Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

DIE WANDERJAHRE



Von Josef Maria Mayer


ERSTES KAPITEL


Wolfgang ging mit seinem Pflegesohn Felix durch die grünen Wiesen spazieren. Auf den Weiden standen die schwarzbunten Kühe mit den vollen Eutern. Manchmal war am fernen Waldrand ein Reh zu sehen oder ein Hase eilte durch die Wiesen, manchmal spazierte ein Rebhuhn durch die grünen Auen. Aber die Straße, die sie wandelten, war geteert. Da schillerte plötzlich etwas strahlend Grünes vor ihnen auf. O, sagte Felix, da liegen ja grüne Edelsteine! Sicher Smaragde, sagte Wolfgang. Aber als sie näher traten, sahen sie, es war ein Haufen Hundekot, auf dem eine Schar von grünschillernden Schmeißfliegen saß. So täuscht der erste äußere Eindruck, sagte Wolfgang, es ist eben nicht alles Gold, was glänzt, und manchmal ist die innere Schönheit eines liebenden Krüppels schöner als die schönste Körperlichkeit von Miß Universum. Felix sagte: Wie ist eigentlich das Universum entstanden? Du hast mir doch aus der Kinderbibel vorgelesen, erzähle mir noch einmal die genaue Reihenfolge, wie Gott alles erschaffen hat, ich kann mir die Reihenfolge noch nicht gut merken. Nun, sagte Wolfgang, am Anfang, also, im Prinzip schuf Gott Himmel und Erde. Ja, sagte Felix, ich glaube, Gott war einsam, da wollte er jemand zum Spielen haben, darum schuf er die Menschen. Wolfgang sagte: Ich glaube nicht, dass Gott einsam war, denn Gott der Vater hatte doch seinen Liebling, den Sohn Gottes, und die beiden waren immer zusammen in dem Geist der Liebe. Ach ja, sagte Felix, ich weiß schon, der Geist, das ist doch die Taube! Da sagte Wolfgang: Gott also nahm die Nebelsuppe des Universums und schuf daraus eine Sonne. Dann knappste er etwas Feuer von der Sonne ab und machte daraus die Erde. Auf der Erde war aber nichts als Meer. Da machte Gott ein Meeresbeben und die Berge erhoben sich. Und die kleinen Kaulquappen und Quallen im Meer, die schlichen sich an Land und wurden Dinosaurier. Später schuf Gott die Affen. Felix sagte: Und die Menschen stammen von den Affen ab? Wolfgang sagte: Es sollte eigentlich ein großer Unterschied sein zwischen einem Affen und einem Menschen, denn der Affe tut nur, was sein Bauch ihm sagt, und der Mensch sollte tun, was sein Denken ihm sagt, aber leider sind viele Menschen immer noch nicht viel mehr als primitive Menschenaffen. Aber wer war die erste Frau, fragte Felix, von der alle Menschen abstammen? Ja, ja, sagte Wolfgang, die liebe Frau kenn ich gut, ich träume jede Nacht von ihr... Erzähle mir von ihr alles, was du weißt, sagte Felix, ich will alles wissen, was du weißt. Aber gern, mein Liebling, sagte Wolfgang und begann zu erzählen:

