geschehen gemeint ist.
In der Philosophie dagegen wird das Absolute als das erkannt, was es eigentlich ist. Sie begreift die innere Einheit der mannigfachen religiösen Vorstellungen auf rein begriffliche Weise und eignet sich durch systematisches Denken das an, was sonst nur Inhalt subjektiver Empfindung oder Vorstellung ist. Die Philosophie stellt die Synthese von Kunst und Religion dar; in ihr sind die beiden Seiten der Kunst und Religion vereinigt: die Objektivität der Kunst, welche hier zwar die äußere Sinnlichkeit verloren, aber deshalb mit der höchsten Form des Objektiven, mit der Form des Gedankens vertauscht hat, und die Subjektivität der Religion, welche zur Subjektivität des Denkens gereinigt ist.
Der spezifische Gegenstand der Kunst ist die Schönheit. Das Schöne ist der sinnliche Schein der Idee. Die Kunst hat insofern ebenso wie Religion und Philosophie einen Bezug zur Wahrheit, zur Idee. Schönheit und Wahrheit sind für Hegel einerseits dasselbe, da das Schöne wahr an sich selbst sein muss. Allerdings wird im Schönen die Idee nicht so gedacht, wie sie in ihrem An-sich und ihrem allgemeinen Prinzip nach ist. Vielmehr soll sich im Schönen die Idee äußerlich realisieren und natürliche und geistige Objektivität gewinnen.
Im Unterschied zur Auffassung Platons sei die Kunst keine bloße Täuschung. Gegenüber der empirischen Wirklichkeit hat sie vielmehr die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein. Indem sie ihr den Schein und die Täuschung nimmt, enthüllt sie den wahrhaften Gehalt der Erscheinungen und gibt ihnen so eine höhere, geistgeborene Wirklichkeit.
Der Entwicklungsgang der Religion in ihren verschiedenen geschichtlichen Gestaltungen wird bestimmt durch die verschiedene Vorstellung des Absoluten, die ihr jeweils zugrunde liegt. Die Geschichte der Religionen stellt für Hegel eine Lerngeschichte dar, an deren Abschluss das Christentum steht. Er unterscheidet drei Grundformen von Religion: Naturreligionen, Religionen der geistigen Individualität und die vollendete Religion.
In den Naturreligionen wird Gott in unmittelbarer Einheit mit der Natur gedacht. Es stehen zunächst Zauberei, Geister- und Totenkulte im Vordergrund (etwa in China). Eine weitere Entwicklungsstufe stellen die Religion der Phantasie (etwa in Indien) und die Religion des Lichts (etwa in Persien) dar.
In den Religionen der geistigen Individualität wird Gott als primär geistiges Wesen aufgefasst, das nicht Natur ist, sondern über die Natur herrscht und sie bestimmt. Diesen Religionen ordnet Hegel die jüdische, griechische und römische Religion zu.
Das Christentum schließlich ist die vollendete Religion. In ihm wird Gott als trinitarische Einheit von Vater, Sohn und Geist vorgestellt. Das Christentum ist sich der in Gott selbst immanenten Differenzierung bewusst, weshalb es für Hegel den entscheidenden Schritt über die anderen Religionen hinaus leistet.
In der Person des Vaters betrachten die Christen Gott sozusagen vor oder außer Erschaffung der Welt, das heißt als reinen Gedanken und göttliches Prinzip. Gott wird als Allgemeines verstanden, das auch die Unterscheidung, das Setzen seines Anderen, des Sohnes, und die Aufhebung der Differenz beinhaltet.
Die Menschwerdung Gottes in Christus ist notwendiger Teil des Göttlichen. Wesentlicher Teil der menschlichen Erscheinung Gottes ist dabei der Tod Jesu Christi, der höchste Beweis der Menschlichkeit des Gottessohnes. Dieser erscheint nicht denkbar ohne die Auferstehung Christi. Mit der Überwindung der Endlichkeit erfolgt die Negation der Negation Gottes. Am auferstandenen Christus zeigt sich, dass Gott es ist, der den Tod getötet hat, einen Tod, der Ausdruck seines radikal Anderen, des Endlichen ist.
Die Philosophie ist die letzte Gestalt des absoluten Geistes. Hegel nennt sie den denkend erkannten Begriff der Kunst und Religion. Philosophie ist das in die Begriffsform erhobene Wissen von Kunst und Religion. Im Unterschied zu deren Erkenntnisformen, Anschauung und Vorstellung, ist die Philosophie als begriffliches Erkennen ein Erkennen der Notwendigkeit des absoluten Inhalts selbst. Das Denken produziert nicht erst diesen Inhalt; es ist selbst nur das Formelle des absoluten Inhalts. Es produziert im Begriff zwar die Wahrheit, aber es erkennt diese Wahrheit als ein zugleich nicht Produziertes, als an und für sich seiendes Wahres an.

 

ZWÖLTES KAPITEL

SCHELLING

In der ersten Periode knüpft Schelling an Fichte an. Hier erscheint Schelling, wie Fichte, von dem Bestreben beherrscht, die Philosophie als eine Vernunftwissenschaft darzustellen. In der zweiten Periode, in welcher er seinen eigenen Worten nach wieder zu Kant zurückgekehrt ist, sieht Schelling dagegen die Philosophie als eine die bloße Vernunfterkenntnis überschreitende positive Wissenschaft. Beiden Perioden gemeinsam ist das Bemühen, das Ganze der Wissenschaft aus einem einzigen Prinzip systematisch abzuleiten, jedoch mit dem Unterschied, dass dieses Prinzip in der ersten Periode (Philosophie ist Vernunftwissenschaft) als innerhalb der Vernunft selbst gelegenes, dessen Folgen notwendige und daher der bloßen Vernunft erreichbare sind, in der zweiten Periode (Philosophie ist positive Wissenschaft) dagegen als jenseits und über der Vernunft gelegenes, transzendentes, übervernünftiges, unvordenkliches angesehen wird, dessen Folgen freie Folgen sind und daher nur durch Erfahrung (der Geschichte und der Offenbarung) erkennbar sind.
In Schellings System der Philosophie wird das schöpferische Ich im Anschluss an Fichtes ursprüngliche Wissenschaftslehre zum obersten Prinzip gemacht. Nach Beseitigung des Dinges an sich (nach Kant) in Fichtes Entwurf ist das Ich das einzige Reale, durch dessen innerlich zwiespältige, ruhelos setzende und wieder aufhebende Tätigkeit die Totalität des Wissens als des einzig Realen zustande kommt, daher sein System Idealismus ist. Während jedoch Fichte das Ich als die individuelle Grundlage des persönlichen menschlichen Bewusstseins auffasst, begreift Schelling es als allgemeines oder absolutes, mit einer in der Naturform bewusstlos schöpferischen Produktion – die reale Natur – und einer in der Geistesform bewusst schöpferischen Produktion – die ideale Geisteswelt. Beide, das Ideale wie das Reale, sind aber als Seiten desselben absoluten Ich in ihrer Wurzel identisch. Die Deduktion des gesamten Naturseins aus dem Absoluten als unbewusst schaffendem Realprinzip ist Gegenstand der Naturphilosophie, durch welche Schelling ein neues Blatt in der Geschichte der Philosophie aufgeschlagen hat.
