Von
Josef Maria Mayer
ERSTER
SPAZIERGANG
Karine zeigte mir
Paris. Wir waren auf der Isle de la Cité. Die zwischen zwei Armen
der Seine gelegene Isle de la Cité ist die Wiege der Hauptstadt.
Frankreich ist ein auf der Seine dahingleitendes Schiff. Karine ist
die aus der Seine aufgetauchte Vénus.
Die Römer nannten
diesen Ort Lutetia Parisiorum.
Karine zeigte mir die
Mutter-Kirche Notre Dame. Sie zeigte mir das Hotel de Dieu, das
bereits im siebenten Jahrhundert als Frauenkloster bekannt war. Die
Kathedrale Notre Dame steht auf der Ostseite des Place du Parvis.
Franz von Sales hielt hier im Jahre 1602 eine Trauerrede...
Notre Dame de Paris
war für Paul Claudel Asyl, Lehrstuhl, Heim, Ärztin und Ernährerin.
Der Dichter war am 25. Dezember 1886 Christus hier begegnet. Die
Knaben in weißen Gewändern sangen gerade das Magnifikat, den
Lobgesang Mariens. Er stand unter der Menge, nahe beim zweiten
Pfeiler beim Chor-Ausgang, rechts auf der Seite der Sakristei. Da nun
vollzog sich das Ereignis, das sein ganzes Leben veränderte: In
Einem Augenblick wurde sein Herz ergriffen und – er glaubte an
Christus.
Bei der Trauerfeier
der Beerdigung Claudels hörte man in Notre Dame diese Worte: In dem
kalten Gotteshaus zittern die Mitglieder der Akademie vor Kälte,
aber was sie sehen, ist so schön, so schön, dass sie darüber die
Kälte vergessen. Ihnen gegenüber lässt eine Rosette ein
übernatürliches Licht einfallen. Ein Mitglied der Akademie spricht
mit leiser Stimme: Sieh dort oben die Menschen auf der Empore! Wie
klein sie wirken vor den Maßen dieser Kathedrale! Man meint,
Quasimodo zu schauen!
Der Parvis-Notre-Dame,
der weite Platz vor der Kathedrale, ist das Herz der Isle de la Cité
und zugleich das Herz Frankreichs.
Karine führte mich
zur Kneipe Pomme de pin (Tannenzapfen), wo Francois Villon verkehrte.
Auch Boileau, Molière und Racine waren dort zu treffen.
Dann zeigte Karine mir
in der Rue Chanoinesse am Ufer der Seine das Haus des Kanonikers, der
den weisen Abälard entmannen ließ, weil er die schöne Nichte des
Kanonikers, Héloise, liebte. In der Rue des Ursins finden sich noch
Reste der Saint-Aignan-Kapelle, in der Abälard und Héloise beteten.
Hier hat auch der heilige Bernhard von Clairvaux gepredigt.
ZWEITER SPAZIERGANG
Die Cité, der Kern von
Paris, erweiterte sich zuerst an den Ufern der Seine. Da entstanden
Viertel auf dem linken und dem rechten Ufer. Die Quais des linken
Ufers zeigen noch heute eine charakteristische Atmosphäre, nämlich
die des geistigen Lebens.
Karine führte mich in
die Rue Mazarine. Dort wohnte die Schauspielerin Marie Desmares. Sie
war in Rouen geboren im Jahre 1642 und wurde unter dem Namen ihres
Gatten Champmeslé bekannt. Sie spielte im Ensemble des Théatre du
Marais, das Corneilles Cid uraufführte. Racine, ihr in Liebe
verbunden, überließ ihr die Hauptrollen in seinen Tragödien und
sprach die Rollen selbst mit ihr durch.
Dann gingen wir zur
Rue du Seine. Frank Wedekind kam im September 1893 zum drittenmal
nach Paris und nahm Wohnung in dem kleinen Hotel Mont-Blanc. Hier
schrieb er seine Lulu und nahm seine freundschaftlichen Beziehungen
zu Emma Herwegh wieder auf.
Nun gingen wir zur Rue
des Beaux-Arts. Hier fanden wir die Geschäftsräume der Revue des
Deux Mondes. In einem Salon trafen sich die Vertreter der
romantischen Schule. Hier fand am Fest Heilige Drei Könige im Jahre
1834 das Königsessen statt. Victor Hugo, Heinrich Heine, Mérimée
und die Tragödin Rachel nahmen daran teil. Bohnenkönig würde, wer
eine Bohne in seinem Stück Kuchen fand. Heinrich Heine gewann das
Spiel und erwählte Rachel als seine Bohnenkönigin.
Nun kamen wir in die
Rue de Beaune. Wir stiegen zu Théophile Gautier hinauf, der von
Neuilly in den fünften Stock einer Arbeiterwohnung in der Rue de
Beaune in Paris geflüchtet war. Die Dachstube, in der sich Theo
aufhielt, und die er, klein und niedrig wie sie war, mit dem Rauch
seiner ewigen Zigarette ausfüllte, enthielt ein eisernes Bett, einen
alten Lehnstuhl aus Eichenholz, einen Strohsessel. Hier fanden wir
Theo in einer roten venezianischen Kappe, einem ehemals für den
täglichen Gebrauch in Saint-Gratier bestimmten Samtrock, der aber
jetzt so fettig und fleckig war, dass er die Jacke eines
neapolitanischen Kochs gewesen zu sein schien. Und der üppige
Meister der Schrift und des Wortes machte den Eindruck eines in Not
geratenen Dogen.
Auf dem Place du
Chatelet fanden wir in den Armenvierteln zwischen den Hallen und der
Seine den verkommenen, geistig umnachteten Dichter Gérard de Nerval
am Morgen des 26. Januars 1855 am Gitter eines Klosettfensters einer
Erdgeschosswohnung erhängt auf. Der Soufleurkasten des Theaters
befand sich genau an der Stelle, an der Nerval in der eiskalten
Winternacht Selbstmord begangen hatte. Nerval berichtete selbst von
seiner Verzweiflung und seinen Visionen: Ich richtete meine Schritte,
ohne gegessen zu haben, nach Montmartre. Der Friedhof war
geschlossen, das war eine üble Vorbedeutung. Als ich um das
Clichy-Tor bog, wurde ich Zeuge eines bösen Streits. Von diesem
Augenblick irrte ich als Beute der Verzweiflung in dem unbegrenzten
Gelände umher, das die Vorstadt von dem Clichy-Tor trennt. Ich ging
kreuz und quer durch die Straßen nach dem Zentrum von Paris zurück.
In der Rue de la Victoire begegnete ich einem katholischen Priester.
In der Verzweiflung, in der ich mich befand, wollte ich bei ihm
beichten. Er aber hatte keine Zeit... Verzweifelnd und weinend lenkte
ich meine Schritte nach der Kirche Notre-Dame-de-Lorette. Ich erhob
mich vom Gebet und ging hinaus und schlug die Richtung nach den
Champs-Elysées ein. Als ich bei der Place de la Concorde angekommen
war, hatte ich den tiefen Wunsch, mich zu vernichten. Verschiedene
Male ging ich zur Seine, um mich zu ertränken, aber etwas hinderte
mich, meinen Entschluss auszuführen.
Wir verließen Nerval,
für seine Arme Seele betend, und kamen zum Cour Carrée du Louvre.
An der Stelle des Pavillon de l’Horloge stand der sogenannte
Bibliotheksturm, in dem Karl der Fünfte seine Sammlung von fast
tausend Manuskripten bewahrte. Zu der Sammlung gehörten Schriften
von Aristoteles und Seneca, der Kirchenväter, der Roman de Renart,
der Rosenroman und der Bericht Marco Polos über seine Reise nach
China.
Weiter gingen wir zum
Cour du Carrousel. In der Rue Saint-Thomas-du-Louvre wohnte Madame de
Blacy, die Schwester der hochgebildeten Sophie Volland. In ihrem Haus
fand 1755 die erste Begegnung Diderots mit Sophie statt. Zwanzig
Jahre lang würde die Liebe die beiden verbinden. Eine Liebe, wie
Diderot sagte, wie ich sie noch nie empfunden hatte. Sie wurde die
Empfängerin seiner berühmten Briefe an Sophie.
DRITTER SPAZIERGANG
Karine ging mit mir in
die Rue du Président-Wilson, die früher Rue du Trocadéro hieß.
