Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

DIE HEILIGE HURE THAISIS



Nach Roswitha von Gandersheim

Von Josef Maria Mayer

ERSTER AKT
ERSTE SZENE

(Vor der Klause des Eremiten Paphos.)

PAPHOS
Ein schamloses Weib lebt in unserem Land.
DER SCHÜLER
Die ist verderblich für die Männer?
PAPHOS
Sie strahlt in wunderbarer Schönheit! Doch ihr Lebenswandel erregt den Heiligen tiefen Weltekel!
SCHÜLER
Elend!  Wie heißt sie?
PAPHOS
Thaisis, der Göttin Isis gehörig.
DER SCHÜLER
Ah, die Hure?
PAPHOS
Sie!
DER SCHÜLER
Ihre Verderbtheit ist keinem Mann ein Geheimnis mehr.
PAPHOS
Und das ist auch kein Wunder!  Denn nicht mit wenigen geht sie die breite Straße zur Verdammnis. Ah! Ihrer Schönheit Zauber scheint alle Männer in das Loch der Hölle zu locken!
DER SCHÜLER
Unglück!
PAPHOS
Leichtsinnige Jugendliche nicht allein verschwenden all ihr Hab und Gut im Dienst an der Hure, auch angesehne Bürger lassen sich von ihr berauben.  Was sie nur Kostbares besitzen, das wandert in das Haus der Hure, sie schenken sich arm, um Thaisis zu bereichern.
DER SCHÜLER
Vom bloßen Hören bin ich erschrocken.
PAPHOS
Ganze Scharen von Hurenböcken strömen zu ihr.
DER SCHÜLER
Sie richten sich zu Grunde.
PAPHOS
Und blind vor Geilheit erregen diese Menschen Zank und Streit, wer Thaisis zuerst haben darf.
DER SCHÜLER
Eine Sünde hat doch immer noch eine  andere Sünde im Gefolge.
PAPHOS
Das ist ein Kampf vor dem Haus!  Bald schlagen sie sich mit den Fäusten, bald gehen sie mit Waffen aufeinander los.  Der Hure Schwelle wird von Blut überschwemmt.
DER SCHÜLER
Schande!
PAPHOS
Und diese beweinenswerte Schmach erzeugt mir meine Traurigkeit!
DER SCHÜLER
Da hast du wirklich Grund zum Trauern!  Ich zweifle nicht, dass selbst die Heiligen im Himmel mit dir weinen.
PAPHOS
Wenn ich als Freier verkleidet zu Thaisis gehen würde, ob es noch möglich wäre, sie von dem breiten Pfad zurückzuführen?
DER SCHÜLER
Der Heilige Geist, der dir diesen Plan eingab, wird dir auch die Kraft geben, ihn auszuführen.
PAPHOS
O bete für mich, damit mich nicht die Schlange durch ihre Klugheit besiegt!
DER SCHÜLER
Maria, die den Satan besiegt, möge ihres Unbefleckten Herzens Triumph herbeiführen!


ZWEITER AKT

ERSTE SZENE

(Auf dem Marktplatz von Alexandria.)