LILITH


In der Morgenröte Edens, als die schönen Tiere noch keine Namen hatten, da wandelten Lilith und Adama durch die herrlichen Auen und besahen sich die Blumen: Du bist die Königin der Rosen! sagte Adama zu Lilith, denn er liebte sie, und er sah die Rosen wegen ihres Herzbluts und ihrer blühenden Innigkeit als Zeichen und Wunder der Liebe an, da die purpurnen Jungfrauen mit ihren grünen Beinchen aber so zahlreich waren, Lilith aber seine Einzige, ewig seine Einzige sein sollte, nannte er sie die Königin der Rosen. Dennoch war sie mit den Rosen nicht vollends beschrieben, denn ihre Schönheit ging über alles Sagbare weit hinaus. Du, sagte Adama in höchsten schwärmerischen Tönen, trägst deine braunen Locken, als wären sie aus den braunen Häuten der köstlichen Maronen gesponnen. Diese schlummern zwar in dornigen Nestern, aber nicht so du, darum bist du herrlicher als die Maronen. Dennoch mag ich die Maronen, denn ihre Bäume blühen so herrliche Tempelbauten, in denen das Licht mit seinen süßen Liebesreden wohnt, und die Bäume blühen Anbetung Gottes, daß ich sie dir gern vergleichen will; denn auch du bist eine Wohnung Gottes, und er flüstert so heimlich liebliche Worte in deiner Seele, daß ich dich liebe als einen schönen Tempel, schön wie der Berg Moria. Sie sah ihn mit ihren großen Augen an und schwieg. Schwieg sie, weil sie voll war der Liebe, die seine Liebe in ihr erzeugt hatte? oder weil sie andere Gedanken in ihrem Herzen trug? Immerhin ruhten ihre Augen voller blaugrünem Licht in seinen Augen, und er ward davon entzückt zu neuer Schwärmerei. O wie die Seelilien in dem blaugrünen Wasser der Gihonquelle treiben! Welchen Honig weben die Honigbienen mit süßem Gesumm so lieblich aus ihren Wonnekelchen! Welcher Friede strömt in diesem Weiß, dem Weiß der Innigkeit, welche Reinheit ruht in diesem Blau des herrlichsten Himmels, blau wie die Himmel über den Savannen von Kusch und blau wie das Wasser an der Quelle des Phrat, und welche Lebensfülle spielt in diesem herrlichen Grün, diesem Grün von der Fülle der Grashalme, in denen wir unsre unsterblichen Leiber betten, auf denen wir zirpen die süßesten Preisungen ewigen Lebens, und deren Honigblüten uns umdüften mit süßen Verzückungen: das sind deine Augen, o schönste Lilith! Sie schaute in die Ferne, voller Sehnsucht und Heimweh. Wieso hatte sie Sehnsucht und Heimweh, da sie doch mit einem sie Liebenden in dem Garten Gottes wandelte? War sie nicht in den Geist des ewigen Lebens hineingeboren mit seiner Fülle? war sie allein von der Erde und kannte nur ein dunkles Quillen von unbestimmter Sehnsucht nach der Herrlichkeit des Himmels? Aber diese Sehnsucht wars, die Adama so an das Herz griff mit warmem Feuer, daß seine Seele aufsprühte in reinem Wonnetaumel, denn er sah ihren Busen sich heben vor Gemütsbewegung: O Lilith, deine Seele, wie soll ich sie dir loben und preisen? Deine Seele kann ich nicht anders rühmen als in den feinsten Melodien, die ich den Nachtigallen von östlich des Phrat hab abgelauscht in vergangener Mondnacht:

Süße Sommerseele,
Voller Honigwonne,
Wallend wie Juwele,
Süß wie Sommersonne,

Edelste der Engel,
Lieblichste der Lämmer,
Stolzester der Stengel
Grases in dem Dämmer,

Frühe, blühe, glühe,
Träume traute Träume,
Sprudle, spritze, sprühe
Schimmernd schönste Schäume,

Milde Morgenröte,
Mondnacht mit dem Mondschein,
Bete Bittgebete
Zu dem Thron aus Mondstein!...