Die Deduktion des gesamten geistigen Bewusstseinsinhalts, wie er in den drei aufeinanderfolgenden Bereichen der Kunst, Religion und Philosophie enthalten ist, aus dem Absoluten als nach dem Erwachen des Bewusstseins schöpferischem Idealprinzip, macht die Philosophie des Geistes oder des Systems des transzendentalen Idealismus aus, durch welches Schelling Fichtes Gewichtung bei der Relation Geist-Natur auf die Natur als Ursache ausdehnt und verlagert. Die durch das Studium Spinozas und Giordano Brunos befruchtete Auffassung von der wesenhaften Identität der realen und idealen Sphäre als lediglich zwei verschiedenen Ansichten eines und desselben Absoluten bildet den Inhalt der Identitäts-Philosophie. Schelling entwickelte diese Lehre vermischt mit der Platonischen Ideenlehre in dem Gespräch: „Bruno“. Um die Identität von Subjekt und Objekt zu erklären, ordnet er den Geist vollständig in die Natur ein und fasst ihn als Sich-selbst-bewusst-Werden der Natur auf: Entsprechend ist die Natur unbewusst (also in Naturform) schöpferischer Geist, die Tätigkeiten der lebendigen Urkraft Natur sind also unbewusste Geistestätigkeiten. Wie das Wissen nichts Totes ist, so ist die Natur kein starres Sein, sondern ununterbrochenes Leben. Jedes einzelne Geistes- und Naturprodukt entsteht durch das immer tätige rhythmische Spiel entgegengesetzter Kräfte, die sich ständig zu neuen Stufen weiterentwickeln. Als ursprünglichste Kräfte der Natur wirken Expansion und Kontraktion, aus deren gegenseitiger Spannung die Materie als erstes Produkt des Naturprinzips entspringt. Die erstgenannte Kraft wird von Schelling aufgrund ihrer raumdurchdringenden Eigenschaft als Licht im übertragenen Sinn benannt und stellt den positiven, stoffgebenden Faktor der Materie dar. Den zweiten, den negativen formgebenden Faktor bezeichnet er seiner verdichtenden Eigenschaft wegen als Schwere. Beide Kräfte werden mit den analogen Bewusstseinstätigkeiten des leeren Schauens und des bestimmten Empfindens verglichen, aus deren gegenseitiger Spannung das erste Geistesprodukt, die Anschauung, entsteht. Wie aus der Anschauung alle höheren Produkte des Bewusstseinslebens durch fortgesetzte Geistestätigkeit hervorgehen, so geschieht dies entsprechend bei den Potenzierungen der Materie aus dem realen Leben des universalen oder absoluten Ich (das Welt-Ich): Durch fortgesetzte Naturtätigkeit entwickeln sich alle höheren Naturprodukte (der unorganischer Naturprozess, das organisches Naturleben und das Bewusstsein). Den Schluss und Abschluss dieses Prozesses bildet das auf der höchsten Naturstufe im Menschen erwachende Bewusstsein, in welchem der bisher bewusstlos, aber zweckmäßig tätig gewesene Naturgeist oder die Weltseele sich selbst, als das einzige Reale, zum Objekt seines Anschauens macht. Damit aber beginnt von Seiten des sich als Mensch im Universum selbst erschauenden Absoluten ein neuer, dem Naturprozess analoger Geistesprozess: Während beim Ersten sich das Absolute von Stufe zu Stufe bis zum vollkommensten Naturprodukt, dem Menschen, erhebt, entwickelt sich beim Zweiten das im Menschen verkörperte, also selbst zu einem Teil der Natur gewordene Absolute zum Bewusstsein seiner selbst als des Absoluten.
Wie der Verlauf des ersten Prozesses die Geschichte der Natur, die Menschwerdung, darstellt, so der des zweiten die Weltgeschichte, die Gottwerdung, an deren Ende, wie Schelling sich ausdrückt, Gott sein wird. Die Phasen dieser Entwicklung verlaufen so, dass das Absolute anfänglich in der Form der sichtbaren Natur angeschaut, darauf subjektiv in der Form des unsichtbaren Geistes gefühlt, schließlich als eins mit dem Erkennenden gewusst wird. Dadurch sollen zugleich die drei Formen der Offenbarung des Absoluten – Kunst, Religion und Philosophie – und die drei Hauptperioden der Weltgeschichte – Altertum, Mittelalter und Neuzeit – charakterisiert werden. Diese entschieden pantheistische Gestalt seiner Philosophie ist von Schelling in der zweiten Periode entschieden verleugnet worden. Während sie ursprünglich seine gesamte Philosophie ausmachen sollte, setzt er sie nun zu einem zwar integrierenden, aber untergeordneten Glied des Gesamtorganismus der Wissenschaft herab: Da man sich Gott, der nach dem Ausspruch des frühen Schelling erst am Ende sein wird, zwar als Ende und Resultat unseres Denkens, nicht aber als Resultat eines objektiven Prozesses denken kann, so folgt, dass die bisherige rationale Philosophie sich in einem Missverständnis über sich selbst befindet, indem sie sich den ganzen von ihr nachgewiesenen Gottwerdungs- Prozess als einen realen vorgestellt, während er nur ein idealer, im bloßen Denken vor sich gehender ist. Das Resultat der rein rationalen Philosophie, die er nun als negative bezeichnet, ist daher kein wirkliches, sondern ein bloßes Gedankending: nicht der wirkliche Gott, sondern nur der Gottesgedanke; die wirkliche Welt, wie sie ist, deren Begreifen die Aufgabe der Philosophie ausmacht, kann nicht aus einem bloßen Gedanken, sondern nur aus einem objektiven Prinzip, also aus dem wirklichen Gott, nicht aus dem bloßen Gottesgedanken begriffen werden.