PAPHOS
Dort auf dem Marktplatz seh ich Jugendliche.  Ich will an sie heran gehen und sie fragen, wo ich Thaisis finde.
JUGENDLICHER
Da, ein Fremdling kommt zu uns, lasst uns sehen, was er will.
PAPHOS
(von weitem)
Ihr Jugendlichen, wer seid ihr?
JUGENDLICHER
Einwohner von Alexandria.
PAPHOS
Ich grüße euch.
JUGENDLICHER
Ich grüße dich auch, ob du ein Bürger unseres Landes bist oder ein Ausländer.
PAPHOS
Ich bin ein Ausländer und gerade erst angekommen.
JUGENDLICHER
Was suchst du?
PAPHOS
Das kann ich dir nicht sagen.
JUGENDLICHER
Warum nicht?
PAPHOS
Ich möcht es gerne für mich behalten.
JUGENDLICHER
Besser, du sprichst.  Da du kein Mitbürger bist, dürfte es dir nur schwer gelingen, ohne Rat der Bürger irgendetwas hier zu vollbringen.
PAPHOS
Was aber, wenn ich gerade durch meine Offenheit ein Hindernis für meinen Plan erzeugte? 
JUGENDLICHER
Hab keine Angst.
PAPHOS
So gebe ich gerne nach und will euch mein Geheimnis enthüllen.
JUGENDLICHER
Wir werden dir keine Feindschaft entgegenbringen.
PAPHOS
Ich hab von dem einen und andern gehört, dass unter euch ein Weib lebt, die alle Welt zur Liebe reizt und nicht mit ihren Reizen geizt!
JUGENDLICHER
Kennst du ihren Namen?
PAPHOS
Ja.
JUGENDLICHER
Wie heißt sie?
PAPHOS
Thaisis.
JUGENDLICHER
Ah!  Sie steckt unsere ganze Stadt in Brand!
PAPHOS
Man sagt, sie sei die liebenswürdigste Frau und sehr reizend anzuschauen?
JUGENDLICHER
Das ist die Wahrheit.
PAPHOS
Wegen ihr bin ich hierher gekommen, um sie zu sehen, bin ich gekommen.
JUGENDLICHER
Da hindert dich nichts.
PAPHOS
Wo wohnt Thaisis?
JUGENDLICHER
Ihr Haus ist ganz in der Nähe, da! Schau doch!
PAPHOS
Das Haus dort, auf das du zeigst?
JUGENDLICHER
Ja.
PAPHOS
So will ich erst recht zu ihr!
JUGENDLICHER
Wenn du willst, kommen wir mit.
PAPHOS
Ich geh lieber allein zu ihr.
JUGENDLICHER
Wie du willst.


ZWEITE SZENE

(Haus der Thaisis.)

PAPHOS
(von außen)
Bist du da, Thaisis?  Ich suche dich!
THAISIS
Wer ist da?  Wer spricht da?  Ein Fremder?
PAPHOS
Aber ich liebe dich!
THAISIS
(nachdem sie Paphos hereingelassen hat)
Wer mir sein Herz schenkt, dem schenk ich meine Liebe!
PAPHOS
O Thaisis, Thaisis!  Was für einen weiten Weg hab ich hinter mir, um mich an deiner Stimme Gesäusel zu erquicken, an deiner Lippen Schönheit mich zu ergötzen!
THAISIS
So will ich mein Angesicht nicht verschleiern, und wenn du mit mir plaudern willst – ich bin dir gern zu Willen.
PAPHOS
Doch unser Gespräch bleibe geheim, und das erfordert einen geheimeren Ort als dieses Wohnzimmer.
(Sie gehen in Thaisis’ Schlafzimmer.)
THAISIS
Schau, mein gemütliches Schlafzimmer, hier ist es schön.
PAPHOS
Hast du nicht noch einen anderen Raum, noch geheimer und noch verborgener, wo uns keiner belauschen und beobachten kann?
THAISIS
Ja, ich habe einen Raum, der ist so verborgen, dass ihn außer mir niemand kennt als der Gott der Liebe.
PAPHOS
Der Gott der Liebe? Von welchem Gott redest du?
THAISIS
Ich rede von dem lebendigen Gott.
PAPHOS
Glaubst du auch, Gott sei allweise?
THAISIS
Sicher, Gott weiß alles.
PAPHOS