Dort wohnte Laure Hayman, Tochter eines englischen Malers und
Geliebte reicher Männer. Mit ihr pflegte Marcel Proust auszugehen,
er schickte ihr Rosen und überhäufte sie mit Briefen. Sie nannte
ihn „meinen kleinen Marcelino“ oder „meinen Psychologen von
Porzellan“. Wesenszüge der Laure finden sich in der Odette de
Crécy in dem Roman auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Einem
andern Autor diente sie zum Vorbild seiner Heldin eines Romans. Laure
verehrte diesen Roman dem kleinen Marcel. Sie hatte das Buch in die
geblümte Seide eines ihrer Röcke einbinden lassen.
In der Rue Hamelin
wohnte Proust. Proust ließ nie Staub wischen in seiner Wohnung. Die
Flusen lagen wie Chinchilla auf den Möbeln. Beim Eintritt wurden wir
von der Haushälterin gefragt, ob wir Blumen mitbrächten, ob wir uns
parfümiert hätten. Wir fanden Proust meistens im Bett, aber
angezogen, er trug gelbe Handschuhe, weil er seine Nägel nicht
abkauen wollte. Er gab viel Geld aus, damit die Handwerker im Hause
ihn nicht störten. Nie durfte ein Fenster geöffnet werden. Der
Nachttisch war mit Medikamenten bedeckt.
In der Rue Franklin
besuchten wir einen Grafen. Er wohnte im Erdgeschoss, es hatte hohe
Fenster, deren kleine Scheiben im Stil des siebzehnten Jahrhunderts
dem Haus ein altertümliches Gepräge verliehen. Die Wohnung war
angefüllt mit einem wirren Durcheinander nicht zusammenpassender
Dinge, alter Familienbilder, Empiremöbel, japanischer Kimonos,
Radierungen. Ein eigenartiger Raum war das Toilettenzimmer mit einer
in eine Badewanne umgewandelten persischen Schale, daneben ein
riesiger orientalischer Wasserkessel aus gehämmertem Kupfer, das
Ganze durch Vorhänge aus farbigen Glasstäbchen abgeschlossen. Es
war ein Raum, in dem die Hortensienblume in Gedenken an die Königin
Hortensie aus jedwedem Material und malerisch und zeichnerisch zu
finden war. Mitten in diesem Toilettenzimmer war ein Glasschränkchen,
aus dem zarte Schattierungen von hundert Krawatten hervorleuchteten.
In der Rue Vineuse
lebte die Witwe Hélène Grandjean, die Heldin des Romans „Une page
d’amour“ von Emile Zola. Sie unternahm die lange Reise von
Montpellier nach Paris, um das Grab ihrer Tochter Jeanne auf dem
Friedhof von Passy noch einmal zu besuchen. Sie beschrieb das
Panorama: Die Ulmen am Quai d’Orsay, die sich in Entfernung weit
kleiner ausnahmen, als sie in Wahrheit waren, reihten sich wie lauter
Blumen aus Kristall hintereinander und ihre Spitzen stachen wie
Nadeln in die Luft. Mitten in dem reglosen Meer aus Eis wälzte die
Seine ihre erdgrauen Fluten zwischen den Uferböschungen wie zwischen
weißen Hermelinpelzen einher. Der Fluss führte seit dem Vortag
Treibeis, und von den Pfeilern des Pont des Invalides war deutlich
das Aufbrechen der Eisschollen zu hören, wenn sie sich unter die
Brückenbogen zwangen. Hinter dem Pont des Invalides staffelten die
andern Brücken ihr lichtes Filigran, dessen Maßwerk immer zarter
wurde, bis an das glitzernde Gefels der Cité, über dem die Türme
von Notre Dame ihre verschneiten Zinnen emporreckten. Zur Linken
durchbrachen andere Gipfel das Gleichmaß der Stadtviertel. Die
Kirche Saint-Augustin, die Oper, der Tour Saint-Jacques erhoben sich
über die Niederung wie Berghäupter, die ewiger Schnee krönt.
Weiter vorn im Blickfeld formierten die Pavillons der Tuillerien und
des Louvre, durch die Trakte miteinander verbunden, den Doppelgrat
einer jungfräulichen, von Schnee bedeckten Bergkette. Zur Rechten
gesellten sich ihnen die weißen Firste des Hotels des Invalides und
der Türme von Saint-Sulpice, des Panthéon, es projizierte das
Panthéon ein mit bläulichem Marmor umkleidetes Traumschloss gegen
den azurenen Himmel.
In der Rue Vineuse
wohnte einst Béranger bei seiner alten Freundin Judith Frères,
deren Garten er mit besonderer Freude bestellte. Ein paar Schritte
und wir pochten an die Tür einer Parterrewohnung. Mehrere Stimmen
riefen herein, wir standen in einem freundlichen kleinen Zimmer,
durch dessen offenes Fenster Weinlaub hereindrängte. Das Fenster
ließ auf einen Garten blicken. Da saß ein freundlicher alter Mann,
eine Samtmütze auf dem Kopf, und ihm gegenüber eine alte Dame, sie
hatten eine Flasche Wein und ein köstliches Frühstück vor sich.
Ein Jüngling las dem alten Mann die Zeitung vor. Da hatten wir denn
alles beieinander: Der alte Mann war Béranger und die alte Dame
Judith Frères.
In der Rue Berton
richtete Doktor Esprit Blanche seine psychiatrische Klinik ein, die
sein Sohn nach seinem Tode weiterführte. Gérard de Nerval war hier
1851 zum ersten Mal interniert. Seine immer häufiger auftretenden
Zustände von Wahnsinn machten zwei weitere Aufenthalte in den
folgenden Jahren nötig.
Guy de Montpassant
wurde 1892 nach einem Selbstmordversuch in die Klinik gebracht, wo er
als Nummer 15 im Jahre 1893 an Paralyse starb. Seine Beerdigung fand
auf dem Friedhof Montparnasse statt, wo Emile Zola ihm die Grabwache
hielt. In der Klinik hatte der kranke Schriftsteller versucht, mit
dem Finger Löcher in die Gartenerde zu bohren und seinen Arzt zu
überzeugen, dass im nächsten Jahr Kinder aus dem Boden sprießen
würden.
Wir kamen auf die
Avenue de Versailles. An der Straße nach Versailles, am
Point-du-Jour, neben einem Wirtshaus mit dem Schild „Zum neuen
gelehrten Papagei“ ist eine Mauer, deren vorgeschobene, alte,
rostige Gittertüren aussehen, als würden sie nie geöffnet. Über
die Mauern ragen das Dach eines Hauses und die Gipfel von
Kastanienbäumen, in deren Mitte sich ein kleiner, viereckiger Bau
erhebt, ein Eiskeller, darauf eine ganz abgeblätterte Statue: Die
Fröstelnde. In dieser verwitterten Mauer war eine Tür und an dieser
eine Klingel mit beschädigtem Glockenzug, deren dünnes Geläute das
kräftige Bellen von Bernhardinerhunden hervorruft. Es dauerte lange,
bis geöffnet wurde.
Auf der Pont Mirabeau
gingen Karine und ich. Auteuil ist mit dem linken Seine-Ufer durch
den Pont Mirabeau verbunden, dem Apollinaire 1913 nach seiner
Trennung von Marie Laurencin diesen Vers gewidmet hat: Unter dem Pont
Mirabeau fließt die Seine und mit ihr fließen unsere Geliebten
davon.
Wir kamen in die Rue
La Fontaine. Apollinaire zog 1911 hier bei Freunden ein. Er wollte so
seiner Geliebten Marie Laurencin nahe sein. Sie war eine Malerin, die
er 1907 bei einem Kunsthändler kennen gelernt hatte. Sie wohnte auch
in der Rue La Fontaine. Im Herbst 1912 trennte sich Marie von ihm.
Apollinaire wollte nicht länger in der Gegend bleiben, in der er
glücklich gewesen war, und zog an den Boulevard Saint-Germain. Aus
seinem Schmerz entstand sein Gedicht Pont Mirabeau: Nicht ohne
Bitterkeit verließ ich dich, o fernes Auteuil, o liebliches Viertel
meiner großen Traurigkeit!
Auf dem Place
d’Auteuil sahen wir das alte Gotteshaus Notre-Dame-d’Auteuil.
Rechts von der Kirche stand das alte Pfarrhaus, in dem Abbé Layseau
wohnte, der beim König die Erlaubnis erwirkt hatte, dass Molière
ein christliches Begräbnis erhielt, und der der Tragödin
Champmeslé, der Geliebten Racines, bei ihrem Tode 1698 geistlich
beistand.
