Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

DIE JUDEN




Ein didaktisches Poem
Von Josef Maria Mayer


PROLOG


Mein Großvater mütterlicherseits
War nicht nur ein Trinker,
Sondern auch Bürgermeister
Der Insel Baltrum
Unter den Nationalsozialisten.
Nun ist er tot
Und Gott weiß, wo er ist.
Vielleicht hat er heute noch Durst
Und fährt in mich wie ein Dämon,
In mir noch viel zu trinken.
Ich muß Buße für ihn tun.

Meine liebe Oma
Hasste den Krieg und die Nazis.
Mich aber nannte sie
In meiner Kindheit
Zerstreuten Professor
Und lamentierenden Juden.

Ich muß also von den Juden singen.
Aber ich schreibe
Nicht als Historiker,
Nicht als Theologe,
Sondern als Dichter.
Nur Narr, nur Dichter!
Sagte Friedrich Nietzsche,
Der die semitische Religion
Verachtete und die arische
Herrenrasse des Übermenschen
Pries und den Antichristen.

Wer aber in Christus ist,
Jesus, dem Messias,
Wer das Blut trinkt des Messias,
Ist Blutsbruder des Messias.
Das Heil kommt aber von den Juden,
Denn der Menschheit nach
War der Messias Jesus ein Jude.
Wer also Blutsbruder Jesu ist,
Der ist ein Jude geworden.

Darum will ich singen das Volk,
Dem Jesus entstammte,
Das jüdische Volk,
Dem Maria entstammte,
Denn schon von Kindheit an
Liebe ich das Lied:

Freue dich, Tochter Zion!
Jauchze laut, o Jungfrau Jerusalem!


ERSTER GESANG
ABRAHAM

Abraham hörte den Ruf Gottes:
Ich bin dein Gott!
Durch deinen Samen
Sollen alle Völker gesegnet werden!
Ziehe fort von deinem Vaterhaus
Und fort von deiner Heimat
Und ziehe in jenes Land,
Das ich dir zeigen werde.
Du sollst nicht mehr Abram heißen,
Sondern Abraham sollst du heißen,
Denn du sollst Vater des Glaubens sein
Und Vater vieler Völker.
Ich werde deine Kinder so zahlreich machen
Wie die Sterne am Himmel
Und den Sand am Meeresstrand.

Abrahams Vater aber
Glaubte an die silbernen und goldenen Götzen.
Abraham musste fortgehen
Von seinem Vater
Und seiner ganzen Verwandtschaft.

Er wusste, dass Gott
Ihm einen Samen schenken werde,
In dem alle Völker gesegnet werden sollen.
Aber als er ungeduldig wurde,
Weil der Same nicht kam,
Da nahm er die Ägypterin
Hagar in sein Zelt
Und schlief mit ihr
Und zeugte einen Sohn,
Ismael, den Vater der Ismaeliten.

Aber Abrahams Hauptfrau
War Sarai,
Die fortan Sarah heißen sollte,
Sarah bedeutet Fürstin.
Die Fürstin sprach zu Abraham:
Schick die Ägypterin fort!
Abraham wollte Ismael nicht verlieren
Und schrie zu Gott. Und Gott sprach:
Abraham, tu, was Sarah dir sagt!

Als Abraham hundert Jahre zählte
Und es Sarah nicht mehr ging
Nach der Frauen Weise,
Gebar Sarah dem Abraham einen Sohn,
Isaak, das Lachen Gottes!

Und Abraham liebte sehr
Den kleinen Isaak,
Das Lachen Gottes!

Aber da sprach Gott zu Abraham:
Opfere mir deinen geliebten Sohn Isaak!
Und Abraham ging,
Gott ein Opfer zu bringen.
Isaak ging an Abrahams Hand
Und sagte: Lieber Papa,
Du willst Gott ein Opfer bringen,
Aber wo ist die Opfergabe?
Und Abraham sagte: Lieber Sohn,
Gott selber wird für die Opfergabe sorgen!
Und Abraham stieg hinauf
Den heiligen Berg Morijah
Und legte den Sohn auf den Altar
Und band ihn an den Altar
Und hob sein Messer –
Isaak aufzuopfern vor Gott –
Gott! Isaaks Schrecken!

Da sah Gott,
Daß Abraham seinem Worte glaubte,
Denn Gott hatte ihm den Samen verheißen,
Und wenn Gott den Samen jetzt forderte,
Wird Gott den Samen auferwecken,
Der Same Abrahams wird leben,
In dem gesegnet werden
Alle Völker der Erde.

Nun denke dir, mein Leser,
Du bist ein Mann, der seinen Knaben liebt,
Und Gott spricht zu dir:
Gib deinen Knaben auf!
Und Gott prüft dich so,
Ob du Gott in allem gehorchst,
Und du opferst deinen Knaben
Und dein brechendes Herz dazu
Und die Trauer des Knaben dazu.
Das alles legst du
Auf dem Berg Morijah
Auf den Ganzbrandopferaltar!

Wird Gott das Lamm erscheinen lassen,
Wird Gott selber den eigenen Sohn
Vom Herzen sich reißen
Und opfern den Sohn
Und mit dem Sohn sich selber?

Und wirst du, mein Leser,
Du Vater, der du deinen Liebling geopfert,
Eins werden mit Gottvater,
Der sein göttliches Kind geopfert?

Das ist der Gott,
Den wir voll Ehrfurcht anbeten,
Isaaks Schrecken!