Während die negative Philosophie Gott erst am Ende als Prinzip folgert, setzt die positive diesen vor allem Anfang als Prinzip: Gott ist das absolute Erste, dessen Existenz weder bewiesen werden kann noch bewiesen zu werden braucht und welches keine Notwendigkeit hat, das heißt durch nichts gezwungen werden kann, eine Welt hervorzubringen. Die Welt ist daher von Seiten Gottes nur als Folge einer freien Tat und als solche von Seiten der Philosophie nur als Gegenstand einer Erfahrungserkenntnis aufzufassen. Die Aufgabe der positiven Philosophie sieht Schelling darin, in einem freien Denken in urkundlicher Folge das in der Erfahrung Vorkommende nicht als das Mögliche, wie die negative Philosophie, sondern als das Wirkliche aufzuzeigen. Die Urkunden der Offenbarung – als das erfahrungsmäßig Gegebene aus Gott, dem Ersten vor aller Erfahrung – sind ihr als Richtschnur für ihre Ableitungen vorgegeben. Da nun von allen erfahrungsmäßig gegebenen Tatsachen der offenbarungsgläubigen Geschichte keine mit der Existenz eines göttlichen Schöpfers der tatsächlichen Welt mehr im Widerspruch zu stehen scheint als die Existenz des Übels und des Bösen in der Welt, so ist es verständlich, dass der Umschwung in der Philosophie Schellings mit seinen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit beginnt, zu welchen er durch die Schriften des christlichen Mystikers und Theosophen Jakob Böhme veranlasst wurde, die auf ihn bedeutenden Einfluss ausübten. In seinen Untersuchungen, die als Versuch einer Theodizee gelesen werden können, versucht Schelling die Frage nach dem Ursprung des Bösen und der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt zu beantworten: Als Ursache des Bösen kommt weder Gott in Betracht noch ein zweites Wesen neben Gott. Das Böse geht vielmehr auf eine Tat des Menschen, den Sündenfall, zurück. Bevor Schelling die Lehre des Sündenfalls ausführt, erklärt er, wie dem Menschen das Vermögen zum Bösen zukommen kann: Der Mensch ist von Gott dadurch unabhängig, dass er in dem wird, was in Gott nicht Gott selbst ist, das heißt in der Natur in Gott oder im tiefsten Grund. Im Menschen wirkt dieser Wille als Eigenwille, der dem eigentlichen Willen Gottes, dem Willen der Liebe, untergeordnet ist. Dadurch dass der Mensch seiner Aufgabe nicht genügt, die Schöpfung mit Gott zu vermitteln, und in einer Perversion diese Ordnung der Willen verkehrt, wird das Böse möglich. Die Zurückführung unserer durch Krankheit und Tod gekennzeichneten Welt in die ursprüngliche Einheit mit Gott beginnt im menschlichen Bewusstsein zuerst als außergöttlicher, Göttervorstellungen erzeugender Prozess in den Mythologien des Heidentums, in Schellings Darstellung der Philosophie des Mythos. Nach Überwindung des mythologischen Prozesses durch die aus Gottes freiester Tat entsprungene und durch die im Christentum der Menschheit zuteil gewordene Offenbarung, als vermittelter Wiederbringung des Menschen und der ganzen Schöpfung in Gott, wird der Zweck der Schöpfung erreicht. In Schellings Philosophie der Offenbarung bildet dies den Abschluss und die Krönung des ganzen Systems in der Gewinnung einer philosophischen, das heißt freien und wahrhaftigen Geistesreligion.


DREIZEHNTES KAPITEL

FRANZ VON BAADER
Franz von Baaders philosophische Schriften wurden sehr geschätzt. Seine Theorien von einer einheitsstiftenden Weltseele und seine Böhme-Rezeption haben insbesondere auf Schellings Naturphilosophie eingewirkt, der ihm anfangs sehr verbunden war. Er beteiligte sich am Kreis um Görres. Ab 1826 war Baader Professor für Philosophie der nach München zurück verlegten Universität München, wo er religionsphilosophische und erkenntnistheoretische Vorlesungen hielt.
Baader stand der religiösen Bewegung nahe, die sich mit neuen Formen der Ökumene befassten: Es könnte leicht von München aus wieder gut gemacht werden, was von Wittenberg aus verdorben war.

VIERZEHNTES KAPITEL
SÖREN KIERKEGAARD
Kierkegaards Werke erschienen sämtlich in den Jahren 1843 bis 1855. Neben ausgedehnten Spaziergängen, regelmäßigen Gottesdienstbesuchen sowie Besuchen im Königlichen Theater dürfte Kierkegaard in dieser Schaffensperiode, die bis an sein Lebensende reichte, die meiste Zeit mit der Arbeit an seinen für die Öffentlichkeit bestimmten Werken sowie auch mit dem Verfassen von Tagebucheintragungen zugebracht haben. Kierkegaard verbrachte diese Jahre in weitgehender Isolation, sowohl sozial wie auch intellektuell. Kierkegaard ließ seine Werke ausnahmslos auf eigene Kosten drucken, so dass er von Verlagen völlig unabhängig war.
Kierkegaards Werk lässt sich in dichterisch-philosophische und religiöse Schriften unterteilen. Erstere wurden unter wechselnden, jedoch teils wiederkehrenden und in Beziehung zueinander stehenden Pseudonymen verfasst. Deren Verwendung diente weniger der Verschleierung der Verfasserschaft als dem Anzeigen einer gewissen inneren Distanz zu den Werken, die nicht zwangsläufig seine eigenen Überzeugungen ausdrückten. Eine solche Trennung von Autor und Werk konnte es andererseits für Kierkegaard als Verfasser religiöser Schriften und Kämpfer für das wahre Christentum nicht geben. Diese Schriften gab Kierkegaard folgerichtig unter seinem eigenen Namen heraus. Während in den ersten Schaffensjahren pseudonym verfasste Werke überwogen, die eher dem Dichter und Philosophen Kierkegaard zuzuordnen sind, hat Kierkegaard seine Kraft in den späteren Jahren hauptsächlich dem Verfassen unmittelbar religiöser Schriften gewidmet. Zu erwähnen sind außerdem seine sehr umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen, die postum als Teil seines Gesamtwerkes erschienen sind.
Die meisten seiner Hauptwerke hat Kierkegaard in den Jahren zwischen 1843 und 1846 herausgebracht. Im Jahr 1843 veröffentlichte Kierkegaard unter dem Pseudonym Victor Eremita Entweder – Oder, das ihn schlagartig bekannt machte. In diesem Werk beschreibt Kierkegaard zwei Stadien: das Ästhetische und das Ethische, wobei im Schlussteil, der die Form einer Predigt hat, bereits auf das dritte, in dem Werk noch nicht behandelte religiöse Stadium hinführt.