So gingen wir auf der
Rue d’Auteuil. Die Tragödin Champmeslé starb 1698 in einem Haus
in der Rue d’Auteuil, nicht weit von der Kirche. Racine war ihr eng
verbunden. Sein Sohn sagte: Ich muß der Champmeslé Abbitte leisten,
die sehr anständig aus dem Leben ging. Sie verzichtete auf das
Theater und bereute ihr Leben sehr. Boileau hat mir alles erzählt,
er weiß es vom Pfarrer von Auteuil, der ihr bei ihrem Tode den
letzten Beistand leistete. Sie starb in Auteuil, wo sie in frischer
Luft sein wollte.
VIERTER SPAZIERGANG
Karine ging mit mir den
Weg vom Bois du Bologne zu den Champs-Elysée. An dem Square Tolstoi
zeigte sie mir das Denkmal Leo Tolstois. Tolstoi war am 10. November
1910 in Krasny Rog in Russland verstorben. Seine Bildungsreisen
führten ihn auch 1860 nach Paris.
Auf der Avenue
Victor-Hugo befand sich die letzte Wohnung Victor Hugos. Hier
überraschte ihn auch die Nachricht vom Tode Juliette Drouets, die
ihn ein halbes Jahrhundert lang mit bewegender Selbstlosigkeit
geliebt hatte. Sie starb im Alter von 77 Jahren. Er hatte zu der Zeit
neben Juliette noch eine jugendliche Geliebte.
Auf dem Boulevard
Lannes zeigte Karine mir die Villa Les Talus. Sie gehörte Méry
Laurent. Sie war eine Frau von zweifelhaftem Ruf. Sie war die
Geliebte des Dichters Mallarmé und Geliebte und Modell eines Malers.
Auf der Rue Balzac
zeigte Karine mir das Haus, das Honoré de Balzac im September 1846
für Eveline erwarb. Er war damals schon fast erblindet. In einem
Brief an Victor Hugo schrieb Balzac: Ich bewohne jetzt das Haus des
Herrn von Beaujon, allerdings ohne dessen Garten, aber mit dem
Oratorium für die kleine Kirche an der Straßenecke. Von meiner
Treppe führt eine Tür direkt zur Kirche. Ein Drehen des Schlüssels
und ich bin direkt in der Heiligen Messe. - Nach fürstlicher
Einrichtung des Hauses und der Eheschließung mit Eveline in der
Ukraine bezog das Paar das Haus, in dem der Schriftsteller einige
Monate später an einem Herzleiden starb.
Auf der Avenue des
Champs-Elysées erlebte ein Wachtmann dies: Ich arretierte gegen acht
Uhr abends einen Abbé und eine schöne Negerin, von der er
behauptete, ihr Beichtvater zu sein. Ich habe ihn dann wieder
freigelassen und den Abbé ermahnt, künftig nicht mehr nachts unter
üppigen Bäumen Beichte zu hören.
Auf der Rue
Jean-Goujon zeigte Karine mir das Haus, in dem Victor Hugo Anfang
Januar 1831 den großen Roman Notre Dame de Paris beendete. Er hatte
ihn in sechs Wochen niedergeschrieben. Adèle Hugo gebar in diesem
Haus ihr fünftes Kind. Allerdings unterhielt sie zu dieser Zeit
schon eine Beziehung zu Sainte-Beuve.
Auf der Avenue
Matignon hatte Heinrich Heine eine Unterkunft in dem Erdgeschoss
eines Hauses mit Garten. Mutter, du hast keinen Begriff, wie sehr die
gute Luft und der Sonnenschein mir wohl tut. Gestern saß ich, wohler
als je, unter den Bäumen des Gartens und aß die schönste Pflaume,
die mir überreif ins Maul fiel. - Von seiner Matratzengruft aus
konnte er die Champs-Elysées sehen. In dieser Wohnung vegetierte er
bis zu seinem Tode. Seine Frau bat an seinem Sterbebett Gott, ihm
seine Sünden zu vergeben, da sagte er: Sei ruhig, Kindchen, er wird
vergeben, denn das ist sein Beruf. Sterbe ich in Paris, so will ich
auf dem Kirchhof des Montmartre begraben werden, denn unter der
Bevölkerung des Faubourg Montmartre habe ich mein liebstes Leben
gelebt. Obgleich ich doch lutherisch-protestantisch bin, wünsche ich
auf jenem Teil des Kirchhofs begraben zu werden, der den
Römisch-Katholischen zugewiesen ist, damit die irdischen Reste
meiner lieben Frau, die römisch-katholischen Glaubens ist, einst
neben meinen Gebeinen ruhen können. – Der beste Freund seiner
letzten Zeit war der Dichter Gérard de Nerval. Im Oktober 1855 hatte
Heine die Bekanntschaft seiner Mouche gemacht. Es war die
siebenundzwanzigjährige Pianistin Elise aus Prag. Sie besuchte ihn
täglich und las ihm vor. Wenn sie auf Reisen war, schrieb er ihr
Gedichte der Sehnsucht aus seiner Matratzengruft. Am 14. Juni kam sie
zum letzten Mal zu dem sterbenden Schwan.
Karine führte mich in
die Rue de Berri. Hier wohnte Eveline. Sie hatte 1832 ihren ersten
verehrungsvollen Brief an Balzac geschrieben, mit der Unterschrift:
Die Fremde. Sie hatte sich in den folgenden Jahren mit dem
Schriftsteller an verschiedenen Orten Europas getroffen. Die Komtesse
Evelin war 1841 Witwe geworden. Im Jahre 1850 heiratete sie in der
Ukraine den todkranken Balzac, der kurz darauf starb.
Wir kamen in die Rue
de Miromesnil. Chateaubriand schrieb in seinen Memoiren: Mein kleiner
Garten grenzte an einen Hof, und vor meinem Fenster stand eine große
Pappel. Das Pflaster der Straße endete vor meiner Tür, weiter oben
stieg der Weg durch unbebautes Gelände. Das nur von wenigen Hütten
bebaute Gelände grenzte rechts an den Jardin de Tivoli und links an
den Park Monceau. Ich ging häufig in diesem verlassenen Park
spazieren. Dieser Zufluchtsort war mit Nacktheiten aus Marmor
geschmückt und mit künstlerischen Ruinen verschönt, Symbolen der
leichtfertigen und ausschweifenden Lebensweise, die alsbald
Frankreich mit Trümmern und Huren bedecken sollte.
Nun kamen wir in die
Rue d’Anjou. Hier wohnte eine Gräfin, die das Modell gab zur
Herzogin Guermantes im Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Ein Dichter wollte bei einer Begegnung mit der Gräfin auf der Treppe
ihres Hauses die Schnauze ihrer Hündin küssen. Aber die Gräfin bat
den Dichter, davon Abstand zu nehmen und sagte: Gib acht, du wirst
ihre Schnauze weiß machen mit deinem weißen Pulver!
Etwas weiter wohnte
Madame Récamier, die Geliebte Chateaubriands. Der Schriftsteller
besuchte sie hier regelmäßig. Er sagte: Ich besuchte Madame
Récamier in der Rue Basse-du-Rempart und dann in der Rue d’Anjou.
Wenn man seinem Schicksal begegnet ist, glaubt man, es niemals
verlassen zu haben. Das Leben ist nach Ansicht des Pythagoras nur ein
Wiedererinnern. Bei dem Haus lag ein Garten, in diesem Garten standen
Lindenbäume, zwischen deren Blätter ich einen Strahl der Luna sah,
als ich auf Madame wartete. Mir schien es, dieser Strahl der Luna
gehörte mir, und wenn ich ihn wiedersehe, begebe ich mich unter den
selben Schutz. Der Sonne, die ich auf so vielen Stirnen haben
leuchten sehen, der Sonne kann ich mich nicht mehr erinnern.
Nun führte Karine
mich auf den Boulevard Haussmann. Eine Zeit lang hatte Proust vor
seiner Tür Tag und Nacht ein Taxi stehen, für den Fall, dass er
Lust bekäme, auszufahren. Oft verließ er nachts das Haus und bat
den Taxifahrer, ihn zu einem Hurenhaus zu fahren. Dann bat er den
Taxifahrer, die Äbtissin des Hurenhauses zu holen. Wenn sie gekommen
war, ließ er sich von ihr zwei junge schöne Huren herausführen. Er
bat sie ins Taxi und bot ihnen Milch an und verbrachte einige Stunden
der Nacht mit den beiden schönen jungen Huren indem er mit ihnen
über die Liebe und den Tod und dergleichen wichtige Dinge sprach.