ZWEITER GESANG
DIE KINDER ISRAEL

Jakob kam an den Brunnen
Und Rahel kam an den Brunnen
Und Jakob sah Rahel
Und Jakob küsste Rahel,
Herzte, liebkoste Rahel.

Jakob bat den Vater der Geliebten:
Gib mir Rahel zur Braut!
Da sprach der Vater der Geliebten:
Diene mir sieben Jahre
Und weide meine Schafe,
Weide meine Schafe
Und weide meine Lämmer!

Und Jakob diente sieben Jahre
Und verzehrte sich nach Rahel,
Verzehrte sich sieben Jahre nach Rahel!
Am Ende der sieben Jahre
Führte der Vater der Geliebten
Die Verschleierte
In Jakobs Zelt zur Hochzeitsnacht.

Nach der Hochzeitsnacht
Am frischen Morgen
Sah Jakob seine Braut an:
Es war nicht Rahel,
Es war Lea, die ältere Schwester.

Rahel hatte schöne leuchtende Augen,
Lea hatte matte Augen,
Aber Lea hatte große Brüste.

Der Vater der Geliebten sprach:
Jakob, mein Sohn,
Wenn du immer noch Rahel willst,
So diene mir wieder sieben Jahre!

Und nach den sieben schmerzlichen Jahren
Diente Jakob wieder sieben schmerzliche Jahre,
Verzehrte sich schmerzlich nach Rahel,
Verzehrte sich vierzehn Jahre!

Am Ende der vierzehn Jahre
Gab der Vater der Geliebten
Dem Jakob die Rahel.

Und Jakob liebte Rahel mehr
Als Lea, die ältere Schwester.

Aber Lea gebar
Dem Jakob
Zehn Söhne.

Schließlich gebar auch Rahel
Dem Jakob einen Sohn,
Den Liebling des Vaters: Josef.

Josef war ein Träumer,
Josef träumte prophetisch,
Josef las das Kommende
Aus seinem Becher.

Josef war der Liebling des Vaters,
Er trug einen bunten Rock.
Die andern Brüder waren neidisch
Auf den schönen Josef,
Denn Josef war der Liebling des Vaters.

Aber Rahel ward zum zweitenmal schwanger,
Es war nahe bei Bethlehem,
Da hatte sie schmerzliche Wehen
Und gebar ein Kind,
Das nannte sie:
Kind meiner Schmerzen!
Aber Jakob sah den Kleinen
Und nannte das Kind:
Du Kind meiner Freude!

Dieses Kind war Jakobs Wonne,
Aber Rahels Tod,
Denn sie starb bei der Geburt.

Jakob begrub sie bei Bethlehem
Und stellte einen Denkstein
Auf ihr blühendes Grab.

Aber Rahel ist nicht tot!
Sie schläft nur!
Rahel weint noch heute,
Rahel weint um ihre Kinder
Und kann sich nicht trösten,
Denn ihre Kinder sind
Hinweggeführt in die Verbannung!

Aber Gott spricht zu Rahel:
Weine nicht mehr
Um deine Kinder,
Denn es gibt eine Hoffnung für sie!
Es gibt eine Hoffnung für Josef!
Es gibt eine Hoffnung für Benoni!
Es gibt eine Hoffnung für Benjamin!


DRITTER GESANG
MOSES UND DIE TORAH

Moses stieg auf den Sinai
Und fastete vierzig Tage
Und war in der goldenen Wolke
Und schaute den Rücken des Herrn.

Mirjam und Aaron
Hatten Träume und Visionen,
Aber Mose sah den Herrn
Und Gott sprach mit Mose,
Wie ein Mann mit seinem Freunde spricht.

Und Mose sah, und siehe,
Im Anbeginn der Schöpfung,
Vor aller Zeit,
Bevor der Raum sich entfaltete,
War der rechte Arm des Herrn entblößt
Und auf dem rechten Arm des Herrn
Stand der Name des Messias:
Jahwe-ist-unsere-Hilfe!

Und Mose sah den Himmel offen
Und sah im Himmel eine Stadt,
Das war Jerusalem,
Die Stadt des Friedens.
Ihre Mauern waren von Jaspis,
Ihre Straßen aus goldenem Glas,
Ihre Tore aus Perlen,
Ihre Wohnungen aus Edelsteinen.

Und Mose sah den Himmel offen
Und sah im Himmel eine Buchrolle,
Das war die ewige Torah,
Sie begann mit dem Buchstaben A.

Und Gott der Herr plante,
Die Schöpfung zu schaffen,
Die unsichtbare und die sichtbare Welt,
Die Engel und die Menschen,
Mann und Frau.

Da schaute Gott der Herr
In die himmlische Buchrolle,
In die ewige Torah,
Und nach dem Urbild der Torah
Schuf Gott die Bilder aller Dinge.

Und Gott sprach zu Mose:
Haue dir zwei steinerne Tafeln,
Und ich will mit meinem Finger
Auf die Tafeln schreiben
Die irdische Torah.

Und Mose tat, wie der Herr ihm geboten,
Und Gott gab die irdische Torah
Moses und den Kindern Israel.
Und die irdische Torah
Beginnt mit dem Buchstaben B,
Bereschit, beginnend,
In dem Urprinzip
Schuf Gott den Himmel und die Erde.