Ebenfalls im Jahr 1843 erschienen Furcht und Beben und am selben Tage Die Wiederholung unter den Pseudonymen Johannes de Silentio und Constantin Constantius. Furcht und Beben, das in einer lyrischen Prosa, jedoch nicht ohne Humor und Ironie abgefasst ist, ist im Kern eine Meditation über die biblische Geschichte um Abraham und Isaak. Kierkegaard bekräftigt in dieser Schrift, dass der Mensch, indem er aus der ethischen Sphäre heraus und in die religiöse Sphäre eintritt, als der Einzelne höher steht als das Allgemeine, also das Ethische, und nur noch Gott Gehorsam schuldet. Ausdrücklich wird daher Abrahams Absicht, Isaak auf Gottes Befehl hin zu opfern, gutgeheißen, auch wenn sich Abraham damit über die Ethik hinwegsetzt. Gleichzeitig wird ausgeführt, dass kraft des Glaubens alles möglich ist.
1844 erscheinen die beiden Schriften Philosophische Brocken von Johannes Climacus und Der Begriff Angst von Vigilius Haufniensis.
1845 erschienen die Stadien auf dem Lebensweg unter dem Pseudonym Hilarius Buchbinder.
1846 erscheint die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, wie schon die Brocken selbst verfasst unter dem Pseudonym Johannes Climacus. Anders als der Titel vermuten lässt, hat die Nachschrift etwa den sechsfachen Umfang der Brocken selbst.
Mit der Nachschrift kann die erste Phase in Kierkegaards Schaffen als abgeschlossen angesehen werden. Alle philosophischen Hauptwerke, und mit wenigen Ausnahmen alle pseudonymen Schriften sind in den Jahren 1843–1846 erschienen. Kierkegaard trug sich nun mit dem Gedanken, eine Pfarrstelle zu suchen.
1847 erschien die Schrift Taten der Liebe, die sich mit dem Problem der Nächstenliebe und der Frage beschäftigt, wie die Liebe, die Christus offenbart hat, Ausdruck in jeder einzelnen Handlung finden kann. Daneben erscheinen 1847 und 1848 Erbauliche Reden in verschiedenem Geiste und Christliche Reden.
In den Jahren 1849 und 1850 erschienen seine beiden letzten großen Schriften, für die er das Pseudonym Anti-Climacus, der aus einer christlichen Position heraus schreibt, wählte: Die Krankheit zum Tode und die Einübung in das Christentum. In Krankheit zum Tode formuliert Kierkegaard sein Menschenbild aus christlicher Perspektive: demnach befindet sich der Mensch in einem dialektischen Verhältnis zwischen zwei widerstreitenden Seiten. Die eine Seite besteht in den Notwendigkeiten des täglichen Lebens als sterbliches, mängelbehaftetes Wesen, das stets dem Ärgernis der Verzweiflung und damit der Verdammnis anheim zu fallen droht. Die andere Seite ist die Möglichkeit der ewigen Seligkeit.
In der Einübung in das Christentum, die dogmatisch an Krankheit zum Tode anknüpft, stellt Kierkegaard seine Sichtweise des wahren christlichen Glaubens dar, wonach die Bedingung für den christlichen Glauben dies ist, ohne wenn und aber dem Vorbild Jesu Christi zu folgen. Kierkegaard interessiert sich hierbei jedoch weniger für Jesus als moralisches Vorbild, sondern vielmehr für das Leiden Christi. Nur im persönlichen Leiden kann das wahre Christentum seinen Ausdruck finden. Hier deutet sich bereits der Angriff auf die etablierte, triumphierende Kirche an, der Kierkegaard die wahre, kämpfende Kirche gegenüberstellt.
1851 erschien sein letztes Buch: Zur Selbstprüfung, der Gegenwart anempfohlen. Damit hatte Kierkegaard seine Ideen im Wesentlichen erschöpft. Seine für die Öffentlichkeit bestimmte literarische Produktion kam in den letzten fünf Lebensjahren fast zum Erliegen, dafür nahm der Umfang der Tagebucheinträge stark zu.
Kierkegaards Denken in Sätzen zu beschreiben ist schwierig, denn was er zur Geltung bringen wollte, war gerade, dass Wahrheit nicht in Worten gelehrt werden könne, sondern eine Bewegung des Menschen in der Zeit sei. In diesen Zusammenhang gehören seine Kategorien Augenblick, Wiederholung und Sprung, sowie sein pseudonymer, provokanter und paradoxer Stil. Das Wesentliche am Christentum war ihm, dass die Wahrheit in der Zeit in Christus gekommen sei und der Mensch nur ein Verhältnis zu ihm haben könne, indem er ihm gleichzeitig werde. Kierkegaard zeigt sich so als zugleich philosophischer wie auch theologischer und religiöser Denker, der die Philosophie als Mittel betrachtet, über den christlichen Glauben neu nachzudenken, wobei er jede Art von spekulativer Philosophie im Geiste Hegels ablehnt, weil sie sich anmaßt, objektive, also außerhalb des Menschen liegende Wahrheit adäquat denken, verstehen und dadurch begreifen zu können. Neben der scharfen Ablehnung Hegels und anderer Vertreter des Idealismus ist Kierkegaards Denken vor allem in seinen späteren Jahren durch eine strikte Abgrenzung gegen das amtliche Staats-Christentum von Dänemark gekennzeichnet.
Für Kierkegaard gibt es drei Arten, drei Zustände, drei Sphären, drei Stadien der Existenz des Menschen:
Erstens, das ästhetisches Stadium: Auf der ursprünglichsten Stufe, dem ästhetischen Stadium, lebt der Mensch ganz in der Unmittelbarkeit der sinnlichen Empfindung, die Motiv und Ziel seines Handelns ist. Er existiert gänzlich unreflektiert, ohne sich über sich selbst im Klaren zu sein. Daher rührt auch eine latente Verzweiflung, indem der Mensch spürt, dass er nicht er selbst, sondern in Äußerlichkeiten gefangen ist. Der Mensch hat sich noch nicht als ein Selbst erkannt, das nicht nur rein immanent, sondern auch transzendent existiert, indem sich der Mensch zu dem faktischen Verhältnis, das zwischen Körper und Geist besteht, bewusst in ein Verhältnis setzt. Der Mensch ist hier verzweifelt, weil er mit sich selbst nicht im Reinen ist. Das Mittel, das dem Menschen nun dazu dient, diesen seinen verzweifelten Zustand zu erkennen, ist die Ironie. Indem er sich zu sich selbst ironisch, also distanziert verhält, gewinnt er einen erhöhten Standpunkt, von dem aus er seine Verzweiflung erkennt und nun versucht, diese zu überwinden. Dadurch erreicht er das zweite Stadium.