Lilith lächelte ein wenig gedankenverloren und war still. Sie sah ihn aus tiefstem Herzen an, und dann erhob sie ihre volle melancholische Stimme: Adama, du Schwärmer, ich muß hinfort. Ich weiß nicht warum, ich weiß nicht wohin, ein geheimnisvolles Treiben treibt mich in dem Dunkel meiner Seele ins Unbestimmte, unendliche Sehnsucht läßt mich im Vorhandnen meine Heimat nicht finden. Also denn und drum: alles Liebe, Adama, aber laß mich frei! Adama war so unheimlich traurig zumute, die schönste Freude des Gartens Eden war von den dämmernden Wolken stiller Wehmut umwölkt (dennoch glimmerte sie selig hindurch, er konnte einfach gar nicht ganz verloren sein). So ging er in die einsamen Savannen von Kusch, dort mit den Elefantendamen zu wandern zum Elefantenruheplatz, wo er Lilith wollt vergessen. Aber er wurde auf dem Berge Moria so müde, daß er sich schlummern legte unter einer Zeder, wie sie schöner auf dem Libanon nimmer stehen konnte, so mächtig und erhaben breitete sie ihr blaues Gefieder, daß er sich fühlte wie unter dem Schirm Gottes. Er schlief einen gesunden Heilschlaf. Da träumte ihm ein süßer Traum. Und als er erwachte, sah er, daß sein Traum ja wirklich war, denn vor ihm stand ein allerherrlichstes Prachtweib! Ihre Augen schimmerten wie Tau des Morgens, ihre Locken floßen wild wie die Lust am Leben, ihre Lippen bebten wie prächtigste Dattelfeigen vom Zwiestromgebiet, ihre Zähne waren wie das Elfeinbein der Elefanten von Kusch, ihre Haut war weiß wie Madonnenmilch und beblüht mit den herrlichsten Nelkenblüten von Scharon. Ihre Brüste waren wie die prächtigsten Granatäpfel, und wenn sie sich bewegte, schwankten die Granatäpfel wie vom Wind bewegt im Baume. Wie heißest du? fragte Adama voller Verlangen, dieses Weib zu seiner Seite zu behalten. Ich heiße Hevva, das heißt, die Lebendige! Ein neues Leben hatte für Adama begonnen, und wie die Kinderlein spielten die beiden voller Seelenwonne und Lebenslust über das lustig blitzende Gras des Morgens, badeten in rauschenden Strömen und in tiefsten und klarsten Teichen, sie sogen die Granatäpfel aus und schälten die Bananen von Kusch. Adama wusch der süßen Hevva mit dem Wasser vom Teich Siloah die Füße, die niedlich und hübsch zu sehen waren. Sie tauchte ihre Lippen in den Honig vom Hymettos und küsste dann mit dem Feuer ihrer Seele seine bebenden Lippen. Wonne über Wonne, Seligkeit um Seligkeit! O Gesundheit des Lebens, und es sollte ewig währen. Da ging eines Tages Hevva bei dem verbotenen Baume und hörte auf die listige Schlange, die sie verlockte, vom Baume die Frucht zu essen, die Gott verboten hatte. Hevva fiel den Fall den Sünde, und Adam gab sich derselben Sünde hin wie Hevva. Da vertrieb ein Engel mit einem feurigen Schwerte sie aus dem Paradiese. O Weh und Elend des Menschen, der von Gott vertrieben war! Und dennoch machte Gott mit eigenen Händen ein Opfer eines Lämmleins zurecht, und kleidete die beiden Nackten in ein warmes Fell. Adama begann von da an hart zu arbeiten, und Hevva gebar viele Kinder unter heftigsten Wehschreien. Als Adama alt war, begann er eine einsame Wanderung nach dem Adamspik auf der Insel Ceylon, denn dort oben wollt er sterben. Nun wars auch bald genug, denn er zählte tausend und ein Jahr, und er begehrte, heimzukehren in den Garten Eden, den Gott nun auf den Mond versetzt hatte. Da legte sich Adama unter eine Zeder (das war ihm doch schon einmal gut bekommen) und schloß die Augen. Da sah er Lilith, sie nahte ihm in einem weißen Gewand aus chinesischer Seide, ihre braunen Locken floßen ihr auf die Schultern, die grünblauen Augen leuchteten voller Licht, ihr Fuß so rein und süß schwebte über den nackten Fels; sie schien ganz ein Engel zu sein; bis auf den Mund, der war nicht rosig und frisch wie in ihrer Jugend, sondern blauviolett, wie altes Blut. Sie begegnete ihm und grüßte ihn: Deine Stunde ist gekommen, darum naht dir von der rechten Seite des Altares, den du auf diesem Berge errichtet, dein Todesengel, das bin ich. Nun laß dich küssen, zum ersten und zum letzten Male will ich dich küssen, lieber Adama. Und damit legte sie ihren Mund auf seinen Hals und küsste seinen Tod herbei. Adama ging in das Gefilde der Unsterblichkeit ein, Hevva sollte ihm mit ihren Kindern alsbald folgen. Was von Lilith zu sagen ist? Das weiß ich nicht.