Aber die Kinder Israel
Am Fuße des Sinai
Waren voll Ungeduld,
Weil Moses nicht zurückkam.
Sie wollten Gott danken,
Daß Gott sie erlöst
Von der Sklaverei in Ägypten,
Und sie wollten ein Bild von Gott,
Wie auch die Ägypter
Ihre Götterbilder verehren.
Und so machten die Kinder Israel
Die Statue einer goldenen Kuh,
Die zwischen den Hörnern
Den Neumond trägt,
Die mit ihrem prallen Euter
Die Kinder Israel ernährt.
Die Kinder Israel sagten nämlich:
Keiner hat Gott je gesehen,
Aber wir denken uns Gott
Wie eine Himmelskuh.

Und die Israeliten tanzten,
Sie schlugen die Zimbeln,
Sie schlugen die klingenden Zimbeln,
Sie tanzten Schleiertänze
Vor der heiligen Kuh.

Da kam Mose vom Berg herunter
Mit der Torah
Und sah die Israeliten tanzen
Um ihre heilige Kuh.

Da ward Moses zornig
Und er zerschmetterte die steinernen Tafeln.

Aber Gott war langmütig und geduldig
Und gab den Kindern Israel
Zum zweiten Mal die Weisung,
Die irdische Torah.


VIERTER GESANG
DIE KÖNIGE

König Saul war sehr geplagt
Vom Dämon der Melancholie.
Da hörte er vom jungen David,
Daß der sehr schön die Harfe strich
Und trostreiche Lieder sang,
So ließ er den jungen David kommen.
Und David spielte vor ihm
Auf seinem Saitenspiel
Und wenn der Liebling der Lieder Israels
Seine gedichteten Psalmen psalmodierte,
Wich der Dämon der Melancholie
Vom schwer geplagten König Saul.

David aber liebte
Den Prinzen Jonathan
Mehr, als er je ein Weib geliebt.
Und Jonathan liebte
David wie sein eigenes Leben.
Jonathans Vater aber
War eifersüchtig auf David,
Denn alle Weiber riefen:
Saul hat tausend Philister erschlagen,
David aber zehntausend!
Da wollte der besessene Vater
Des Sohnes Liebling töten.
Jonathan aber schloß einen Pakt
Mit dem gesalbten David.

David floh vor König Saul
In die Berge und sammelte
Vierhundert Männer um sich,
Die arm und elend waren
Und verbitterten Herzens.

Saul aber zog in den Krieg
Und kämpfte gegen die Philister
Und verlor den Krieg
Und brachte sich selber um!
Jonathan war auch gefallen im Krieg!
Da dichtete David ein Klagelied:

Sagt es nicht den Töchtern der Unbeschnittnen,
Daß Saul und Jonathan gefallen sind!
Weint, ihr Berge von Gilboa!
Saul war wie ein brüllender Löwe,
Er gab den Töchtern der Israeliten
Schöne Kleider und schönen Schmuck,
Jonathan war wie ein Adler!
Weh mir, mein Jonathan,
Deine Liebe war mir lieblicher
Als Frauenliebe!

Als David König geworden,
Erging er sich auf dem Dach seines Hauses
Und sah die Nachbarin
Bathseba nackt sich baden!
Da rief er sie,
Er beschlief sie,
Sie wurde schwanger,
Aber sie war vermählt mit einem Heiden,
Den schickte David in die Hölle!

Da ergrimmte Gott
Und ließ Bathsebas Kind sterben.
Als es krank lag und mit dem Tode rang,
Da fastete David,
Tat Buße in Sack und Asche,
Aber als es gestorben war,
Da aß er und trank einen Becher Wein.

Und Bathseba wurde schwanger
Und gebar den kleinen Salomo.
Er ward zur Erziehung
Dem weisen Propheten Nathan anvertraut.
Nathan nannte Salomo
Jedidja, Geliebter Gottes!

Und Salomo wurde König
Und Mutter Bathseba
War die Mutter des Königs
Und Salomo stellte
Den Thron der Königinmutter
Zur Rechten des Thrones des Königs.

Und Salomo bat den Herrn
Um Weisheit.
Und Gott gefiel die Bitte
Und er gab Salomo Weisheit,
Größer war Salomos Weisheit
Als die Weisheit der Weisen des Ostens,
Als die Weisheit der Weisen Ägyptens.

Denn Salomo liebte die Weisheit
Und liebte ihre Schönheit
Und suchte sie zu gewinnen
Als Braut und Lebensgefährtin
Und mit ihr zu leben
In einer geistlichen, aber wirklichen Ehe,
Das ist Torheit den Kindern der Welt,
Aber Weisheit den Eingeweihten.

Und die Weisheit
Als die Architektin des Kosmos
Inspirierte Salomo,
Den Tempel des Herrn zu bauen.


FÜNFTER GESANG
DIE PROPHETEN

Hosea, der Prophet,
Nach Gottes Willen
Nahm sich eine Hure,
Eine Tempelprostituierte
Der sakralen Prostitution,
Zur Ehefrau
Und zeugte Kinder mit ihr:
Jesreel, Gott sät ein,
Lo-Ruchama, Kein Erbarmen,
Lo-Ammi, Nicht mein Volk.
Doch eines Tages wird Lo-Ammi
Ammi genannt, Mein Volk,
Und Ammi wird sagen: Mein Vater und Gott!
Und Gott führt Israel
In die Wüste,
Verlockt die Hure Israel
Und wird sich mit ihr verloben,
Da wird die Hure Israel
Nicht mehr sagen: O Baal!
Sondern: Mein Bräutigam Jahwe!