Zweitens, das ethische Stadium: Der Mensch erkennt sich als ein sowohl immanentes als auch transzendentes Wesen, indem er sich nun zu dem Verhältnis zwischen Körper und Geist reflektiert in ein Verhältnis setzt und dessen bewusst wird. Er verhält sich nun vernünftig und erkennt seine Verantwortung vor sich selbst und der Welt. Dadurch aber erkennt er, dass er als zunächst rein immanentes Wesen nicht imstande ist, den transzendenten Teil seines Wesens zu begründen, der nicht aus der Welt stammt. Die Begründung seines Wesens als geistiges und insoweit nicht der Kausalität der Welt unterworfenes Selbst findet er nicht in sich selbst. Vielmehr sieht er sich einem unendlichen, absoluten Unbekannten, Gott, gegenüber, der die Ursache der Unendlichkeit und Freiheit des Menschen ist. Wenn nun der Mensch sich nicht in ein Verhältnis zu seinem wahren Grund, zu Gott, setzt, sondern aus sich selbst heraus existieren will, so setzt er sich wiederum in Widerspruch zu seinem wahren Wesen, indem er verzweifelt er selbst sein will, oder aber er leugnet sich selbst als auch transzendentes Selbst, indem er verzweifelt nicht er selbst sein will, und beides führt ihn wieder in die Verzweiflung, die als Grundstimmung seinem Leben zugrunde liegt.

Drittens, das religiöse Stadium: Hier nun akzeptiert der Mensch sein Geschaffensein von Gott und seine Existenz vor Gott. Er begreift sich als ein Selbst, dem nur von Gott als dem Unendlichen eine Existenz zukommt. Daher ist das Ziel des religiösen Menschen, in ein existenzielles Verhältnis zu Gott zu treten. Dies kann allein im Glauben geschehen. Gott als der Absolute ist nicht der Kausalität der Welt unterworfen und entzieht sich daher als der Unbekannte dem menschlichen Verstand, er ist rational nicht erkennbar. Der Glaube fordert als Bedingung daher die Kreuzigung des Verstandes. Der Verstand ist nicht gänzlich unnötig, sondern dient als Korrektiv des Glaubens, indem Unvernünftiges nicht geglaubt werden kann, und er ist Voraussetzung der Selbstreflexion, ohne die der Aufstieg in den Stadien nicht erreicht werden kann. Er spielt daher für Kierkegaard eine große und unabdingbare Rolle, doch da der Verstand endlich ist und sich rein immanenter Mittel bedient, ist intellektuelle Gotteserkenntnis schlechthin unmöglich. An diesem Punkt, der Nicht-Erkennbarkeit Gottes durch den menschlichen Verstand, zeigen sich enge Parallelen zur negativen Theologie, insbesondere zu Nikolaus von Kues, Bonaventura und Augustinus. Aufgrund der Nicht-Erkennbarkeit muss jedes Reden von Gott negativ bleiben; positive, beschreibende Aussagen haben allenfalls hinweisenden, helfenden Charakter, müssen sich ihrer Unzulänglichkeit aber stets bewusst bleiben. Dies ist das Scheitern des Verstandes, dessen sich der Mensch bewusst werden muss. Hat er dies erkannt, steht erst der Weg in den Glauben offen, der aus dieser Erkenntnis der eigenen Begrenztheit hervorgehen kann. Im Glauben nun wagt der Mensch den Sprung weg vom Verstand hin zum eigentlich Unmöglichen. Glauben ist nur deshalb möglich, weil sich Gott in Christus zu erkennen gab. Da der Mensch nicht in der Lage ist, rational zu Gott zu gelangen, musste sich Gott selbst offenbaren, indem er Mensch und zugleich Gott war und so das Paradoxon aufstellte, dass das Zeitlose in der Zeit, das Transzendente in der Immanenz, das Unendliche in der Endlichkeit existierte. Dieses Paradox ist für den Menschen nicht zu vereinbaren. Daher bleibt nur der Sprung in den Glauben. Da das sich zu Gott existenzielle Verhalten immer nur momentan geschehen kann und der Mensch immer wieder in seine eigene Existenz zurückfällt, dadurch wieder seinen transzendenten Seinsgrund aus den Augen verliert und so wieder die rechte Ordnung seines Selbst verrückt, ist er gehalten, diesen Sprung in den Glauben immer wieder neu zu tun und den Moment des Glaubens zu wiederholen. Nur in diesem Augenblick des Glaubens befindet sich das Selbst im richtigen Verhältnis zu sich und zu seinem Existenzgrund und existiert daher momentan ohne Verzweiflung.


FÜNFZEHNTES KAPITEL
WLADIMIR SOLOWJEW
Wladimir Solowjow, ein Sohn des Historikers Sergei Solowjow, vertrat eine vom europäischen Denken und vom orthodoxen Glauben beeinflusste Philosophie der All-Einheit. Seine Geschichtsphilosophie ist bestimmt vom Gedanken einer Theokratie unter einer wiedervereinigten christlichen Kirche.
Wladimir Solowjows Vater war Professor für russische Geschichte an der Moskauer Universität, sein Großvater orthodoxer Priester. Er wuchs in der Tradition der orthodoxen Frömmigkeit auf. Von 1864 – 1869 besuchte er das fünfte Moskauer Gymnasium. In diesen Jahren (etwa ab 1866) wurde er zum Materialisten und Atheisten. Von 1869 bis 1873 studierte Solowjow an der Moskauer Universität zunächst in der Naturwissenschaftlichen Fakultät, später in der Historisch-Philologischen Fakultät. In der Philosophie beschäftigte er sich vor allem mit Spinoza, Schopenhauer und Schelling und fand über diesen Weg wieder zum Glauben zurück. 1874 promovierte er mit einer Arbeit über die Krise der westlichen Philosophie, die er als Argument gegen die Positivisten anlegte.[1] Solowjow wurde von da an zum Glaubensverteidiger und wollte den Glauben der Väter rechtfertigen. Er vertrat eine positive christliche Philosophie und entwickelte eine All-Einheits-Philosophie. Die All-Einheit erfasste er im Denken als das Wesen des Alls, auch im individuellen und sozialen Leben. Im Januar 1875 hielt er an der Moskauer Universität die Antrittsvorlesung Metaphysik und positive Wissenschaft. 1875 und 1876 führten ihn seine ersten Auslandsreisen nach London, Kairo, Neapel, Sorrent und Paris. 1880 habilitierte er sich an der Universität Petersburg mit einer Arbeit über die Kritik abstrakter Prinzipien. In seiner Antrittsvorlesung ging es um die historischen Taten der Philosophie. Am 1. Februar 1880 sprach Solowjow bei der Beerdigung Dostojewskis, zu dessen Familie er seit 1878 engere Beziehungen unterhielt. Bis Februar 1882 hielt er Vorlesungen an der Universität Petersburg. Er verabschiedete sich mit einer Vorlesung über den Lebenssinn des Christentums und wurde 1882 freier Schriftsteller
Solowjow erkannte im Laufe der Jahre immer mehr, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche durch die enge Bindung an den russischen Staat nicht in der Lage war, ihre prophetische Mission zu erfüllen. Spätestens nach dem Jahr 1881, dem Jahr der Ermordung des Zaren Alexanders II., wandte er sich allmählich der Römisch-Katholischen Kirche zu. In ihr sah Solowjow die moralische Kraft, die die christlichen Prinzipien klarer vertrat als Orthodoxie und Protestantismus. Solowjow ging soweit, dass er den russischen Zaren aufforderte, sich dem Papst zu unterwerfen. Er wollte, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche zu Rom zurückkehrt, allerdings verstand er sich selbst nicht als Konvertit, sondern er wollte sich nur so eng an Rom anschließen, wie sein Gewissen es ihm erlaubte. Solowjow wollte gleichzeitig Mitglied der Russisch-Orthodoxen und der Römisch-Katholischen Kirche sein. Einen formellen Übertritt zur Römisch-Katholischen Kirche vollzog er nicht.