ZWEITES KAPITEL


Es war eine dunkle Winternacht. Die Finsternis war dicht und der Frost war scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Felix weinte: Der Tod ist ungerecht! Wolfgang versuchte ihn zu trösten: Aber alle Menschen müssen sterben, die Guten und die Bösen, die Armen und die Reichen, die Klugen und die Dummen, alle müssen sterben. Felix protestierte: Das ist einfach nicht gerecht! Der Tod ist nicht gerecht! Wolfgang fühlte sich ratlos und versuchte zu sagen: Aber es ist ganz natürlich, dass alles stirbt. Schau, auch die Natur stirbt jeden Herbst, schläft im Winter den Todesschlaf, erwacht im Frühling, aber dann kommt der Sommer und dann feiern die Liebenden Hochzeit! Nein, sagte Felix, so etwas Böses wie den Tod kann sich die gute Mutter Natur nicht ausdenken! Wolfgang erinnerte sich an den Katechismus: Ja, du hast ja recht, mein Liebling! Gott hat den Tod nicht gewollt, Gott hat sich den Tod nicht ausgedacht! Der Tod ist ganz widergöttlich! Gott hat den Menschen gut erschaffen und wollte von Anfang an, dass die Menschen ewig leben, ohne Tod, ewig leben! Aber die Menschen haben sich verführen lassen von dem Bösen und haben dem Ewigen Leben Gottes den Rücken gekehrt, sie haben Gott die kalte Schulter gezeigt und die Ewige Liebe kaltherzig abblitzen lassen! Darum sterben die Menschen jetzt. Felix weinte: Meine liebe Mama ist tot, weh mir, meine liebe Mama ist tot! Aber, versuchte Wolfgang ihn wieder zu trösten, du wirst deine Mama eines Tages wiedersehen. Wie denn, fragte Felix, wenn sie tot ist? Wolfgang sagte: Schau mal, jetzt müssen wir beide weinen, und wir werden noch viele Tränen weinen müssen auf dieser Erde, jetzt ist dir die liebste Mama und mir die treuste Freundin gestorben, aber es werden noch andere liebe Menschen von uns Abschied nehmen. Das alles wäre doch gar zu unerträglich, wenn es immer, immer so weitergehen sollte! Stell dir vor, fünfzig Jahre lang weinen, das ist schon schwer genug, aber tausend Jahre lang weinen? Oder eine unendliche Zeit lang weinen und Menschen verlieren? Nein, das wäre ungerecht! Ja, sagte Felix, das wäre wirklich die Hölle. Ja, sagte Wolfgang, und darum ist der Tod zwar nicht von der Mutter Natur gewollt, aber er ist doch irgendwie natürlich geworden, und nun ist es mir oft ein Trost, wenn ich denke: Eines Tages ist die letzte Träne geweint, der letzte Verlust beklagt, nun ruhen mein armer Leib im Grab und meine Seele darf zu Gott in dem Himmel. Da wird mir Gott dann wie eine liebende Mutter alle Tränen trocknen, denn im Himmel gibt es kein Ächzen und Stöhnen mehr, kein Heulen und Jammern, keinen Tod und keine Schmerzenschreie! Und, fragte Felix, meine liebe Mama ist jetzt im Himmel bei Gott, nicht wahr? Ja, sagte Felix, deine liebe Mama hat den lieben Gott schon gesehen! Wie, fragte Felix, ist denn der Himmel? Wolfgang lächelte getröstet: Ach stell dir einmal den Mond vor, wenn alles dunkel ist in der Nacht, und allein der Mond leuchtet, ein runder weißer Kreis aus nicht als sanftem süßem Licht, da badet nun deine liebe Mama in dem Meer der Ruhe. Und gleich neben dem Meer der Ruhe ist das Nektarmeer. Ah, das Nektarmeer, rief Felix, da will ich dann später leben, ganz nahe bei meiner lieben Mama! Ja, ja, lächelte Felix, ich baue uns allen schon Lustschlösser im Himmel, für meine Herzallerliebste baue ich ein Lustschloß auf der Venus in dem großen Lande Aphrodite Terra und ich baue mir eine schöne Wohnung in dem großen Gartenparadies Maria Corona, der Krone Mariens. Und ich habe schon so große Sehnsucht, in meine stille kleine Wohnung zu kommen in dem Lustgartenparadies, wo ich leben will mit der Lieben Frau, das ich mir oft wünsche, recht bald sterben zu dürfen! Wirklich, staunte Felix, du willst sterben? Ja, seufzte Wolfgang, ich habe Sehnsucht nach meiner himmlischen Heimat, nach der goldenen Straße des Paradieses, nach dem grünen Garten Eden, nach der himmlischen Wohnung, nach dem ewigen Brautgemach und dem Hochzeitsbett der Ewigen Liebe! Weißt du, ich erzähle dir einmal eine Geschichte, wie der arme Elias sterben wollte. Ach, weinte Felix, mir ist so traurig zumute! Nein, du kannst mich nicht trösten! Ich kann nur noch weinen, nur noch weinen! Also hör mir einfach zu, sagte Wolfgang, und erzählte:


DAS ELEND DES ELIAS ROSENKRANZ


Elias Rosenkranz war ein deutschsprechender Jude, der sich nach wunderlichen Schicksalsläufen nach Venedig verirrt hatte, wo er als ein armer Mann im jüdischen Ghetto lebte mit seinen Leidensgenossen, von denen einige es sich in Geldgeschäften gutgehen ließen. Er hatte traurige, hungrige Augen, eine prachtvolle Nase, die über seinen melancholischen Mund hing, braune Locken und eine dünne Gestalt. Er war eines Tages durch das schöne Venedig spaziert, als er auf dem Balkon eines Palazzo eine wunderschöne Frau sah. Ihre braunen Locken wallten in reichen Wogen aus einem goldenen Haarnetz auf ihre weißen Schultern, die ein wenig zu sehen waren, denn das grüngoldene Seidenkleid ließ einiges von Hals und Schultern sehen. Sie trug die schönsten weißen Perlen an einer Kette um den Hals, und ihr schöner Busen drückte sich durch das reizend gefährliche Kleid. Er verliebte sich in die Schöne, und darum strich er immer um ihr Haus herum, in der Hoffnung, sie noch einmal erblicken zu können. Eines Nachts, als gerade der wunderliebe Mond von Asien herüberwanderte, gelb wie die Augen Turandots, da saß Elias Rosenkranz traumverloren in einer Gondel und starrte zum Balkon des Palazzo herauf. Da trat die Schöne mit einem jungen Ritter auf den Balkon: Isabella, schöne Fürstin! sagte jener und erging sich weiter in petrarcistischen Schmeicheleien. Die Fürstin Isabella aber sah vom Balkon in das melancholische Wasser des nächtlichen Kanals und gewahrte plötzlich die flackernden Augen des armen Juden. Da ist der hebräische Bettler wieder! rief sie im Zorn. Obwohl sie im Zorn sehr flammend schön aussah, erschrak Elias doch nicht wenig. Sie wandte sich erregt an den Ritter: Das ist der, von dem ich Euch erzählte, der immer wie ein hungriger Zigeuner um meinen Palast herumstreicht, als ob er hoffte, ein wenig von den Brotkrümeln meines Tisches zu erhaschen. Er belästigt mich, und ich habe Angst, aus dem Haus zu gehen, denn bei den Juden weiß man ja nie, sie sind ja auch die Mörder Christi. Edler Ritter, beschützt mich vor diesem Betteljuden mit dem Elendsblick, jagt ihn von meiner Haustür, jagt ihn über den Kanal, schickt ihn aus Venedig fort, oder am besten: stecht ihm Euer Heldenschwert in die Brust! Sie raste. Elias Rosenkranz hörte das alles und erschrak bis ins Innerste seines Herzens. Rasch wendete er sein Boot und floh über den Kanal, bis er in die Judengasse kam. Er fand auch dort keine Ruhe, denn Todesangst und Verzweiflung hatten seine Seele ergriffen. Er floh weiter, einsam und angsterfüllt durch die Nacht, irrte durch die Gassen Venedigs, hinter jedem Winkel den Ritter mit seinem Schwert erwartend, bis er sich wieder im jüdischen Ghetto fand, und zwar bei der kleinen alten Synagoge. Er setzte sich weinend vor ihre Pforte, genau auf das gepflasterte Bild vom siebenarmigen Leuchter und weinte bitterliche Tränen vor Angst und Verlassenheit. O Jehowah! da wollte Elias Rosenkranz sterben! Er mochte sein Leben gar nicht mehr leiden und wünschte sich nur noch den raschen Tod. Aber durch das Schwert des Heiden wollte er denn doch nicht sterben, und so flehte er Jehovah an, den Todesengel zu schicken, von dem die Rabbiner sprechen. Im selben Augenblick donnerte es aus einer schwarzen Wolke, die sich vor den lieben Mond begab, Blitze zuckten über den Himmel, aber Elias Rosenkranz fürchtete sich nur noch mehr. Dann kam vom Kanale her, quer durch das Judenghetto ein heftiger Meerwind, bitter und voll üblen Geruchs, und Elias ward elender als vorher. Aber Gewittersturm und Donner legten sich so rasch, wie sie gekommen waren. Da hörte er von ferne, von ganz weit her, die Glocken vom Markusdom läuten, sie läuteten zum Sext, da zog ein Friede Gottes in die Seele des Elias Rosenkranz, und er dachte daran, daß ja mindestens siebentausend Juden mit ihm in Venedig lebten, und die würden ihn schon vor dem Zorn der fürchterlich schönen Fürstin Isabella schützen. Er dankte Jehovah, daß er durch das Glockenläuten so süß und lieblich zu ihm geredet, und wunderte sich, daß auch eine christliche Kirche so gnädig sein konnte.