Jahwe der Bräutigam
Hatte zwei Huren lieb,
Jerusalem war die eine Hure,
Samaria war die andere Hure.
Beide Huren hurten
In ihrer Jugend
Mit den Ägyptern
Und mit den Chaldäern
Und ließen sich betatschen
Ihre Zitzen
Und spreizten ihre Beine
Jedem Buhlen
Und öffneten ihre Köcher
Jedem Pfeil.

Der Hure gibt man Geld,
Daß man sie beschlafen darf,
Israel, die Hure,
Gab ihren Freiern Geld,
Damit sie mit ihr schlafen.

Aber der Prophet
Richtet die Huren
Wie Ehebrecherinnen
Und Kindsmörderinnen
Und Zauberinnen!

Wenn ein Mann eine Frau verstoßen
Und sie sich einen andern Mann genommen,
Will sie zu ihrem ersten Mann zurück,
Wird der sie wieder nehmen?
Und Jahwe soll Israel wieder nehmen,
Die mit Baal gehurt?

Aber freue dich, Tochter Zion,
Dein König kommt zu dir
Sanftmütig,
Reitend auf einem jungen Eselshengste,
Dem Füllen einer Eselin.

Die Tochter Zion
Wird zur Freudenbotin
Mit nackten Füßen,
Sie ruft von den Bergen:
Dein Gott ist König!

Ihr werdet getröstet werden
An den Brüsten Jerusalems,
An den prallen Mutterbrüsten,
Und saugen werdet ihr
Die Milch des Trostes
Aus den glänzenden Brüsten
Jerusalems und sitzen
Werdet ihr auf dem Schoß
Der Mutter Jerusalem,
Denn Gott wird euch trösten
Wie eine liebende Mutter
Ihren Sohn tröstet.

Aber wer ist der Knecht Gottes?
Er war nicht schön,
Wir hatten keinen Gefallen
An seinem Aussehn,
Sondern geschlagen war er
Und wir meinten,
Er wäre von Gott gestraft.
Aber durch seine Wunden
Sind wir geheilt
Und Gott hat unsre Sünden
Auf seine Schultern gelegt.

Mein Gott, mein Gott,
Wozu hast du mich verlassen?
Ein Wurm bin ich, kein Mensch mehr,
Sie durchstechen meine Seite
Und würfeln um mein Kleid!
Zu den Verbrechern bin ich gerechnet
Und begraben bei den Verbrechern.
Aber Gott wird nicht zulassen,
Daß sein Heiliger die Verwesung sehe.

Der Herr sprach zu meinem Herrn:
Setze dich zu meiner Rechten,
Bis ich alle deine Feinde
Zum Schemel deiner Füße mache!

Wie ein Kind in den Armen seiner Mutter,
Wie ein gestilltes Kind
An den Brüsten seiner Mutter,
Ist meine Seele bei Israels Gott!


SECHSTER GESANG
DIE ZEIT JESU

Die Gemeinde der Essener
Lebte am Toten Meer
In strenger Askese.
Sie schrieben die Heiligen Schriften ab
Und schrieben eigene Psalmen,
Sie beteten viel
Und fasteten streng
Und nahmen Reinigungsbäder,
Hatten eigene Taufzeremonien.
Sie warteten
Auf den Messias,
Den aaronitischen Messias,
Den Hohepriester und Propheten,
Den davidischen Messias,
Den König Israels.
Sie nahmen in ihre Gemeinschaft
Keine Krüppel auf,
Keine Blinden und Tauben und Stummen,
Denn David hasste die Krüppel,
Seit er die Stadt der Jebusiter erobert,
Die Burg Zion.

Johannes der Täufer
Lebte in der Wüste,
War die Stimme eines Predigers,
Der dem Herrn den Weg bereitete
In der Wüste, in der Einöde.
Er fastete streng
Und betete viel
Und trank keinen Wein.

Möglicherweise, man weiß das nicht genau,
War Johannes der Täufer auch
Bei den Essenern gewesen.

Diese bewahrten ihre Schriftrollen
In Tonkrügen auf,
Verborgen in Felsenhöhlen
In Qumran am Toten Meer.

Ein arabischer Hirtenknabe
Suchte sein verlorenes Schaf
Zweitausend Jahre später
Und kam an eine Felsenhöhle
Und warf einen Stein in die Höhle,
Um die Raubtiere zu erschrecken,
Und hörte den Klang,
Wie der Stein auf einen Tonkrug fiel,
So fand der arabische Knabe
Die Schriftrollen der Essener
In Qumran am Toten Meer.

Die Gruppe der Sadduzäer
Glaubte nicht an die Engel
Und nicht an die Auferstehung.
Sie waren die Epikuräer Israels,
Sie fragten darum
Jesus von Nazareth:

Eine Frau hatte sieben Männer,
Einen nach dem andern,
Ganz nach dem Gesetz,
Aber in der Auferstehung der Toten,
Mit welchem Mann wird sie verheiratet sein?

Jesus sagte: Ihr irrt euch,
In der Auferstehung der Toten
Werden die Menschen nicht mehr heiraten,
Sondern wie Engel sein.
Der Gott Abrahams,
Der Gott Isaaks,
Der Gott Jakobs
Ist nicht ein Gott der Toten,
Ihm leben sie alle.

Die Pharisäer hatten strenge Gesetze.
Saul war ein strenger Pharisäer,
Saul von Tarsus, ein Schüler
Des Rabbi Gamaliel.
Er hörte von der neuen Sekte
Des neuen Weges,
Diese Menschen glaubten,
Jesus von Nazareth
Sei der Messias
Und sei auferstanden von den Toten.