Wenn man zu Proust kam, lag er in voller Kleidung im Bett, mit
Krawatte und Handschuhen, in Höllenangst vor einem Parfüm, einem
Windhauch, einem Sonnenstrahl. Er empfing uns mit den Worten: Mein
Lieber, du hast doch nicht etwa einer Dame die Hand gegeben, die eine
duftende Rose angefasst hat?
FÜNFTER SPAZIERGANG
Karine führte mich zum
Place du Palais-Royal. Casanova sagte über die dortigen Gärten: Ich
ließ mich zum Palais Royal führen und war schon neugierig auf diese
so viel gepriesene Promenade und begann sogleich, alles zu
betrachten. Ich sah einen schönen Garten, Alleen mit großen Bäumen,
Wasserbecken, und ringsum hohe Häuser. Viele Herren und Damen
spazierten da umher, hier und dort gab es Stände, an denen man neue
Flugblätter, Riechwasser, Zahnstocher und andern Tand kaufen konnte.
Man vermietete strohgeflochtene Stühle. Ich sah Zeitungsleser im
Schatten der Bäume sitzen, ich sah Mädchen und Männer, die allein
oder in Gesellschaft frühstückten, Kellner, die geschäftig eine
kleine Treppe auf und ab liefen. Ich setzte mich an einen freien
Tisch und bestellte Schokolade ohne Milch, und der Kellner brachte
mir abscheuliches Zeug in einer silbernen Tasse.
Karine, du nanntest
Paris die Stadt der ewigen Jugend!
Dann führte Karine
mich in die Rue Croix-des-Petits-Champs. Dort gingen wir in das Café
allemand der Madame Bourette, der Muse der Limonade, der Muse und
Kaffeewirtin, die besonders Voltaire zu ihren Gästen zählte.
Nun gingen wir in die
Rue de Rivoli. Den jovialen Alexandre Dumas fand ich wie gewöhnlich
im Bett, auch wenn es schon nach Mittag war. Hier lag er mit Papier,
Feder und Tinte und schrieb an seinem neusten Drama. Er nickte mir
freundlich zu und sagte: Setz dich eine Minute, ich habe eben Besuch
von meiner Muse, sie wird gleich wieder gehen. Er schrieb, sprach
dabei laut und rief: Viva! Er sprang aus dem Bett und sagte: Der
dritte Akt ist nun auch fertig.
An der Ecke der Rue
des Prouvaires und der Rue Saint-Honoré stand der Strumpfladen, der
Casanova zu seinen besten Kunden zählte. Casanova, als er sich in
die Frau des Besitzers verliebt hatte, bestellte hier einige Hosen,
wie sie gerade Mode in Paris waren. Die Frau probierte sie ihm an und
ließ sich von ihm verführen. Er verführte die Siebzehnjährige in
seinem Haus in Petite Pologne.
Wir kamen zum Square
des Innocents. Der Friedhof der Unschuldigen Kinder war im
Mittelalter ein berühmt-berüchtigter Anziehungspunkt. Tagsüber
spazierten hier die Pariser, nachts sammelten sich hier die Huren und
die Verbrecher. Auf dem Platz erhebt sich das Beinhaus der
Unschuldigen Kinder, das Rabelais beschrieb. Die Wände der Kapelle
waren mit einem Totentanz bemalt. Francois Villon schrieb in seinem
Testament von diesem Friedhof und sprach von der Nichtigkeit des
irdischen Lebens:
Seh ich im Beinhaus
mir daneben
Die Schädel an, die
aufgereihten:
Juristen waren das
im Leben...
Nun kamen wir zu Les
Halles. In seinen letzten Lebensjahren irrte der Dichter Gérard de
Nerval, der in den kleinen Kneipen der Hallen gut bekannt war, nachts
durch die lauten Straßen des Viertels. In dieser Gegend erhängt er
sich in einer eiskalten Januarnacht des Jahres 1855.
SECHSTER SPAZIERGANG
Karine, die einzig mich
liebte, führte mich zum Boulevard de la Madelaine. Dort wohnte
Juliette Récamier. Madame de Stael führte Chateaubriand in ihren
Salon. Chateaubriand, der Juliette zum ersten Mal in ihrer damaligen
Wohnung in der Rue de la Chaussée d’Antin begegnet war, las ihr
hier seinen Roman vor. Im Jahre 1817 begann seine dreißig Jahre
währende Liebesbeziehung zu Juliette.
Nebenan, in dem Haus
der Schokoladenfabrik starb im Februar 1847 im Alter von 23 Jahren
die durch ihre Schönheit stadtbekannte Kurtisane Alphonsine Plessis,
die sich selbst Marie Duplessis nannte. Sie gehörte zu den schönsten
und elegantesten Mädchen von Paris. Franz Liszt machte ihr den Hof.
Alexandre Dumas der Jüngere hat sie in der Gestalt der Marguérite
Gautier in seinem Roman von der Kameliendame verherrlicht. Dumas
behauptete, den Grund, warum Marguérite Gautier die Kameliendame
genannt wurde, nicht zu kennen. Fünfundzwanzig Tage im Monat trug
sie weiße Kamelien, an den übrigen fünf Tagen rote Kamelienblumen.
Den Grund dafür kenne ich nicht, aber die Besucher der Theater, in
denen sie am häufigsten war, und ihre Freunde haben den Wechsel der
Blumenfarbe bemerkt.
Karine führte mich in
die Rue Vignon. Die am meisten durchgeisterte von allen diesen
Wohnungen war die in der Rue Vignon. Sie lag fast an der Ecke des
Place de la Madelaine, eine Dachwohnung, die keine einladende Miene
machte. Aber sie war erfüllt von Sturm und Feuer. Ich kann sie nicht
beschreiben. Am erfülltesten war in ihr die Leere. Möbel und
Gegenstände waren nicht besonders ausgesucht. Man sah sie nicht. Was
man sah, war die Leere, ein Mülleimer voller Leere, eine randvoll
erfüllte Leere. Die Phantome standen dort Schlange. Eine so dicht
gedrängte Menge von Phantomen war es, dass keiner Platz zum Liegen
fand, und noch weniger zum ungewissen Umherirren. Ein Gedränge von
Schatten hielt mich ständig auf den Beinen. Sie waren im Zimmer, im
Vorraum, auf der Treppe, Schulter an Schulter, übereinander, in
dichten Trauben. Ihr Getümmel äußerte sich als Stille.
In der Rue de la Paix
sahen wir das Blumengeschäft, bei dem die Kameliendame, die junge
elegante Kurtisane, ihre Kamelienblumen kaufte.
In der Rue de
Richelieu erlebte Stendhal die Publikation seines Werkes de l’Amour,
hier schrieb er auch die Schrift über Racine und Shakespeare. Nach
Theaterschluss fand er sich allnächtlich bei seiner Freundin ein,
der italienischen Sängerin Guiditta Pasta, die im selben Hause
wohnte.
Am Place Boieldieu
mietete Dumas der Ältere ein bescheidenes Zimmer. In der
Nachbarwohnung lebte die jüdische Näherin Catherine Labay, in die
er sich verliebte und zu der etwas später zog. Sonntags pflegten sie
im Wald von Meudon zu spazieren, wobei er seinen Sohn Alexandre Dumas
den Jüngeren mit Catherine im Wald zeugte.
Wir kamen zum
Boulevard des Italiens. Flaubert erinnerte sich, wie er in den ersten
Jahren seines Aufenthalts in Paris an heißen Sommertagen im Café
saß und die vorüberflanierenden jungen Hürlein beschaute.
Karine führte mich
zur Rue de la Chaussée-d’Antin. Hier stand das Hotel Necker, das
Juliette Récamier mit ihrem Ehemann im Jahre 1798 kaufte. Hier gab
Juliette ihre berühmten Empfänge. Hier sah Chateaubriand nach
seinem Exil im Jahre 1801 seine Juliette zum erstenmal. Doch
unversehens senkte sich der Vorhang zwischen ihm und ihr. Erst
sechzehn Jahre später sollte er sie bei der sterbenden Madame de
Stael wiedersehen.
Nun gingen wir in die
Rue Taitbout. Dort hatte Madame Jaubert ihren literarischen Salon.
Heinrich Heine begegnete der Madame Jaubert im Jahre 1835 auf einem
Ball. Bis in seine letzten Tage, als er schon die Treppen zu ihrer
Wohnung hinaufgetragen werden musste, war er ihr ständiger Besucher.
Nun kamen wir auf den
Boulevard Poissonière. Dort befand sich das Café Vachette. Bei
einem Essen fragte der Schriftsteller Renan den Kellner mit
weinerlicher Stimme: Kellner, nicht wahr, das ist kein Hundefleisch?