Glaubst du, dass er die Sünden der Sünder nicht sieht?
THAISIS
Ich glaube, er belohnt die guten Werke der Guten und bestraft die bösen Taten der Bösen.
PAPHOS
O Jesus Christus!  Wie wunderbar ist deine Gnade!  Geduldig bist du mit denen, die sündigen, obwohl sie behaupten, dich zu kennen.
THAISIS
Was hast du? Warum bist du plötzlich so traurig?
PAPHOS
Ich erschrecke, wenn ich an dein ewiges Schicksal denke, und ich beweine deine Verdammnis.  Du kennst den Herrn und lebst doch in Sünde?
THAISIS
Ah weh mir!
PAPHOS
Du beleidigst die göttliche Majestät!  Wie schmerzlich wird deine Strafe sein!
THAISIS
Ewiger Gott!  Was sprichst du da?  Ich? Was droht mir?
PAPHOS
Die Hölle droht dir, wenn du nicht von dem Weg der Sünde umkehrst.
THAISIS
Grässlich!
PAPHOS
Du sollst ruhig erschrecken, so dass du nicht mehr der Wollust Sklavin sein willst!
THAISIS
Wie könnte in meinem Busen ein Raum bleiben für die Sinnenlüste, da nur noch bittere Traurigkeit in meinem Busen ist und das Bewusstsein schwerer Schuld!
PAPHOS
So soll es sein. Und wenn du das Unkraut der Sünde ausgejätet hast, so begieße den Garten deiner Seele mit Tränen der Reue.
THAISIS
Bist du denn noch voller Hoffnung für mich? Glaubst du, ich Sünderin, die ich mich tausendmal und abertausendmal im Pfuhl der Sünde gewälzt, ich könnte noch gereinigt werden und, durch welche Buße es auch sei, die Gnade Gottes erlangen?
PAPHOS
Keine Sünde ist so schwer, dass sie nicht mit Reuetränen gesühnt werden könnte, wenn dann auch die Taten der Buße folgen.
THAISIS
So flehe ich dich an, Pater, zeige mir das Werk der Liebe, wie ich mich mit Gott versöhnen kann!
PAPHOS
Verachte alle zeitlichen Güter, und fliehe deiner Freier sündige Gemeinschaft.
THAISIS
Und dann? 
PAPHOS
Begib dich in die Stille.  Such einen Ort, wo du dein Selbst beschauen kannst und beweinen deiner Sünden ungeheure Schwere.
THAISIS
Glaubst du, das könnte mich retten? So will ich nicht länger zögern.
PAPHOS
Es bringt dich näher zu Gott, gewiss.
THAISIS
Gib mir nur noch ein bisschen Zeit, dass ich den Mammon schnell einstecke, dem ich so lange gedient und dem ich auf so sündigem Wege nachgejagt bin.
PAPHOS
Kümmere dich doch nicht um die Schätze! 
THAISIS
Ich will sie ja nicht für mich, ja, ich will sie noch nicht einmal den Armen schenken, denn Hurenlohn scheint mir zum Almosen nicht geeignet.
PAPHOS
Was willst du dann mit den Schätzen tun?
THAISIS
Ich werde sie ins Feuer werfen!
PAPHOS
Warum?
THAISIS
Damit auf Erden nichts bleibt, das ich mir durch die Sünde erwarb und durch die Verspottung meines Schöpfers.
PAPHOS
Wahre Sinnesänderung!  Du bist die Thaisis nicht mehr, die du früher warst, da dich nach sündiger Wollust gelüstete und nichts als Habsucht in deinem Herzen war.
THAISIS
Möge es dem Herrn gefallen, mich in eine bessere Thaisis zu verwandeln.
PAPHOS
Unwandelbar ist die Substanz des Höchsten, doch ist es ihm leicht, unsere Substanz zu wandeln.
THAISIS
So will ich gehen und tun, was ich gesagt habe.
PAPHOS
Gehe hin in Frieden und komm bald zurück zu mir!