Saul von Tarsus, der strenge Pharisäer,
Verfolgte die Judenchristen,
Bis nach Damaskus verfolgte er
Die Sekte des neuen Weges,
Bis ihm vor Damaskus
Der auferstandene Jesus begegnete
Und sagte: Saul, o Saul,
Was verfolgst du mich?

Da glaubte Saul von Tarsus,
Daß Jesus von Nazareth
Der Messias Israels sei,
Der König der Juden
Und Retter aller Völker,
Und Paulus ging und predigte
Sein Evangelium von der Gnade allen Völkern.


SIEBENTER GESANG
DER TALMUD

Titus, der Kaiser von Rom,
Ritt nach Jerusalem
Und ritt in den Tempel Gottes
Und entweihte den Tempel
Und zerstörte den Tempel.

Da riefen die Juden:
Gott wird sich rächen
Am heidnischen Kaiser!

Titus dachte: Ihr Götter,
Der Gott Israels
Ist ein Gott der Berge.
Wenn ich in den Bergen
Kämpfe gegen den Gott,
So wird der Gott der Berge
Mich besiegen, mich,
Den Gottkaiser Roms.

Aber wenn ich am Meere
Bleibe und reise
Übers Wasser nach Rom,
So bin ich sicher
Vor Israels Gott,
Der ein Gott der Berge ist
Und nicht ein Gott des Meeres.

Und Titus stand am Meer,
Da kam vom Meer
Auf Gottes Befehl
Eine Möwe geflogen
Mit eisernem Schnabel
Und hackte mit dem Schnabel
Titus ein Loch in den Kopf
Und legte ein eisernes Möwen-Ei
In des Kaisers Kopf.

Und das eiserne Möwen-Ei
Im Kopf des Kaisers wuchs,
Kopfschmerzen hatte der Kaiser
Und ihm ward übel,
Er musste speien,
Konnte nichts mehr essen,
Hatte Todesangst
Und starb!

Gott lässt sich nicht spotten,
Ihr Heiden, ihr Stolzen,
Gottes Rache ist unerbittlich!

Aber die Rabbis suchten
Die Weisheit Gottes
In der Heiligen Schrift.

Der weise Salomo sagte:
Mein Sohn, ergötze dich
An deiner jungen Geliebten,
Sie ist reizend wie eine Hirschkuh!

Da sagte ein Rabbi zum andern:
Die Geliebte des Schriftgelehrten
Ist doch die Torah?
Warum vergleicht der weise Salomo
Die Jungfrau Torah
Mit einer Hirschkuh?

Da sagte der andre Rabbi:
Salomo kannte die Art der Tiere,
Er wusste, dass die Hirschkuh
Eine enge Scheide hat.

Die Jungfrau Torah
Ist reizend wie die Hirschkuh,
Die eine enge Scheide hat,
Denn ob auch der Weise
Die Jungfrau Torah geheiratet hat
In seiner Jugend,
Und ob er sie oft studiert
Und viel Erkenntnisse schon gewonnen hat,
So bleibt die Jungfrau Torah
Doch alle Tage der Ehe
Enggebaut wie eine Jungfrau.
Der Weise verliert nie die Lust,
Sich mit ihr zu beschäftigen,
Und selbst wenn er fünfzig Jahre alt ist,
Die Jungfrau Torah
Ist an der Scheide noch so eng
Wie eine siebzehnjährige Jungfrau.
Nie verliert sie ihren Reiz für ihn.

Da sagte der erste Rabbi:
Wie anders unsre Eheweiber!
Unmöglich sind die Kinder
Unsrer Eheweiber von uns,
Denn wir Rabbis von fünfzig Jahren
Haben so dicke Bäuche
Und unsre Eheweiber
Haben so dicke Bäuche,
Die Matronen,
Unsre Geschlechtsorgane
Können sich gar nicht vereinigen,
Die dicken Bäuche stehen dagegen.


ACHTER GESANG
DIE SCHECHINAH DER RABBINEN

Als Adam im Garten war
Allein mit den Blumen und Tieren
Und Evchen noch nicht erschaffen
Aus des Mannes Flanke,
Da war Schechinah schon
Als Jungfrau-Braut bei Adam.

Als die Mutter der Lebendigen
Den dritten Sohn geboren,
Gab Adam seinem Sohne Seth
Jenseits von Eden
Kunde von der Schechinah,
Der Matrone.

Schechinah gebot
Dem Vater Noah,
Die Arche zu bauen,
Ob ihn auch alle verspotteten,
Vater Noah allein
Gehorchte der Jungfrau.

Als Abraham die Heimat verließ
Und fortging von Ur in Chaldäa,
Den Vater verließ, den Götzendiener,
Seine Familie verließ, die Götzendiener,
Führte ihn Schechinah
In das verheißene Land.
Als Abraham betete
Unter der Eiche More,
Sagte die Jungfrau Matronita:
Dieses Land will ich dir geben.

Als Jakob in Bethel war,
Einst hieß es Lus,
Da legte er sein Haupt
Auf einen Stein
Und träumte von der Himmelstreppe
Und an der Spitze der Treppe
Sah er die Jungfrau Schechinah.
Aber Jakob war schwach,
Er liebte nicht die Jungfrau allein,
Er nahm sich zwei Weiber.

Als Josef floh
Vor Potiphars Weib,
Dem geilen Luder,
Und im Gefängnis war,
Da lehrte ihn Schechinah,
Träume zu deuten.
Und Josef deutete
Pharaos Träume
Und ward Wesir von Ägypten
Dank Schechinahs Gnade.