In den Folgejahren erkannte er aber, dass dieser Wunsch nicht realisierbar war. Seine Ansichten wurden daraufhin immer düsterer. Er sah die Menschheitsgeschichte an einem Scheideweg zwischen Gott und dem Abgrund. Im letzten Jahrzehnt seines Daseins legte er seine konfessionellen Polemiken ab und verzichtete auch auf seine utopischen Ansätze. Er begann mit der Darlegung der theologischen und philosophischen Wahrheit, durch Entfaltung dessen, was das sittlich Gute ist, und durch eine Publizistik, welche die Tagesfragen unter das Gericht stellte und die Menschen dazu brachte, sich in Freiheit für Gott und die Wahrheit zu entscheiden.
Solowjow starb im Alter von 47 Jahren. Sein letztes Werk ist gleichzeitig auch das bekannteste: Die Kurze Erzählung vom Antichrist. Darin wird in Form einer Prophetie geschildert, wie ein vermeintlicher Wohltäter zur Weltherrschaft gelangt mit Hilfe der Freimaurerei. Dem Antichrist entgegen tritt die kleine Schar gläubiger Protestanten, Orthodoxer und Katholiken, die sich unter Papst Petrus II. vereinen.
In einer 2003 auf dem Kongress „Wladimir Solowjow, Russland und die Universalkirche“ vom ukrainischen Großerzbischof in Lemberg verlesenen Papstbotschaft bezeichnete Papst Johannes Paul II. Wladimir Solowjow als einen der größten russischen Philosophen des 19. Jahrhunderts und Pionier und Vorbild für den Dialog der Christen in Ost und West.


SECHZEHNTES KAPITEL
EDMUND HUSSERL
Erkenntnis ist zwar an psychische und physiologische Prozesse gebunden, sie ist aber nicht mit diesen identisch. Aus einem empirisch psychologischen Satz kann niemals eine logische Norm abgeleitet werden. Empirische Sätze sind bloß wahrscheinlich und können falsifiziert werden. Logik hingegen unterliegt nicht wie die Empirie der Kausalität. Philosophie als Wissenschaft kann sich daher nicht an den Naturalismus binden. Philosophie, Erkenntnistheorie, Logik und reine Mathematik sind Idealwissenschaften, deren Gesetze ideale Wahrheiten schlechthin ausdrücken.
Phänomenologie als Wesensschau des Gegebenen soll die voraussetzungslose Grundlage allen Wissens sein.
Intentionalität des Bewusstseins: Intentionalität ist die Gerichtetheit des Bewusstseins auf einen Gegenstand, einen Sachverhalt. Es gibt kein reines Subjekt und kein reines Objekt, sondern beide sind stets verbunden durch den Akt des Bewusstwerdens, in dem die Gegenstände konstituiert werden. Alle Akte des Bewusstseins sind sinnstiftend und konstituieren überhaupt erst ihre Gegenstände. Ein bewusstseinstranszendentes eigentliches An-sich der Dinge wie noch bei Kant existiert somit nicht.
Phänomenologische Reduktion: Um den wahren Wesensgehalt eines Gegenstandes zu erkennen, müssen wir unsere Einstellung zu ihm ändern. Wir müssen uns jeglichen Vorurteils ihm gegenüber enthalten. Um sich einem Gegenstand entsprechend zu nähern, muss man von jeglicher Theorie, auch von den naturwissenschaftlichen, absehen. Erst durch Ausschaltung aller Setzungen erscheint die Welt in ihren tatsächlichen Strukturen. Dieses Sich-zurück-nehmen nannte Husserl Epoché beziehungsweise Einklammerung.
Der Akt, in dem ein Gegenstand unmittelbar gegeben ist, ist die kategoriale Anschauung. Der gegebene Gegenstand als vermeinter Gegenstand enthält über die rein sinnliche Wahrnehmung hinaus einen Überschuss an Intentionalität, wie er in Wörtern wie „dieser“, „ist“ oder „er“ zum Ausdruck kommt, die jenseits des Sinnlichen liegen.
Eidetische Variation: Der einzelne Gegenstand ist mit Zufälligkeit behaftet. Wenn ich zu seinem Wesen vordringen will, muss ich das Notwendige in ihm erfassen. Wesensgesetze machen den Sinn eines Gegenstandes aus. Durch Variation der Eigenschaften des Gegenstandes findet man heraus, was das Wesensnotwendige ist.
Wahrheit ist die volle Übereinstimmung von Gemeintem und Gegebenem. Das Erlebnis der Übereinstimmung ist die Evidenz oder Intuition. Evidenz in diesem Sinne ist kein Gewissheitserlebnis, sondern die unmittelbare Erfahrung. Evidenz im Sinne Husserls ist korrigierbar, wenn sich im Nachhinein zeigt, dass die damalige Erfahrung nicht zutreffend war.
Eidetische Reduktion: Aus der durch die Enthaltung gewonnenen Neutralität heraus ist es nun möglich, zum Wesen einer Sache, beziehungsweise zu den Sachen selbst vorzudringen. Jetzt sind nur noch die Bewusstseinsakte selbst Gegenstand der Betrachtung. Die Existenz des Gegenstandes wird transzendiert. Was übrigbleibt, ist die absolute Seinsregion des Bewusstseins selbst. Mit dieser eidetischen Reduktion gelingt eine Wesensschau, die uns zeigt, wie sich die Welt im Bewusstsein konstituiert.