DRITTE SZENE

(Auf dem Marktplatz.)

THAISIS
(beschäftigt, ihr Gold und Geschmeide auf einen Scheiterhaufen zu legen
Kommt alle her zu mir!  Versammelt euch, alle, die ihr mich geliebt habt!
FREIER
Ist das nicht die Stimme von Thaisis?  Schnell, schnell zu ihr!  Wir könnten sie sonst durch langes Ausbleiben kränken.
THAISIS
Kommt schnell her!  Ich hab euch etwas Wichtiges zu sagen.
FREIER
Was machst du, Thaisis?  Was soll der Scheiterhaufen, den du aufgehäuft hast?  Und diese Menge von Schmuck darauf, was soll das?
THAISIS
Wollt ihr das wirklich wissen?
FREIER
Wir sind sehr neugierig.
THAISIS
So will ich es euch sagen.
FREIER
Das wär lieb.
THAISIS
Achtung!
(Sie zündet den Scheiterhaufen an)
FREIER
Thaisis, was machst du?  Bist du wahnsinnig geworden?
THAISIS
Wahnsinnig nicht, ich fühle mich vielmehr sehr gesund.
FREIER
Was soll denn das, dass du vierhundert Drachmen an Gold und Edelsteinen vernichtest?
THAISIS
Was ich mir durch meine Sünde erworben habe, all eure Geschenke, das soll das Feuer jetzt schmelzen.  Auch nicht ein einziger Hoffnungsschimmer soll euch bleiben, dass ihr mich in Zukunft wieder eurem Liebesgesäusel willig seht. 
(Sie will weggehen)
FREIER
Verweile einen Augenblick, du bist so schön!  Sag uns, was dir den Geist verstörte.
THAISIS
Ich bleibe nicht und mag auch nicht länger mit euch plaudern.
FREIER
(Sie halten Thaisis fest
Warum verachtest du uns? Warum verschmähst du uns?  Sind wir dir nicht immer treu ergeben gewesen? Noch immer haben wir dir jeden deiner Wünsche erfüllt.  Willst du etwa mit diesem unverdienten Hass uns danken?
THAISIS
Lasst mich los! Geht, haltet mich nicht länger fest!  Ihr werdet mir noch das Hemdchen und Röckchen zerreißen! Es soll euch genügen, dass ich bisher eurer Begierde willig gedient hab.  Ich will mich sofort von euch trennen! Meine Sündenliebe soll zuende sein.
(Sie reißt sich los und rennt weg)
FREIER
(untereinander)
Wo will sie hin?
THAISIS
(von weitem)
Da will ich hin, wo mich kein Hurenbock finden wird.
FREIER
Teufel auch! Das ist ein unbequemes Wunder! Unser Liebchen, unsre Hure Thaisis, die keine andre Sorge hatte als Geld und Reichtum zu sammeln, die immer auf Lust und Spaß aus war und in Wollust förmlich badete, die gibt jetzt auf Nimmerwiedersehen ihr Gold dem Feuer?  Und sie schickt uns weg, uns, ihre treuen Freier? Sie beleidigt uns und lässt uns dann allein zurück?
 

VIERTE SZENE


(Im Haus der Thaisis)

THAISIS
Da bin ich wieder, o Paphos, mein lieber Pater.  Nun will ich dir nachfolgen.
PAPHOS
Du bist ein bisschen lange weggeblieben.  Ich hatte schon Angst, dass dich neue sündige Geschäfte aufgehalten hätten.
THAISIS
Hab keine Angst! Ich denke an nichts Vergängliches mehr. Mit meinem Gold hab ich nun so getan, wie es mein Plan war, und habe mich in aller Öffentlichkeit von meinen Freiern losgesagt.
PAPHOS
Hast du dich von deinen Freiern geschieden, darfst du den himmlischen Bräutigam freien!
THAISIS
Lieber Pater, sag mir, was ich jetzt tun soll.
PAPHOS
Folge mir.
THAISIS
Deinen Schritten kann ich folgen. O möge Gott mir geben, dass ich dir auch in der Heiligkeit folge!


DRITTER AKT


ERSTE SZENE

(Vor einem Kloster)

PAPHOS
Da ist das Kloster, da die heiligen Jungfrauen wohnen.  Hier sollst du von nun an leben, hier bringe dem Gott der Liebe deine brünstigen Gebete dar.
THAISIS
So soll es sein.
PAPHOS
Ich will die Mutter bitten, die Führerin der heiligen Jungfrauen, dich anzunehmen.
THAISIS
Und was soll ich solange tun?
PAPHOS
Begleite mich.
THAISIS
Ja, gerne.
PAPHOS
Da kommt die Mutter. Wer kann ihr gesagt haben, dass ich mit dir komme?
THAISIS
Das hat Fama geblasen.
PAPHOS
(zur Mutter)
Du kommst gerade recht, o Mutter, ich habe dich gesucht.
MUTTER
Von Herzen willkommen, lieber Pater Paphos. Sei gesegnet, du Geliebter Gottes!
PAPHOS
Die göttliche Gnade beschenke dich mit ewiger Glückseligkeit!
MUTTER
Und was verschafft mir die Ehre deines Besuches?
PAPHOS
Deine Hilfe ist gefordert.
MUTTER
Was willst du, dass ich tue?  Sag mir nur deinen Wunsch, und ich will alles tun, was in meiner Macht steht, dein Begehren zu befriedigen.
PAPHOS
Ich führe ein Zicklein zu dir, das ich den gierigen Wölfen entrissen habe.  Hab Mitleid mit ihr und kümmere dich um ihre Heilung, damit sie bald das raue Fell des Zickleins abwerfe und sich mit dem weichen Vlies des Lammes bekleide.
MUTTER
Sprich deutlicher.
PAPHOS
Die du hier bei mir siehst, verbrachte ihr Leben als Hure.
MUTTER
Die Unglückliche!
PAPHOS
Der Lust und dem Spaß hatte sie sich ganz hingegeben.
MUTTER
Und so verdarb sie?
PAPHOS
Doch durch mein Gebet und die Gnade Jesu Christi ist sie dem ehemals so heißgeliebten Schmutz entkommen und will von jetzt an rein sein und bleiben.
MUTTER
Dank sei Gott, der ihr das Herz geöffnet hat!
PAPHOS
Eine Seelenkrankheit lässt sich am besten durch das Gegengift heilen, so ist es nötig, dass die Hure sich ganz scheide von ihrem Gewerbe. In einer Zelle soll sie leben, wo sie den Gott der Liebe ungestört lieben kann.
MUTTER
Das wird ihr gut tun.
PAPHOS
Teile ihr also eine schöne Zelle zu.
MUTTER
Das braucht ein bisschen Zeit.
PAPHOS
In dieser Zelle soll keine Tür sein, nur ein Fenster, durch das sie die himmlische Speise empfängt. 
MUTTER
Ich fürchte nur, das Mädchen ist zu zart, und sie wird solche Strenge nicht ertragen.
PAPHOS
Schwere Krankheit erfordert eine schwere Pille.
MUTTER
Du sprichst die Wahrheit.