Wenn Moses in die Stiftshütte trat,
Wenn er ins Offenbarungszelt ging,
Dann sprach die Jungfrau Schechinah
Mit Moses von Antlitz zu Antlitz,
Dann erst trat Moses zum Volk
Und trug die Kinder Israel
Wie eine Amme das Kindlein trägt.

David liebte erst Jungfrau Michal,
Dann Abigail vom Karmel
Und auch Ahinoam von Jesreel,
Dann begehrte er Bathseba,
Die er nackt im Bade sah,
Zuletzt verlangte ihn
Nach einem schönen jungen Mädchen,
Abischag von Schunem.
Aber seine Psalmen sang
Er durch den inspirierenden Kuß
Der Jungfrau Schechinah.

Salomo gewann
Die himmlische Jungfrau lieb,
Verliebte sich in ihre Schönheit,
Und suchte sie als Braut heimzuführen.
Er führte eine geistliche,
Aber wirkliche Ehe mit ihr,
Der himmlischen Jungfrau Schechinah.

Vater Elia wollte nicht mehr leben,
Weil Isebel ihn plagte, das Biest,
Da bat er Gott um seinen Tod,
Doch ein Engel stärkte ihn
Mit Brot und Wein
Und kraft dieser Speise der Engel
Ging der Vater Elia vierzig Tage
Durch die Wüste
Zum Gottesberge Horeb,
Wo er wie sanft verschwebendes Schweigen
Die Stimme der Schechinah hörte.

Die Kinder Israel
Sind verstreut in hundert Länder,
In Verbannung
Und unterdrückt von den Heiden,
Aber bei Israel im Exil
Ist die Jungfrau Schechinah,
Die himmlische Matrone,
Sie führt Israel
In die Heimat,
Dort wird Jahwe sein Gott sein
Und Israel Jahwes Volk.


NEUNTER GESANG
RABBI MOYSES (MAIMONIDES)

Die Philosophie des Aristoteles
War gekommen zu den Arabern,
Avicenna und Averrhoes
Versuchten zu vereinen
Den Koran und Aristoteles.

Rabbi Moyses,
Wie der engelgleiche Thomas ihn nannte,
Maimonides versuchte zu vereinen
Das Gesetz Mosis und Aristoteles.

Denn wenn die Heilige Schrift
Von Gott spricht,
So redet sie von Gottes Arm,
Von Gottes Mutterschoß,
Von Gottes Herzen,
Von Gottes Finger,
Vom Alten der Tage
Mit schneeweißem Haar
Und schneeweißem Bart.

Aber das sind menschliche Bilder.
Der Schöpfergott,
Der Ursprung aller Dinge,
Ist doch kein Mann!

Wie wäre es auch denkbar,
Daß Gott, der Herrscher und Vater,
Einen schneeweißen Bart hat
Und Mutterschöße voll Barmherzigkeit?

Klären wir den Begriff von Gott!
Was sagt die Philosophie?
Alles sich Bewegende
Geht auf eine Ursache zurück,
Die es bewegt,
Und aller Ursachen Erstursache
Ist der Erstbeweger,
Der unbewegte Erstbeweger,
Die Erstursache aller Dinge,
Die nennen wir Gott.

Gott ist der Anfang
Und das Ende aller Dinge,
Zielursache alles Lebendigen.

Gott ist reiner Geist,
Als reiner Geist ist Gott das Denken.
Was aber denkt der denkende Gott?
Der denkende Gott denkt Gott,
Und so ist Gott auch das Gedachte.
Wie denkt aber der denkende Gott
An den gedachten Gott?
Das Denken selber ist Gott.
Und so ist Gott dreifaltig:
Der Denker, das Gedachte und das Denken.

Aber Gott ist,
So sagt die Offenbarung,
Israels Gott,
Der das Elend seines Volkes sieht,
Das Schreien seines Volkes hört,
Der Gott, der Gebet erhört,
Der rettende Gott,
Der befreiende Gott.

Nun ist aber der Allerhöchste,
Die transzendente Gottheit,
Über allem Seienden,
Die Über-Seiende Gottheit,
Jenseits aller Schöpfung.
Wie kann das Geschöpf
Aus Seele, Fleisch und Blut,
Mit der reinen Transzendenz
Kommunizieren als mit einem Du?

Da bedarf es eines Mittlers!

Gott wohnt in unzugänglichem Licht,
Wer kann es wagen, zu ihm zu treten?
Da bedarf es des Mittlers!

Jahwe selbst ist unzugänglich,
Aber Gottes Qualitäten,
Gottes Hypostasen,
Seine Selbstoffenbarungen
Als Weisheit, Barmherzigkeit,
Gerechtigkeit und Treue,
Wahrheit und Gnade
Und Herrlichkeit
Sind dem Frommen zugänglich.

Darum wagen wir es nicht,
Zu Jahwe zu treten,
Sondern rufen an
Die göttliche Weisheit,
Die uns Mittlerin ist zu Gott,
Dem reinen Geist.


ZEHNTER GESANG
DIE KABBALA

Mein Prinz,
Engel des Antlitzes Gottes,
Herr der himmlischen Heerscharen,
Fürst der Engel!

(Deinen Namen darf ich nicht nennen.)

Aber ich sah dich
In der Krone des Lebensbaumes,
Du Fürst der Weisheit
Und König der Vernunft,
Ich sah dich, und siehe, was ich sah,
War ein Knabe
Von göttlicher Schönheit!