Der Kellner: Aber es ist schon das dritte Mal, das Sie Hundefleisch
bekommen. Renan: Nein, das ist nicht wahr. Der Wirt ist ein
anständiger Mensch, er würde es uns vorher wissen lassen.
Hundefleisch ist doch unreines Fleisch. Pferd ja, aber nicht Hund!
Der Kellner: Hund oder Hammel, es gibt sonst nirgendwo so gutes
Fleisch. Ja, wenn man Ihnen Ratten vorsetzen würde! Ich kenne das
Rattenfleisch, es ist sehr gut, eine Mischung von Schwein und jungem
Rebhuhn. - Renan, mit einem bekümmerten Blick, wird erst blass, dann
grün, wirft seine Francs auf den Tisch und verschwindet.
Wir aber gingen zum
Boulevard de Bonne-Nouvelle. Am 7. April 1852 gab Baudelaire nach der
Trennung von seiner Geliebten, der Mulattin Jeanne, seine Wohnung in
der Rue du Marais-du-Temple auf und zog an den Boulevard de
Bonne-Nouvelle.
Weiter gingen wir in
die Rue de l’Echiquier. Dort wohnte Juliette Drouet, die Geliebte
Victor Hugos. Ein Prinz, ein reicher Nichtstuer, hatte ihr dort ein
luxuriöses Appartement eingerichtet. Victor Hugo sagte: Wir sind in
dieser Wohnung so sehr glücklich und so sehr unglücklich gewesen!
Später übersiedelte Juliette in die Rue de Paradis.
Nebenan war der
Boulevard Saint-Martin, wo sich ein Theater befand. Hier las Victor
Hugo seine Lukrezia Borgia vor. Der Lesung wohnte auch Juliette
Drouet bei. Victor Hugo war der Schauspielerin Juliette bereits im
Mai 1832 bei einem Ball begegnet. Sie sollte ihm bis an ihr
Lebensende eine treue Geliebte bleiben.
Nun kamen Karine und
ich auf die Avenue de la République. Im Mai 1851 hatte Baudelaire
dort eine Unterkunft. Seine Mutter, die mit ihrem Gatten aus
Konstantinopel nach Paris zurückgekehrt war, war entsetzt über die
armseligen Verhältnisse, in denen ihr Sohn lebte.
SIEBENTER SPAZIERGANG
Karine führte mich zur
Rue des Fontaines-du-Temple. Hier stand das Kloster der Madelonetten,
das sich besonders der Huren annahm. In dieses Kloster sperrte die
fromme Anna von Österreich, Regentin an Stelle Ludwig XIV., die
wilde Ninon de Lenclos einige Monate ein.
Wir gingen weiter zur
Rue du Temple. Hier ging Balzac zur Schule. Seine Eltern waren völlig
befriedigt bei dem Gedanken, dass er ernährt und bekleidet, mit
Griechisch und Latein vollgestopft wurde. Er hat während seines
Internats etwa tausend Kameraden kennen gelernt, aber er konnte sich
nicht erinnern, auch nur bei Einem ein derartiges Beispiel von
Gleichgültigkeit der Eltern angetroffen zu haben.
Nun gingen wir in die
Rue de la Perle. Hier lernte Molière die Schauspielerin Madelaine
Béjart kennen und lieben. Er wurde ein ständiger Gast im Hause der
Schauspielerfamilie. Später gründete Madelaine eine eigene
Schauspielertruppe, das Illustre Theater, dem sich Molière anschloss
und mit dem er auf Tournee ging. Die Liebesbeziehung zu Madelaine
übertrug er später auf deren Tochter Armande. Der vierzigjährige
Dichter heiratete die Neunzehnjährige.
Wir
kamen in die Rue Payenne. Dort starb Clothilde de Vaux, die Geliebte
des Philosophen Auguste Comte. Der Philosoph hatte sich in die
unglückliche und schwer kranke Clothilde verliebt, die ihn zu seinem
Mystizismus eines übermenschlich-weiblichen Wesens namens Grand Etre
geführt hatte.
Von dort gingen wir in
die Rue Saint-Anastase. Victor Hugo richtete hier seiner Geliebten
Juliette Drouet eine kleine Wohnung ein. Hier konnte er sie schnell
von dem Place des Vosges erreichen.
So gingen wir also auf
den Place des Vosges. Heimlich empfing er seine Geliebte Juliette
auch hier.
Auf der Rue
Saint-Martin dachten wir an Gérard du Nerval, den Dichter zwischen
den Nationen, der als Achtzehnjähriger den Faust ins Französische
übersetzt hatte. Der achtzigjährige Goethe sagte einmal zu dieser
Übersetzung: Im Deutschen mag ich den Faust nicht mehr lesen, aber
in dieser französischen Übersetzung wirkt alles wieder frisch, neu
und geistreich.
Jetzt kamen wir auf
den Place de l’Hotel de Ville, den Rathausplatz. Hier fanden
Jahrhundert lang Volksfeste statt. Victor Hugo schildert in seinem
Roman vom Glöckner von Notre Dame die Enthauptung der jungen
Zigeunerin Esmeralda, die zu Lebzeiten zur Freude der Pariser auf dem
Platz zu tanzen pflegte. Auch die öffentliche Auspeitschung des
Glöckners Quasimodo fand auf diesem Platz statt.
Auf dem Place Baudoyer
dachten wir an den Philosophen Blaise Pascal. Seine Mutter war jung
gestorben. Den Unterricht seiner Kinder übernahm der Vater selbst.
Die ältere Schwester von Blaise Pascal berichtete von der
außerordentlichen mathematischen Begabung ihres Bruders, der schon
als Zwölfjähriger die wesentlichen Lehrsätze Euklids entdeckte und
als Sechzehnjähriger eine Abhandlung über die Kegelschnitte
verfasste.
Von dort gingen Karine
und ich in die Rue Clocheperce. Francois Villon hat diese Straße
unsterblich gemacht, denn hier befand sich das Bordell der dicken
Margot, in dem der Dichter zuhause war.
Weiter gingen Karine
und ich und kamen in die Rue Louis-Philippe. Dort mietete Baudelaire
eine Wohnung, der an seiner syphilitischen Ansteckung schwer litt.
Seine halbgelähmte Geliebte, die Mulattin Jeanne, die schwarze
Venus, übernahm die Unterkunft. Ihren Geliebten, der bisweilen bei
ihr wohnte, gab sie als ihren Bruder aus.
Ganz in der Nähe war
die Rue des Jardins-Saint-Paul. Dort stand ein Haus, in dem Molière
gewohnt hat, nachdem er sein Elternhaus verlassen und zum Theater
gegangen war. Er konnte hier seine Geliebte, die Schauspielerin
Madelaine Béjart, ungestört empfangen.
Nicht weit von der Rue
Louis-Philippe war die Rue Beautreillis. Dort lebte Baudelaire, der
wieder einmal keine eigene Wohnung hatte, bei seiner schwarzen Venus
Jeanne, mit der ihn eine bis in seine letzten Lebensjahre reichende
Freundschaft verband. Sie war Soubrette am Théatre du Panthéon.
ACHTER SPAZIERGANG
Hier verließ mich
Karine wegen einem andern Mann. Ich aber ging zum Quai d’Anjou. In
dem Palast der Madame Dupin sah ich Rousseau, der die Kinder der
Madame erzog. Rousseau sagte: Ich ging fast täglich zu Madame und
speiste zweimal oder dreimal die Woche bei ihr. Ihr Haus, so glänzend
wie kein anderes in Paris, versammelte Gesellschaften, die nur etwas
weniger zahlreich hätten sein müssen, um in jeder Beziehung
ausgezeichnet zu sein. Sie liebte es, alle Leute zu sehen, die Glanz
verbreiteten, die Großen, die Gelehrten, die schönen Frauen.
Voltaire gehörte zu ihrem Gesellschaftskreis und zu ihren
Tischgästen. Ihr Stiefsohn aber gab mir zu verstehen, dass Madame
meine Besuche zu häufig fand und mich bäte, sie auszusetzen. Zehn
Jahre später: Madame du Chatelet, Voltaires göttliche Emilie,
kaufte den Palast. Voltaire hatte als achtunddreißigjähriger
Philosoph die elf Jahre Jüngere kennen gelernt. Er wünschte oft,
sie wäre weniger gelehrt, ihr Geist weniger scharf und ihr Verlangen
nach Liebe unmäßig! Und vor allem, sagte er, wäre ich glücklich,
wenn sie zuweilen den Mund halten würde.