Husserl antwortete auf 1911 erschienene Weltanschauungsphilosophie noch im selben Jahr mit dem Aufsatz Philosophie als Strenge Wissenschaft. Husserl weist dort zunächst den Naturalismus zurück, da dieser sich nicht selbst über seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen Klarheit verschaffen kann. Dies kann nur eine wissenschaftliche Wesenserkenntnis des Bewusstseins leisten, und diese ist die Phänomenologie. Sie ermittelt das, was allen individuellen Bewusstseinsakten gemeinsam ist, nämlich Bewusstsein von etwas zu sein, das heißt sie meinen ein Gegenständliches. Im Absehen von dem im „von etwas“ gemeinten ergibt sich das Wesen der Bewusstseinsakte, es lässt sich als objektive Einheit fixieren.
Die Feststellung objektiv gültiger Tatsachen ist möglich, weil, auch wenn diese historisch Gewordene sind, sie trotzdem absolut gültig sein können. Die Genesis beeinträchtigt nicht die Geltung. Als Beispiel eines Systems notwendiger Sätze nennt Husserl die Mathematik, welche für die Beurteilung der Wahrheit ihrer Theorien sich überhaupt nicht an der Historie orientieren kann. Die Idee der Wissenschaft ist eine überzeitliche, durch keine Relation auf den Geist einer Zeit begrenzt. Husserl proklamiert daher gegen die Weltanschauungs-Philosophie den Willen zu strenger Wissenschaft.
In seinem Spätwerk kritisierte Husserl, dass die modernen Wissenschaften mit ihrem Anspruch, die Welt objektiv zu erfassen, die Fragen der Menschen nach dem Sinn des Lebens nicht mehr beantworten. Er forderte daher die Wissenschaften auf, sich darauf zu besinnen, dass sie selbst ihre Entstehung der menschlichen Lebenswelt verdanken. Die Lebenswelt, als zentraler Begriff, ist für Husserl die vortheoretische und noch unhinterfragte Welt der natürlichen Einstellung: die Welt, in der wir leben, denken, wirken und schaffen. Husserls transzendentale Phänomenologie versucht, die entstandene Entfremdung zwischen den Menschen und der Welt zu vermindern.

SIEBZEHNTES KAPITEL

MAX SCHELER
1913 erschien die Arbeit Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Hier beschreitet er neue Wege abseits von Husserl mit ontologischen und realistischen Tendenzen, beginnend mit einem materialen Apriori. Ausgangspunkt sind die Erfahrungen der Sachen und ihre Wesensgesetze. Er löst hierbei die Pflichtethik Kants durch seine eigene Wertethik ab, indem er zum Theoretischen und Praktischen das emotionale Wertgefühl einbringt. Das Sittliche beruht für Scheler personalistisch auf einer konkreten Wertbestimmung. Damit nahm er wichtige Momente der Zeit auf und führte die phänomenologische Philosophie weiter.
Scheler geht von einem stufenförmigen System der Werte aus: Erstens, sinnliche Werte: angenehm – unangenehm. Zweitens, vitale Werte (Lebenswerte): edel – gemein. Drittens, geistige Werte: recht – unrecht, schön – hässlich, wahr – falsch; reine Wahrheitserkenntnis; Funktionen des geistigen Fühlens. Viertens, heilige – profane Werte.
Die Nützlichkeit bestimmt Scheler im Gegensatz zu den angeführten Werten als Konsekutivwert. Er weist sowohl die Höchstschätzung der Nützlichkeitswerte des Utilitarismus als auch die der Lebenswerte Nietzsches zurück.
Schelers Begriff der Bildung, den er in Die Formen des Wissens und die Bildung 1925 ausarbeitete, ist an seine anthropologische Bestimmung des Menschen geknüpft. Um die dem Menschen eigens zukommende Form der Bildung vom praktischen Wissen des Tieres abzugrenzen, fragt sich Scheler, ob der Mensch – biologisch betrachtet – nicht eine Sackgasse ist: Ist dieser homo naturalis nicht überhaupt eine Sackgasse der Natur? Einer Natur, die trotz all ihres mächtigen Getriebes und Getues auf äußerst komplizierten Umwegen durch Werkzeug, Technik und Staat doch auch nicht-weiter erreicht als eben das selbe, was das Tier so viel einfacher, automatischer durch die Leistung seiner Instinkte, seine Selbstdressur und Übung, wie durch die in seinen höchsten Formen, den Menschenaffen, bereits auftretende praktische Intelligenz« erreicht. Ich sage, eben das selbe erreicht, das heißt Erhaltung der Gattung, die Realisierung der spezifisch biologischen Werte aller Art.
Wenn man den Menschen rein funktionalistisch betrachtet, erscheint er als Fehlentwicklung der Natur; zumindest ist er, was den Aufwand für seine Selbsterhaltung betrifft, äußerst ineffizient. Scheler fährt fort: Wer nur diese uns von der Naturwissenschaft allein als unwiderlegliche nahegelegte Auffassung vom Wesen des Menschen hat, wer das, was die traditionelle Sprache Europas seit den Griechen Geist oder Vernunft nennt, nur als ein kompliziertes Nebenergebnis des doppelseitigen Lebensprozesses ansieht (zur Selbsterhaltung der Art) – der sei auch so konsequent und entsage der Idee und dem Wert der Bildung. Denn dieser Ausdruck will einen Selbstwert setzen.
Um die Autonomie der Bildung zu verdeutlichen, versucht Scheler sie von den Fähigkeiten der Tiere abzugrenzen. Hierzu zieht er zeitgenössische Ergebnisse der Tierpsychologie heran, deren Arbeit er auch für die Anthropologie für unverzichtbar hält: Es ist der große, auch philosophische Wert, den die junge so rüstig fortschreitende Tierpsychologie besitzt, dass sie uns gezeigt hat, wie sehr man früher geneigt war, die psychischen Fähigkeiten der Tiere zu unterschätzen.
Er gibt einige Erläuterungen zu den neu erkannten Fähigkeiten von Tieren, darunter technische Intelligenz, die Fähigkeit, sinnvoll zu wählen, Werkzeuggebrauch, Werkzeugherstellung, altruistische Handlungen. All dies hatte man zuvor nur dem Menschen zugesprochen, worin nach seiner Auffassung die grundlegende Fehleinschätzung der philosophischen Anthropologie lag: Die wahre Würde und Bedeutung des Menschen war früher gerade durch diese Unterbestimmung der Tierseele gleichfalls weitgehend verkannt worden. Nicht, wie man meinte, macht die praktisch-technische Intelligenz den Menschen zum Menschen im Wesenssinn; sie ist im Menschen nur quantitativ ungeheuer gesteigert, bis zu einem Grad eines Edison. Erst der Besitz von Akten einer autonomen Gesetzlichkeit gegenüber aller psychischen Vitalkausalität macht das Neue aus – eine Gesetzlichkeit, die nicht mehr analog der und parallel geht den Funktionsabläufen im Nervensystem, sondern parallel und analog der objektiven Sachstruktur und Wertestruktur der Welt selbst.