Im Himmel ist
Eine mystische Rose,
Spirale von Licht,
Da lachen die Cherubini,
Da glühen die Seraphinen,
Da tanzen die Engel.

In der Spirale des Lichts
Versammelt der Prinz
Alle Kinder,
Die im Mutterschoß gestorben sind.

Mein Prinz,
Führer der himmlischen Heere,
Michael ist dein Freund,
Du sammelst die Kinder,
Die auf Erden nicht leben durften.

Fromme Frau, du weinst,
Weil Gott dir kein Kindlein geschenkt?
Erhebe dein Haupt
Und schau in den Himmel,
Mein Prinz versammelt dort
Im himmlischen Apfelgartenparadies
Die ungeborenen Kinder alle
Zu einem unermesslichen Fest.

Mein Prinz, du holder Knabe
Im lockigen Haar,
Du bist so sehr wie Gott,
Daß man dich Sohn Gottes nennen darf.

Gott hat noch kein Mensch gesehen,
Aber der Prinz offenbart sich
Wem er will,
Der Engel des Antlitzes Gottes,
Und wer reinen Herzens ist
Wie kleine Kinder,
Der darf den göttlichen Knaben schauen.

Michael, Gabriel und Raphael
Stehen in seinen Diensten,
Die Gotteslöwen gehorchen ihm,
Die Morgensterne jauchzen ihm,
Die Engel der mystischen Rose
Tanzen um ihn
Den Hochzeitsreigen von Mahanajim.

Oh, ich habe dich schon immer geliebt,
Dein Name ist mir süß wie Honig,
Dein Name ist süß wie die Idee des Honigs.

Manche Schriftgelehrten sagen,
Du seiest Beelzebub,
Doch das glaube ich nicht.

Du bist doch der Engel des Antlitzes Gottes,
Und wer dich schaut, mein Knabe,
Der schaut das Antlitz Gottes!

(Soll ich dich Penuel nennen,
Um deinen Namen zu verschweigen?)

Ich habe dich geschaut
In der Krone des Lebensbaumes,
Deine Augen wie der Himmel,
Deine Locken wie die Sonne,
Deine Glieder wie Marmorsäulen
Auf goldenen Sockeln.

Du bist der Apfelbaum
Unter den Bäumen des Waldes.

Ach, ich bin krank vor Liebe!
Stärke mich mit Äpfeln,
Stärke mich mit Rosinenkuchen!

Mein Prinz, strecke aus dein Zepter,
Tritt ein für die Gerechtigkeit!
Vor deinen Pfeilen fallen die Feinde Gottes!
Mein Prinz, mein heimlicher Kaiser,
Dein Thron ist ein göttlicher Thron!

Siehe, die Väter wird man vergessen,
An ihre Stelle treten die Söhne.


ELFTER GESANG
HEINRICH HEINE

Ich war einmal Protestant
Und protestierte viel
Und lernte bei Hegel,
Wie der Mensch den Gott erlöst,
Und lernte bei Marx,
Wie die Armen das Paradies erkämpfen.

Aber schließlich kam ich zum Glauben.
Da kniete ich in Paris
Vor Unsrer Lieben Frau von Milo
Und nahm weinend Abschied
Von der schönen Frau Venus:
Adieu, Frau Venus,
Dein Minnesänger
Zieht nun nach Rom zum Papst!

Da ich Christ geworden,
Ward ich ein besserer Jude.

Ich sah den armen Israel,
Die ganze Woche lebte er
Ganz arm und elend,
Aber am Freitagabend
Zündete er die Kerzen an,
Dann verwandelte sich
Der arme Sklave Israel
In einen herrlichen Prinzen,
Denn am Sabbat kam
Zu ihm Prinzessin Sabbath!

Ja, ein Minnesänger
War ich immer noch,
Doch ich sang nicht mehr die stolze
Donna Elvira mit dem harten Herzen,
Sondern ich singe
Die Prinzessin Sabbath,
Besinge ihr Feiertagskleid,
Ihre koschere Tafel,
Ihren koscheren Wein vom Karmel,
Und fühle die Sehnsucht
Der Prinzessin Sabbat,
Die immer schaut,
Ob heute wohl
Der Messias zu ihr kommt?

Man redet viel
Von Dante und Petrarca,
Von Goethe und mir
Und unserm Frauendienst.
Aber wer kennt schon
Jehuda ben Halevi?

Seine Dame,
Die er nur einmal im Leben sah,
War die Jungfrau Jerusalem,
Sie war die Madonna,
Die er mit Versen verherrlichte.

Auch von Salomon ibn Gabriol
Hab ich gelernt,
Dieser jüdischen Nachtigall,
Seine mystische Rose
War das Herz des Herrn!

Ich war auch in Spanien
Bei Donna Isabella,
Der allerkatholischsten Donna,
Die eingeladen hatte
Zu einem heilignüchternen Symposium
Die Brüder des heiligen Franz
Und die Rabbis der Synagoge,
Wer der wahre Gott sei,
Der Gott Israels, der Gott der Rache,
Der Vater Jesu, der Liebesgott?
Aber sie bewarfen einander
Nur mit Schmutz,
Daß Donna Isabella sagte:
Die Mönche und die Rabbis
Haben eines gemeinsam:
Sie stinken!