ZWEITE SZENE


(Vor der Thaisis Zelle)

PAPHOS
(zur Mutter)
Wenn irgendjemand Thaisis besuchen kommt, lässt sie sich am Ende doch wieder verführen?
MUTTER
Sie soll verschlossen vor der Welt in ihrer Zelle leben. Die Zelle ist schon bereit.
PAPHOS
Sehr gut. Thaisis, geh nun hinein. Gesegnet ist der Ort deiner täglichen Bekehrung zu Gott.
THAISIS
Wie dunkel ist diese Zelle! Nein, das ist kein Ort zum Aufenthalt für ein zartes Mädchen wie mich!
PAPHOS
Warum erschrickst du vor dem Ernst der Umkehr? Du hast dich nicht erschrocken, als du in Hurerei deinen Leib geschändet hast!
THAISIS
Ich bin an ein bequemes Leben gewöhnt, ich sehne mich zurück nach dem früheren Leben der Lust!
PAPHOS
Darum ist es notwendig, von der Welt abgeschlossen zu leben, dass du nicht in Versuchung geführt wirst.
THAISIS
Was deine väterliche Weisheit mir vorschlägt, will ich tun.
(Sie begibt sich in die Zelle)
PAPHOS
Nun ist es Zeit, dass ich zu meiner geliebten Einsamkeit zurückkehre, um meinen treuen Schüler aufzusuchen.  Ich vertraue die Gefangene der göttlichen Liebe deiner Fürsorge an, heilige Mutter.


MUTTER
Mach dir keine Sorgen, Pater, ich will in mütterlicher Fürsorge für sie sorgen.


PAPHOS
So will ich jetzt gehen.


MUTTER
Gehe hin in Frieden.



DRITTE SZENE


(In der Einsiedelei des Paphos)

SCHÜLER
Wer klopft an die Tür?
PAPHOS
Mach auf!
SCHÜLER
Das ist die Stimme von Pater Paphos.
PAPHOS
So öffne doch die Tür!
SCHÜLER
(die Tür öffnend)
Willkommen, lieber Pater!
PAPHOS
Sei gegrüßt.
SCHÜLER
Wie lange bist du weggeblieben!  Ich hab mich schon nach dir gesehnt!
PAPHOS
Ich hab in der Zeit viel Gutes geschaffen!
SCHÜLER
Was wurde aus Thaisis?
PAPHOS
Sie hat sich dem Herrn geöffnet.
SCHÜLER
Wo ist sie jetzt?
PAPHOS
In einer Zelle betet sie.
SCHÜLER
Lobpreis sei der Allerheiligsten Dreifaltigkeit!
PAPHOS
Gesegnet sei Ihr Name, vor der die Zeit bebt und die Ewigkeit.
SCHÜLER
Amen.
 