In der Rue Le
Regrattier sah ich das Haus, da Baudelaire bei seiner schwarzen Venus
wohnte. Er war ständig auf der Flucht vor seinen Gläubigern und
hatte stets gespannte Beziehungen zu seiner Familie. Damals heiß die
Straße noch Rue de la Femme-sans-Tete.
Am Quai d’Orléans
sah ich das Geburtshaus seines Sonett-Dichters, der Marie Nodier, die
Tochter eines Dichters, in seinen Sonetten anbetete.
In der Rue Cuvier sah
ich eine illustre Gesellschaft. Stendhal führte hier seinen Freund
Mérimée ein, den er bei seiner ersten Begegnung charakterisierte
als einen hässlichen kleinen Bengel mit einer aufgestülpten Nase
und bösen Augen. Mérimée dagegen erkundigte sich, wer jener dicke
Mann mit dem schwarzen Bart und den Kopf eines neapolitanischen
Schlächters sei. Sophie Duvancel, die Mérimée reizende Briefe
schrieb, war die Seele des Salons.
Zum Abschluss meines
heutigen Spaziergangs besuchte ich die Rue de Bièvre. Der Gott der
Dichter, Dante, soll sich auch in Paris aufgehalten und in dieser
Straße gewohnt haben. Er soll im Jahre 1310 nach Paris gekommen
sein, um an der Sorbonne Philosophie zu studieren.
NEUNTER SPAZIERGANG
Ich kam ins Quartier
Latin. Bereits im Mittelalter hieß das Universitätsviertel am
Seine-Ufer Quartier Latin, da sich hier die Studenten aus allen
Ländern versammelten. Es ist neben der Cité der älteste Teil von
Paris. – Hier ist der Ofen, wo das geistige Brot für die ganze
Menschheit gebacken wird!
Ich ging zum Place
Maubert. Dies ist einer der berühmtesten Plätze des Quartier Latin.
Dort hielt Albertus Magnus, der Gelehrte und Weise, seine Vorlesungen
unter freiem Himmel. Dieser Platz Maubert ist nach dem Magister
Albert benannt.
In der Rue
Saint-Honoré starb ein Märchendichter, er hinterließ so gut wie
nichts. Lediglich ein paar hundert leere Weinflaschen fand man in
seiner Wohnung.
Weiter ging ich zum
Place du Panthéon. Simone de Beauvoir, die Feministin, sagte: Ich
eröffnete meine neue Existenz damit, dass ich die Treppen der
Bibliothek Sainte-Géneviève erstieg. Dort setzte ich mich in den
Teil, der für die Leserinnen reserviert war, an einen großen
schwarzen Tisch und vertiefte mich in die menschliche Komödie. Mir
gegenüber blätterte eine Dame reiferen Alters in einem Journal. Sie
sprach halblaut vor sich hin und schimpfte manchmal. Zu jener Zeit
war der Eintritt in den Lesesaal frei, viele Verrückte flüchteten
sich dorthin. Sie hielten Selbstgespräche, summten vor sich hin, es
gab einen, der unaufhörlich hin und her ging. Es ist soweit: Ich bin
Studentin, sagte ich mir selbst. Ich trug ein kariertes Kleid und
während ich Kataloge wälzte und hin und her ging, glaubte ich,
ungeheuer reizend zu sein!
Einer sagte über den
Place du Panthéon: Ich sah die zierliche Galerie um die Kuppel,
einen scharfen Dachfirst, Säulen und Giebel, in denen die Tauben
nisteten, auch sah ich den alten Turm, in dem noch die gleiche Glocke
hing, die schon zur Zeit Villons geläutet hat, ich sah die steinerne
Rose, durch deren Verzweigungen das Licht auf Blaise Pascals Grab
fiel, ich sah Glockenstühle, eine gebaute Landschaft uralten
Zusammenlebens, auf der der Blick der heiligen Genoveva ruhte, die
nachts die still im Mondschein schlafende Stadt bewacht.
Ich kam zur Ecke der
Rue Saint-Jacques und der Rue Soufflot, dort stand ein
Dominikanerkloster, wo der engelgleiche Thomas von Aquin studierte
und lehrte und wo der weise Albertus Magnus seine Kommentare zur
Philosophie des Aristoteles schrieb.
Der kleine Raum
zwischen dem Place du Panthéon, der Rue de Cuny, dem Seine-Ufer und
dem Justizpalast umfasst das ganze Pariser Leben dieses Genius, ich
meine Francois Villon, der hinter der Kirche des heiligen Benedikt
einen Priester erstach, viele Kerker kennen lernte, Magister der
Universität von Paris wurde, im Sängerwettstreit zu Bois gewann,
auf den Landstraßen Frankreichs umherirrte, im Bordell der dicken
Margot Unterschlupf fand und schließlich spurlos verschwand. Er
starb mit dreiunddreißig Jahren. Es war zur Weihnachtszeit. Die
Wölfe wagten sich bis ans Eis der Seine. Die vielen Aufenthalte in
den eisigen Kerkern, das kraftraubende Leben in den Bordellen, der
Trunk und der Hunger hatten seinem Leben ein frühes Ende gemacht.
Der Nordwind pfiff vom Montmartre her über die gefrorene Seine. Die
Schilder der Kneipen schaukelten im Wind. Matt schimmerte die ewige
Lampe vorm Allerheiligsten...
Im Théatre du
Panthéon lernte Baudelaire die Schauspielerin Jeanne kennen, die
Mulattin, seine schwarze Venus, die mit dem Dichter bis zu seinem
Tode verbunden blieb. Ihr widmete er die schönsten Liebesgedichte
seiner Blumen des Bösen.
Ich kam zum Place de
la Sorbonne. Der engelgleiche Thomas wirkte hier, der Doctor
Universalis Albertus Magnus, Duns Scotus und viele andere Gelehrte.
Die Sorbonne-Kirche zeigt das Marmor-Grab von Kardinal Richelieu, die
trauernde Wissenschaft zu seinen Füßen.
Der katholische
Dichter Bernanos ward in der Sorbonne immatrikuliert. Im Jahre 1909
verprügelte er einen Professor, der sich abfällig über die heilige
Jeanne d’Arc geäußert hatte! Bernanos wurde zu einer Haftstrafe
verurteilt, die er im Gefängnis der Santé absaß.
ZEHNTER SPAZIERGANG
Ich kam in die Rue
Cassini. Balzac empfing hier den ersten Brief einer Frau, die sich
die Fremde nannte. Für Sie, verehrter Poet, bin ich und bleibe ich
die Fremde, schrieb sie. Aber später stellte sie sich als Komtesse
Eveline vor. 1850 heiratete Balzac die Komtesse Eveline.
Ich
kam in die Rue d’Enfer. Der Pavillon, den Chateaubriand nahe der
Stadtgrenze bewohnte, war dort. Es handelte sich damals darum, das
von Madame Chateaubriand gegründete Pflegeheim Marie-Thérèse, das
an den Pavillon grenzte, zu retten. Aus den Fenstern des Salons sah
man zuerst, was die Engländer pleasure-ground nennen, im Vordergrund
einen Rasen und etliches Gebüsch. Jenseits des Platzes lag ein Feld,
auf dem Verschiedenes angebaut wurde, das zur Ernährung des Viehs
des Pflegeheims gedacht war. Tausenderlei verschiedene Bäume umgaben
den Dichter, Magnolienbäume, Tulpenbäume, portugiesischer Lorbeer,
Rotbuchen. Der Dichter hat vierundzwanzig Salomon-Zedern gepflanzt
und eine Druiden-Eiche. Diese Bäume verspotten ihren kurzlebigen
Herrn. Eine Kastanienallee führte vom oberen zum unteren Garten. Der
Abbruch einer Mauer hatte den Dichter in Verbindung mit dem
Pflegeheim Marie-Thérèse gebracht. Er befand sich gleichzeitig in
einem Kloster, auf einem Bauernhof, in einem Weinberg und einem Park.
Später erwarb der Erzbischof von Paris das Heim. Der Dichter konnte
für den Erlös sich ein Haus in der Rue du Bac kaufen...
Weiter
ging ich und kam zum Boulevard Edgar-Qinet. Dort befand sich der
Eingang zum Montparnasse-Freidhof. Ich sah dort den Grabstein der
Schauspielerin Marie Dorval, deren Grabstein trug die Worte: Morte de
chagrin: gestorben vor Kummer!