Aber kennt ihr auch
Den armen Poeten Lazarus,
Den Jesus schon sah
Im Schoße Abrahams,
Der doch lange krank lag
In seiner Matratzengruft
Zwischen Läusen und Flöhen
Und Mäusen und Ratten
Und dem die Hündinnen leckten
Seine Wunden am Leib?

Dieser arme Lazarus,
Wehe mir, der bin ich,
Und sehne mich
Nach Abrahams Schoß,
Oder, will ich lieber sagen,
Nach Unsrer Lieben Frauen Schoß!


ZWÖLFTER GESANG
ELSE LASKER-SCHÜLER

Ich bin Jussuf,
Prinz Jussuf von Ägypten,
Der verraten wurde
Und verkauft
Von seinen Brüdern.

In meiner Jugend
Wandelte ich
Mit Sankt Petrus,
Dem Propheten,
Und ich schrieb
Die Bibel über Sankt Petrus.

Mein Urgroßvater
War Rabbi der Synagoge,
Sein Freund war
Mufti der Moschee,
Und sie stritten
Über Religion,
Wer der wahre Gott sei,
Jehowah
Oder Allah?

Ich stritt auch über Religion
Mit Martin Luther,
Aber immer wie Brüder,
Ich hatte ihn lieb.

Ich kannte auch
Die barmherzige Maria,
Die die gefallenen Mädchen
Und ihre Leibesfrüchte
Aufnahm, pflegte,
Kein gefallenes Mädchen verstieß,
Mutter aller Kinder war.
Und ich beneidete
Diese gefallenen Mädchen
Und ihre kleinen Kinder
Wegen dieser Mutter
Mit den sieben Schwertern im Herzen.
O Maria!

Ja, ich sang Maria
Von Nazareth ein Lied,
Dem großen Himmel
Im reizenden blauen Kleidchen!

Man sagte von mir:
Sie mag den Paulus nicht.
Aber der Rabbi Jesus,
Jesus Christus von Nazareth,
Den sah ich einmal im Traum.
Er sagte zu mir:
Jerusalem ist nicht verloren!

Ich war Jude
Nicht der Juden wegen,
Sondern Gottes wegen.

Ich wurde verfolgt
Von den Hakenkreuzlern
Und floh aus Deutschland.

Ich floh nach Palästina.
O, das Hebräerland
Ist Gottes Geliebte,
Seine heilige Braut!

Ich sah auch Goethes Faust
Mit dem Teufel Mephistopheles
In die Hölle fahren
Und sah in der Hölle
Den Teufel Hitler.

Ich bin gestorben
In Jerusalem
Und liege begraben
Am Fuße des Ölbergs.

Ein Mensch der Liebe nur
Wird auferstehen.
Wer viel von Liebe zu sagen weiß,
Dem wird die Auferstehung.

Nun werde ich bewahrt
Am Fuße des Ölbergs,
Bis mein Wein gegärt,
Dann werde ich auferstehen!

O mein Gott mein, du allein!


DREIZEHNTER GESANG
EDITH STEIN
(TERESIA BENEDICTA A CRUCE)

Ich habe immer Pessach gefeiert
Und die Fasten gehalten.

Ich habe den toten Vater geehrt
Mit meinen Totenkerzen.

Ich habe gelernt und gelernt
Wie keine andre Frau.

Ich habe alle Phänomene
Genauestens analysiert.

Ich habe auch das Phänomen
Der Religion bedacht.

Als ein Christ gestorben,
Sah ich die Christin glauben ans ewige Leben.

Da hab ich mich durchgerungen
Zu einem positiven Christentum.

Dann las ich die Vita Nova
Der heiligen Madre Teresa.

Da wusste ich: Die Wahrheit
Ist der göttliche katholische Glaube.

Ja, die heilige Teresa meine Taufpatin,
Der heilige Augustinus mein Taufpate.

Ich lebte im Himmel auf Erden
In der Liturgie des Klosters.

Meine Mutter, jüdischen Glaubens,
Meine Mutter verstand mich nicht.

Ich wollte in das Kloster
Zu Unsrer Lieben Frau vom Berge Karmel!

Aber meine Mutter, die jüdischen Glaubens war,
Dachte, das Klosterleben sei ein Horror.

Als meine Mutter starb,
Legte ich meine Gelübde ab.

Ich lehrte die neuplatonische Weisheit
Des göttlichen Dionysios.

Ich lehrte die strahlende Wahrheit
Des engelgleichen Thomas.

Ich lehrte die Kreuzeswissenschaft
Von San Juan de la Cruz –

Die blieb unvollendet als Schrift,
Mein Leben sollte sie vollenden.

Ich floh vor dem Antichristen Hitler
In die Niederlande.

Da besuchte mich um Mitternacht
Die Königin Esther.

Ich sollte mein Leben einsetzen
Für die Rettung meines Volkes.

Heilige Mutter, erlaube mir,
Mein Leben Jesus anzubieten,

Auf dass die Herrschaft des Antichrist
Zusammenbreche ohne neuen Weltkrieg!

Als getaufte Jüdin ward ich
Deportiert nach Auschwitz.

Ich kämmte den Kindern
Der verzweifelten Mütter die Haare.

Ich tröstete alle hoffnungslosen
Juden im Vernichtungslager.

Ich bot Jesus mein Leben an
Als Sühneopfer für Deutschlands Sünden,

Für das jüdische Volk
Und den Orden des Karmel

Und die ganze heilige Kirche
Und für alle meine Lieben.

So gab ich mein Leben hin im Feuerofen
Als einen Holocaust vor Gott!