VIERTER AKT
ERSTE SZENE


(Vor der Einsiedelei des heiligen Antonius)

PAPHOS
Drei Jahre sind vergangen, seit Thaisis sich für Jesus geöffnet hat. Doch weiß ich noch nicht, ob sie Gnade gefunden hat bei Gott, ob Gott ein Wohlgefallen an Thaisis gefunden hat. Ich bitte den heiligen Antonius um Erleuchtung!
HEILIGER ANTONIUS
(sieht Paphos von weitem kommen
Was für eine unerwartete Freude!  Welche neue Wonne kommt zu mir?  Ich glaube, dort kommt mein lieber Bruder Paphos.  Ja, er ist es!
PAPHOS
Ich bin’s!
HEILIGER ANTONIUS
Willkommen, lieber Bruder! Wie freut mich dein Besuch!
PAPHOS
Und ich freue mich, dich wieder einmal zu sehen.
HEILIGER ANTONIUS
Doch sag, was führt dich zu mir?
PAPHOS
Drei Jahre ist es her, da lebte bei uns eine Hure mit Namen Thaisis. Nicht ihre eigene Seele allein verdarb sie, sondern zog auch viele Männer mit ins Verderben!
HEILIGER ANTONIUS
Die Unglückliche!
PAPHOS
Ich bin als Freier verkleidet zu ihr gegangen und hab ihre Sündenliebe durch sanftes Zureden beendet.
HEILIGER ANTONIUS
Wohl war es nötig, deine Worte weise zu mischen, um solche Sünde zu besiegen.
PAPHOS
Endlich ergab sie sich mir. Und als der alte Dämon der Hurerei verflogen war, hat sie sich auf meinen Rat hin in eine stille Zelle zurückgezogen, um ganz der mystischen Gottes-Ehe zu leben.
HEILIGER ANTONIUS
Wie freut mich diese Frohe Botschaft! Wahrlich, wahrlich, es tanzen alle Nerven meines Herzens vor Lust und Wonne!
PAPHOS
So freuen sich Heilige. Ich freue mich auch, aber ich bin doch auch noch voller Sorge, ich fürchte, das verwöhnte Mädchen wird kaum lange den Ernst der Umkehr ertragen.
HEILIGER ANTONIUS
Wenn in einem Herzen Liebe wohnt, herrscht in diesem Herzen auch die mütterliche Barmherzigkeit Gottes.
PAPHOS
Ich bitte dich um deiner Liebe willen, dass du für Thaisis viel betest, bis wir vom Heiligen Geist erleuchtet werden, ob Gott Wohlgefallen hat an Thaisis?
ANTONIUS
Ich werde für Thaisis beten.
PAPHOS
Und der Gott der Liebe – ich zweifle nicht daran – wird voller Gnaden unsere glühende Sehnsucht befriedigen!


ZWEITE SZENE

HEILIGER ANTONIUS
Siehe, die evangelische Verheißung hat sich erfüllt!
PAPHOS
Welche Verheißung meinst du?
HEILIGER ANTONIUS
Die Verheißung, dass wir alles von Gott empfangen können, wenn wir in Christi Namen bitten.
PAPHOS
Was ist geschehen?
HEILIGER ANTONIUS
Meinem Knaben ist eine Vision geschenkt worden.
PAPHOS
Ruf ihn her!
HEILIGER ANTONIUS
Knabe, komm her! Sag dem lieben Pater Paphos, was du geschaut hast.
KNABE
Ich sah in der Nacht ein Bett, das war ein Himmel, mit weißen Decken und Kissen schön gemacht. Links und rechts von dem himmlischen Bett standen zwei paradiesische junge Frauen, in strahlender Schönheit, als Schutzengel. Als ich die wundervolle Pracht schaute, da dachte ich: Dieses Himmelsbett mit den beiden paradiesischen Frauen ist für meinen Vater Antonius hergerichtet, kein anderer ist würdig eines solchen Bettes, als mein Vater Antonius.
HEILIGER ANTONIUS
Kein Mensch kann solche Glückseligkeit durch Verdient erwerben.
KNABE
Doch als ich dies so dachte, hörte ich wie ein Meeresrauschen und Donner Gottes Stimme, die sprach: Nicht dem heiligen Antonius ist dieses Himmelsbett bereitet, sondern Thaisis, die heilige Hure, soll liegen in diesem Himmelsbett.
PAPHOS
Lobpreis sei der Süßigkeit deiner mütterlichen Barmherzigkeit, ewiger Vater! Wie bist du lieb zu mir und hast meine schwere und tiefe Trauer so über die Maßen tief getröstet!
HEILIGER ANTONIUS
Wahrlich, wahrlich, unser Gott und Herr ist würdig der Anbetung!
PAPHOS
Schnell will ich zu Thaisis gehen und mein Schäfchen besuchen.
HEILIGER ANTONIUS
Es ist die rechte Stunde, die göttliche Hoffnung und die Wonnen der ewigen Glückseligkeit ihr vorzustellen.