Der Mensch hat also im Vergleich zum Tier Sphären mit einer ihnen eigenen sinnhaften Binnenstruktur. In diesen kann er Akte von einer autonomen Gesetzlichkeit vollziehen, die sich nicht an den Gesetzen seiner Physiologie verstehen lässt, gleichwohl sie hierauf physiologisch angewiesen ist. Scheler gibt hierfür als Beispiel, dass ein Tier nicht die Fähigkeit hat, einen Wert in abstracto einem anderen Wert vorzuziehen. So kann der Mensch die Erhaltung und Verwirklichung eines geistigen Wertes (Ehre, Würde, Seelenheil) sogar dem höchsten Lebenswert, der Erhaltung des eigenen Daseins, vorziehen.
Damit zeichnet der menschliche Geist sich durch drei Merkmale aus, die ihn vom Tier unterscheiden: Erstens, der menschliche Geist ist durch kulturelle Werte bestimmt, nicht durch Triebe und Bedürfnisse des Organismus. Zweitens, er ist zur begierdefreien Liebe zur Welt fähig und übersteigt so die Triebbezogenheit auf Dinge. Drittens, er ist fähig, das Was-Sein (Wesen) vom Dass-sein (Dasein) zu scheiden und anhand des Wesens Einsichten zu gewinnen, die über die individuellen Einzelfälle hinaus Geltung haben.
Scheler fasst diese Positionen als menschliches Weltbewusstsein zusammen und stellt sie dem tierischen Haben der Umwelt gegenüber. Der Mensch reicht also hinaus über alles mögliche Milieu des Lebens. Um dies zu verwirklichen, ist der Mensch aber auf die Bildung angewiesen. Hier schließt sich die Argumentation: Scheler sieht die Autonomie der Bildung gegenüber bloß funktional-biologischen Zwecken, diese Autonomie entspricht genau dem Drang des Menschen, über sich hinaus zu gehen und im niemals abgeschlossenen Prozess der Menschwerdung zu wachsen. Damit verwirklicht er sein ihm eigenes Wesen, was für Scheler zugleich heißt, dass er seine göttliche Natur verwirklicht. So spricht er auch davon, dass Bildung dem Menschen zur Selbstvergöttlichung diene. Menschwerdung und das Werden der Gottheit sind somit untrennbar verbunden. Das doppelte Werden zeigt auch seine Auffassung des Menschen als Prozess, nicht als Substanz, an.
Der Mensch ist außerdem ein Mikrokosmos, der den Makrokosmos (das Universum) in sich abbildet. Dies allerdings nicht in jeder Einzelheit, sondern in seiner wesenhaften Gesamtheit, also kraft seiner Fähigkeit, Wesen zu erkennen. Diese steigert sich im Laufe der individuellen Biographie und kulturellen Geschichte eines Volkes. Im Verhältnis von Mikrokosmos zu Makrokosmos vermag das Urseiende sich selbst zu wissen und zu erfassen, zu verstehen und sich zu erlösen. So bekommt aber die Menschwerdung eine kosmologische Dimension, sie ist der Sinn der Erde, ja der Welt selbst. Bildung steht also im Zusammenhang mit diesem Weltprozess, der Selbstzweck ist und damit nicht Mittel für die Warenproduktion oder Kunstleistung sein kann. Sie ist gar nicht für etwas da, das hinter ihr liegt: Bildung ist nicht Ausbildung für etwas, für Beruf, Fach, Leistung jeder Art, noch gar ist Bildung um solcher Ausbildung willen. Sondern alle Ausbildung zu etwas ist für die aller äußersten Zwecke ermangelnde Bildung da – für den wohlgeformten Menschen selbst.
Trotz allem vertritt Scheler keinen Dandyismus, wie er es ausdrückt: Der Mensch soll kein Kunstwerk werden. Bildung ist nicht Sich-zum-Kunstwerk-machen-Wollen, vielmehr von jeglichem Wollen frei zu halten. Man soll sich in ihr verlieren, um sich selbst zu gewinnen. Daher wählt man auch nicht sein Bildungs-Vorbild, sondern wird von ihm erfasst. Die hier wirksam werdenden Vorbilder können durchaus unterschiedlicher Art sein – Scheler lehnte die Vorstellung einer einzigen, für alle Menschen geltenden Humanität ab.
Er unterscheidet nun drei Arten oberster Wissensformen: Erstens, das Leistungs- und Herrschaftswissen der positiven Wissenschaften zur Erlangung praktischer Ziele. Zweitens, das Bildungswissen der Philosophie zur Ausformung der Persönlichkeit. Drittens, das Erlösungs- und Heilswissen der Religionen als liebende Teilhabe am Prozess des Seins selbst.
Jede dieser Wissensformen zeichnet sich durch spezifische Motivation, Erkenntnisziele, Erkenntnisakte, vorbildhafte Persönlichkeitstypen, soziale Gruppen des Wissenserwerbs und der Wissensverbreitung und historische Bewegungsformen aus. Diesen entsprechen die von Scheler ausgearbeiteten Wertmodalitäten: Vitalwerte, Geisteswerte, Heiligkeitswerte. Alle drei hält Scheler für wichtig; er kritisiert aber scharf die einseitige Ausrichtung der abendländischen Kultur auf das Leistungswissen, während er für die asiatischen Kulturen einen gewaltigen Vorsprung bezüglich des Bildungs- und Erlösungswissens sieht. Um die hier georteten Einseitigkeiten zu beheben, plädiert Scheler für einen Kulturaustausch. Der höchste Wert kommt für ihn dabei dem Erlösungswissen zu, das allein zweckfrei sei, während Leistungs- und Bildungswissen letzten Endes in seinem Dienste stehen. So ist denn auch verständlich, warum das humanistische Bildungswissen zur Ausformung der Persönlichkeit nicht das letzte Ziel sein könne und der Mensch kein Kunstwerk werden solle.
In seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos von 1928 zeichnet Scheler die menschliche Psyche in vier Schichten nach dem Stufenbau der organischen Natur: Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, praktische Intelligenz.
Diesen Schichten setzt er ein gänzlich anderes Prinzip des Geistes entgegen, wodurch der Mensch dem Naturzusammenhang vollkommen enthoben sei. Allerdings sind das Leben und der Geist aufeinander angewiesen: der Geist durchdringt das Leben mit Ideen, die dem Leben erst seine Bedeutung geben. Das Leben ermöglicht dagegen erst den Geist und gibt ihm eine Tätigkeit, um sie im Leben zu verwirklichen.