ELFTER SPAZIERGANG
Karine kam zu mir
zurück, sie hatte unsern Knaben dabei, Mignon, meinen Pagen! Wir
gingen in den Jardin du Luxembourg. Maria von Medici erwarb das
Schloss und den Garten und beauftragte den Architekten Salomon mit
dem Bau eines neuen Palastes in Anlehnung an den florentinischen Stil
ihrer Heimat.
Rubens, der im Auftrag
Marias von Medici nach Paris kam, malte hier die Szenenfolge aus dem
Leben der Königin. Der Park, der den Palast umgibt, ist der
Treffpunkt und Lieblingsaufenthalt von Dichtern und Studenten, falls
die Laune des Fürsten den Eintritt gestattet.
Ich ging mit Karine
und Mignon zum Boulevard Saint-Michel. Flaubert lebte dort und sagte:
Wie dem auch sei, ich scheiß auf die Rechtswissenschaften! Das ist
meine Delanda Carthago.
Wir gingen in die Rue
Monsieur-le-Prince. Inmitten der Umgestaltung des Quartier Latin und
der großen Durchbrüche, welche die Originalität des alten Paris
samt allen Erinnerungen daran verwischt haben, bewahrt die Straße
Monsieur-le-Prince noch ganz den Charakter der Studentengasse.
Buchläden, Milchhandlungen, Speisehäuser, Kramläden, Trödlerbuden
wechseln einander ab bis zum Hügel von Sainte-Geneviève, und die
Studenten von ehedem mit langen, unter der Mütze hervorquellenden
Haaren.
In
der Rue Monsieur-le-Prince wohnte einst Blaise Pascal. Hier
erlebte er am 23. November 1654 nach einem Unfall seit ungefähr halb
elf abends bis ungefähr eine Stunde nach Mitternacht die Nuit de
feu, die Nacht seiner Bekehrung. Das Gedenken an diese Bekehrung
hielt er in seinem Memorial fest, das er in seinen Rock einnähte.
Rimbaud wohnte hier
auch einst. Er wohnte in der Straße Monsieur-le-Prince, wieder im
lateinischen Viertel. Er sah von seinem Dachfenster in den Garten des
Gymnasiums. Er arbeitete. Um drei Uhr morgens fing das Licht der
Kerze zu erbleichen an. Die Vögel lärmten plötzlich in den Bäumen.
Schluss mit der Arbeit! Er musste die Bäume und den Himmel
betrachten, die unter der unsagbar schönen Morgenstunde
erschauerten. Er sah in die Schlafsäle der Schule. Schon wurde auf
den Boulevards das Geräusch der Wagen laut. Er rauchte seinen Tabak
und spuckte auf die Dachziegel, denn er wohnte im Dachzimmer. Um fünf
Uhr ging er herunter, um Baguette zu kaufen. Auf den Straßen hallten
die Tritte der Arbeiter. Das ist die rechte Stunde, um sich in der
Schenke ein wenig Wein hinter die Binde zu kippen. Er kehrte zurück,
frühstückte und legte sich um sieben Uhr morgens zu Bett, wenn die
Sonne unter den Dachziegeln die Asseln hervorlockte.
Von der Rue
Monsieur-le-Prince gingen Karine, Mignon und ich zur Rue Racine. Hier
fand Rimbaud bei einem unbedeutenden Musiker eine Schlafstätte auf
dem Sofa. Hier fanden sich die Mitglieder einer literarischen
Vereinigung, zu der Rimbaud und Verlaine eingeladen waren. Immer,
wenn einer der modernen Literaten sein neues Versgestammel
vorbrachte, rief Rimbaud: Merde! So lud man bald die beiden Poeten
nicht mehr ein.
Wir gingen weiter zur
Passage du Commerce-Saint-André. Dort wohnte einst Nerval bei einem
Maler. Zu dieser Zeit begegnete er jener schönen Schauspielerin, zu
der er in leidenschaftlicher, aber unerwiderter Liebe entbrannte. Sie
wurde der Mittelpunkt seines Lebens und seiner Dichtung. Er hat sie
als Aurélia verherrlicht.
Von dort kamen wir zur
Rue du Buci. Ich widmete der Straße ein Gedicht, der Straße, die
einst so glücklich war und so stolz darauf, Straße zu sein, wie ein
junges Mädchen glücklich ist und stolz an seine schöne Nacktheit
denkt! Ach, arme Straße! Verlassen bist du in deinem Viertel, das
selber verlassen ist in der menschenleeren Stadt Paris!
Daneben lag die Rue de
Tournon. Balzac wohnte dort mit seiner Geliebten – nunc et semper
dilecta! Sie war ihm Mutter, Freundin, Familie, Gefährtin und
Ratgeberin. Er konnte dort täglich ungestört mit ihr zusammensein
und blieb ihr bis zu ihrem Tode in Liebe verbunden.
Wir gingen in die Rue
de Vaugirard. Dort vereinigte Madame de La Fayette die Geistesgrößen
ihrer Zeit in ihrem grünen Kabinett: Molière, Racine und La
Fontaine zählten zu ihren Gästen. Madames Garten war das Schönste,
was es in dieser Welt gibt, alles blüht, alles duftet. Wir haben
dort sehr viele Abende verbracht, denn die arme Frau ging nie aus.
Heine mietete sich in
dieser Straße ein Zimmer. Fragte ihn jemand, wie er sich dort
befinde, sagte er: Wie ein Fisch im Wasser. Oder eben: Wie Heine in
Paris. Es lebt sich so herrlich, es lebt sich so süß / am
Seinestrand in der Stadt Paris.
Dann gingen wir zum
Place Saint-Sulpice. Heine heiratete dort seine Mathilde. Seiner
Familie in Hamburg schrieb er: Am 31. August heirate ich Mathilde
Mirat, mit der ich mich schon länger als sechs Jahre täglich zanke!
Beim Betreten der Kirche sagte er: Ich verheirate mich bei 40 Grad
Hundtagshitze. Möge mich der allmächtige Gott stets bei gleicher
Temperatur erhalten!
Von dort gingen wir in
die Rue Cassette. Dort stand das Kloster der Ewigen Anbetung, in dem
die Mystikerin Madame Guyon lebte.
Dann führte Karine
mich und Mignon in die Rue du Cherche-Mide. Victor Hugo hatte Adèle
geheiratet, nachdem er ihr seine Liebe unter einem Kastanienbaum
gestanden hatte. Die Trauung fand in der Kirche statt. Im Verlauf der
Hochzeitsnacht hat Victor Hugo seine Frau neunmal genommen.
Dann gingen wir zum
Boulevard Saint-Germain. Diderot hatte hier gewohnt. Er hatte eine
Wäscherin geheiratet. Rousseau nannte sie eine faule und gemeine
Natur. Die Ehe war nicht von Dauer. Zehn Jahre lang währte sein
Verhältnis zu einer Kokotte, die ihn während seiner Inhaftierung
verließ. Dagegen beglückte ihn die Begegnung mit Sophie, die er als
Vierzigjähriger kennen lernte und die ihm die Treue bis zu ihrem Tod
bewahrte. Später verkaufte er seine Bücher an die Zarin Katharina
die Große, die Semiramis des Nordens. Sie bestimmte, dass er die
Bücher weiter benutzen dürfe, bis es ihr gefiele, sie zu verlangen.
Er reiste nach Russland, um ihr für ihre Großzügigkeit zu danken.
Von dort gingen wir
zum Place Saint-Germain-des-Prés. Die dortige Abtei war ein Zentrum
des geistigen Lebens. Der Mönch Abbon bezeichnete Paris als eine
Königin, die über allen Städten glänzt. Ein Domherr verfasste
eine Geschichte des Benediktinerordens und einer eine Geschichte der
Stadt Paris, ein dritter übersetzte Origenes und Johannes
Chrysostomus.
ZWÖLFTER SPAZIERGANG
Karine ging mit Mignon
und mir in die Rue des Saints-Pères. Bis zu ihrer Eheschließung
wohnte hier Julie, die als Fünfzehnjährige den dreißig Jahre
älteren Banker Récamier heiratete. Für sie schrieb Chateaubriand,
dessen Geliebte sie war, seine Geschichte der Jugend. Der Herzog von
Wellington und Metternich lagen Julie zu Füßen, Prinz August von
Preußen wollte sie zur Frau nehmen und Madame de Stael wendete ihr
eine exaltierte Freundschaft zu. Einer verlor fast den Verstand, er
machte um ihretwillen einen Trümmerhaufen aus seinem Leben. Nur
Chateaubriand, der ihr leidenschaftlich zugetan war, war in der
glücklichen Lage, dass er sie ein wenig weniger liebte als sie ihn.