DRITTE SZENE

(Vor der Zelle der Thaisis)

PAPHOS
Thaisis, meine Geliebte, öffne mir dein Fenster schnell! Ich will dich sehen!
THAISIS
Wie komm ich zu der Ehre, dass du, großer Beter, zu mir, der Sünderin, kommst? Woher kommt dies große Glück?
PAPHOS
War ich auch dem Leib nach drei Jahre fern von dir, ich habe doch jeden Tag für dein Seelenheil gebetet und gelitten.
THAISIS
Dann wird mir das Seelenheil wohl zuteil werden. Ich glaube an dein Gebet.
PAPHOS
Du hast den Schoß deiner Seele dem himmlischen Bräutigam Jesus geöffnet und darum wird dir wohl die Wonne der ewigen Glückseligkeit im Paradies zuteil!
THAISIS
O wollte der Geliebte mich bald an sich reißen!
PAPHOS
Gib mir deine Hand, ich führe dich aus der Zelle. Die Stunde ist gekommen, mein Herz, dass du die Furcht vor dem Tode weit von dir wirfst. Dass du deine Seele Jesus aufgetan hast, hat Gott gefallen, und so darfst du auf die ewigen Wonnen glücklich hoffen!
THAISIS
O, alle Gottessöhne sollen die göttliche Liebe preisen, die mein demütiges Herz nicht abgewiesen hat!
PAPHOS
Sei treu in der Liebe zu Jesus und bleibe in ihm, dann bleibt er in dir. In wenigen Tagen wird deine Seele deinen Leib verlassen.  Dann endlich, endlich hast du glücklich deine Pilgerschaft im Tal der Tränen vollendet. Die Ewige Liebe wird dein sein und du wirst dich zu den höchsten Wonnen der paradiesischen Glückseligkeit aufschwingen!
THAISIS
Wenn ich vor der ewigen Verdammnis gerettet werde durch den barmherzigen Jesus, dann möge mein Aufenthalt im Reinigungsort kurz sein! O Ewige Liebe, reiße rasch den letzten Schleier herunter!
PAPHOS
Alles ist nichts als Gnade! Preise Gott für seine uferlose Barmherzigkeit!
THAISIS
Alle Himmel preisen die herzliche Barmherzigkeit der ewigen Gottheit!
PAPHOS
Die göttliche Barmherzigkeit ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gott ist Barmherzigkeit, Gott verdammt nicht eine einzige Seele!


VIERTE SZENE


(Zelle der Thaisis)

THAISIS
Verlass mich nicht, Paphos! Bleib als mein Tröster bei mir in meiner Sterbestunde!
PAPHOS
Ich verlass dich nicht, ich gehe nicht weg, bis deine Seele jubelnd zum Himmel aufgefahren ist und ich deinen Körper dem Grabesschoße eingesenkt hab.
THAISIS
O Bruder Tod, er kommt.
PAPHOS
Bete zu Jesus!
THAISIS
O mein Jesus, Barmherzigkeit! Jesus, ich vertraue auf dich!
(Sie stirbt)
PAPHOS
Du unerschaffene Ursache aller Welten, du ewiges Sein, du absolute All-Einheit, du ewige Liebe, mein Herr und mein Gott, der du Thaisis erschaffen hast, ihre Seele gehaucht und ihren Leib im Schoß der Materie gebildet, nimm ihre Seele auf in deine göttliche Glückseligkeit und bereite ihr ein Himmelsbett, in dem sie sich mit ihrem Bräutigam Jesus in einer himmlischen Hochzeit vereinigen kann, und gib ihr in der Auferstehung des Fleisches ihren wunderschönen Leib verklärt zurück – du, Gottheit, welche die Einzige ist, die du in der Einheit der Allerheiligsten Dreifaltigkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit unsere Schöne Liebe bist! Amen.