Von dort gingen wir in
die Rue de Sèvres. Einst stand dort eine Wald-Abtei, die umgebaut
wurde zu einem Altersheim. Hier fand Julie eine bescheidene
Unterkunft, nachdem sie von Bankier Récamier wegen
Verschwendungssucht geschieden worden war. Hier empfing die göttliche
Julie den Prinzen August von Preußen, Lucien Bonaparte, Lamartine,
Balzac, Stendhal und andere große Männer. Chateaubriand besuchte
sie in den letzten Jahren ihres Lebens in ihrer kleinen Zelle täglich
um drei Uhr. Ein dunkler Korridor trennte zwei kleine Räume. Das
Schlafzimmer war mit einer Bibliothek ausgestattet, man sah eine
Harfe, ein Klavier, an der Wand das Porträt von Madame de Stael. An
den Fenstern standen Blumentöpfe. Wenn Chateaubriand ganz erschöpft
die drei Stockwerke hochgestiegen war, betrat er in der
Abenddämmerung die Zelle und war entzückt. Der Blick aus den
Fenstern fiel auf den Garten der Abtei, auf den grünen Rasen, auf
dem Nonnen und Pensionäre herumgingen.
Nun führte mich
Karine in die Rue du Bac. Mignon nahm mich an die Hand und führte
mich in die Kapelle. Ich sah, und siehe, was ich sah, war Unsere
Liebe Frau, ganz in ein langes weißes Kleid gehüllt, einen weißen
Schleier auf dem Haupt, aus dem die schwarzen Haare hervorquollen.
Ihr Angesicht war entzückend, sie lächelte lieblich. Sie breitete
die Arme aus und von ihren schlanken Händen flossen Strahlen der
Gnade.
DREIZEHNTER SPAZIERGANG
Nichtigkeit der
Nichtigkeiten! Alles ist nichtig! Karine ist tot! Tot ist Karine!
Mit Mignon ging ich in
die Rue Lemercier. Verlaine lebte dort mit seinen Eltern bis zum Tode
seines Vaters. Verlaine gab wegen seiner Liebe zum Rotwein das
zutiefst verhasste juristische Studium auf.
Von dort ging ich mit
Mignon in den Parc Monceau. Rousseau ging hier eines Tages spazieren
und sprang über den Graben, um Blumen zu pflücken. Die Lehrerin der
Kinder des Herzogs von Orléans spielte eben mit den Kindern im Park,
sie floh entsetzt, als sie den Eindringling sah, obwohl sie ihn
erkannt hatte. Am Tag danach erhielt der Philosoph einen Schlüssel
zum Tor des Parks mit der Erlaubnis, den Park jederzeit betreten zu
dürfen.
Nun ging ich mit
Mignon in die Rue d’Anjou. Dort lag ein Friedhof. Hier wurden die
sterblichen Überreste des Königs Ludwig XVI. und seiner
Marie-Antoinette exhumiert. Chateaubriand war zugegen bei dieser
Exhumierung auf dem Friedhof. Inmitten der Gebeine erkannte er den
Kopf der Königin durch das Lächeln, das sie ihm in Versailles
geschenkt hatte.
Weiter ging ich mit
Mignon in die Rue des Mathurins. Madame de Stael hatte Chateaubriand
und Julie Récamier zu sich eingeladen. Chateaubriand war mit Julie
einen Augenblick allein. Aus dieser Begegnung entwickelte sich die
langjährige Liebe des Dichters zur göttlichen Julie. Madame de
Stael verschied hier in ihrem eigenen Haus. August Wilhelm Schlegel,
Lehrer ihrer Kinder, weilte an ihrem Sterbebett. Chateaubriand sagte:
Madame de Stael hatte mich eingeladen, bei ihr zu Mittag zu essen.
Ich ging hin. Sie war aber nicht in ihrem Salon und konnte am Mahl
nicht teilnehmen. Ich saß neben der göttlichen Julie. Ich sah sie
nicht an, sie sah mich nicht an, wir wechselten kein Wort. Dann
sprach Julie von dem nahen Tode der Madame. Ich sah Julie in die
Augen. Dieser Augenblick war von einem Zauber, der mit den Jahren
zunimmt. Ich schiebe meine alten Tage beiseite, um dahinter eine
himmlische Erscheinung zu entdecken, um aus der Tiefe des Abgrunds
die Harmonie der glückseligen Gefilde zu vernehmen, Madame de Stael
hatte mich mit der göttlichen Julie verbunden. Sie vermachte mir von
ihrem Totenbett das Beispiel einer unsterblichen Liebe.
VIERZEHNTER SPAZIERGANG
Die Richter hatten mir
Mignon genommen! Gott segne ihn! Meine Feinde sollen ewig gepeinigt
werden in Dantes Hölle!
Ich ging einsam und
traurig zum Place Clichy. Hier wurde an einem kalten nebligen
Wintermorgen Heinrich Heine beerdigt. Ich denke mit Bitterkeit daran,
dass bei Heines Begräbnis nur neun Personen anwesend waren. O
Publikum! O Bürger! O Lumpenpack! O ihr Elenden! Es waren nur
neun deutsche Schuster bei seinem Leichenbegängnis gegenwärtig.
Weiter schlich ich in
die Rue d’Amsterdam. Die Schüler haben diesen Hof zu ihrem
Hauptquartier erwählt. Er ist ihr Spielplatz. Er ist eine Art
mittelalterlicher Platz, ein Liebeshof, ein Bettelmarkt, ein
Femegericht, wo man die Schuldigen verurteilt und das Urteil an ihnen
vollstreckt, wo von langer Hand jene Streiche vorbereitet werden, die
während des Unterrichts ausbrechen und deren Späße den Ärger der
Lehrer erregen. Denn die Knaben der dritten Klasse sind schrecklich!
Nächstes Jahr kommen sie in die vierte Klasse, wenn alles gut geht,
dann werden sie auf die Kleineren verächtlich herabsehen und sich
sehr wichtig vorkommen.
Nun schlich ich
traurig zur Avenue Frochot. Ich werde in einen kleinen Saal geführt,
dessen Decke und Wände mit alten Gobelins bezogen sind. Vor dem
Kamin sitzen zwei schwarzgekleidete Frauen, ihre gegen das Licht
gewendeten Gesichter sind schwer zu unterscheiden. Rings um Victor
Hugo, auf dem Diwan liegend, seine Freunde. In einer Ecke lässt der
dicke Sohn des Dichters zusammen mit einigen jungen Damen ein kleines
blondes Knäblein mit rotem Gürtel auf einem Schemel spielen. Victor
Hugo drückte mir die Hand und nahm dann seinen Platz vor dem Kamin
wieder ein. Im Halbschatten des altertümlichen Wohnungsplunders, an
diesem tristen Herbsttag, der durch den Rauch der Zigaretten blau
umwölkt ist, inmitten dieser Dekoration vergangener Zeiten erscheint
Victor Hugos Kopf in vollem Licht und wirkt bedeutend. Seine Haare
sind unbedeckt, schöne weiße Strähnen, wie sie an den Köpfen
Michelangelos zu sehen sind, und auf seinem Antlitz liegt eine
verzückte Gelassenheit.
Ich ging hinüber zur
Rue Frochot. Hier wohnte die Präsidentin, wie sie von ihren Freunden
genannt wurde. Baudelaire war bei ihr eingeführt worden, er
verliebte sich in die Hausfrau, die er seine Muse und Madonna nannte.
Er schenkte ihr Gedichte, die von der Zensur wegen Obszönität
verboten worden waren. Nach ihrer ersten und einzigen Liebesnacht,
die keine Erfüllung brachte, zog sich Baudelaire von ihr zurück.
Ich ging auch
enttäuscht vom Leben von allen fort und so kam ich allein in die Rue
Ravignan. Dort hatte Max Jacob ein Zimmer. Er sagte: Gott kam heute
Nacht zu mir! Der himmlische Körper erschien an der Wand meines
armseligen Zimmers. Darum hab ich, Jude von Geburt, mich zum
Katholizismus bekehrt. Ich ließ mich in der Kirche
Notre-Dame-de-Sion taufen.
Schließlich kam ich
an in der Rue de Paradis. Juliette Drouet zog aus dem Appartement,
das ihr ein Liebhaber eingerichtet hatte, in eine kleinere Wohnung in
der Rue de Paradis. Der Dichter sagte: Diese Straße hat den
richtigen Namen! Das Paradies ist für mich in dieser Straße – in
diesem Haus – in diesem Zimmer – in diesem Bett!