DRITTES KAPITEL

Wie hast du eigentlich meine Mama kennen gelernt, fragte Felix. Ach, sagte Wolfgang, ich habe damals noch fern von Gott gelebt. Ich habe die Götter Griechenlands gesucht. Aber da lag ich eines Tages in dem Bett deiner Mama, weil sie mir ihre Wohnung vermietet hatte. Und da kam sie an dem Tag der heiligen Magdalena in ihre Wohnung und sah mich, wie ich – in ihrem roten Kleid – auf ihrem Bette lag! Da haben wir uns auf den ersten Blick – geliebt! Ja, stimmt das, fragte Felix, du warst mit meiner Mama zusammen ein Paar? Ja, sagte Felix, wir waren ein Paar die wie Göttin der Liebe und der Gott des Krieges, wir waren ein Paar wie Feuer und Wasser, wir waren ein Paar wie Himmel und Erde, wir waren ein Paar wie Wolke und Regen, wir waren ein Paar wie Fuchs und Katze, wir waren ein Paar wie Schlange und Taube. Aber warum, fragte Felix, seid ihr nicht ein Paar geblieben? Ach, seufzte Wolfgang, das habe ich später auch einmal bitter bereut, denn es war sehr gemütlich in dem breiten Bett deiner schönen Mama. Als ich deine Mama das erste Mal sah, da schien sie mir schön wie die Kleine Meerjungfrau, wie die Königin der Liebe und Schönheit, es war ein himmlisches Licht um sie, als wäre sie vom dritten Himmel herabgestiegen, um zu mir sich in das Bett zu legen. Jetzt, wo sie tot ist, wo ihr lieber Leib im Grabe schläft, jetzt denk ich besonders an diesen lieben Leib, der so schön war, so weich, so weiß, so süß, so liebevoll, so lecker und so appetitlich, de ich genossen habe wie ein Himmelsbrot! Ich weiß wohl schon, was du meinst, sagte Felix, du hast mit meiner Mama – geschlafen! Ja, ja, seufzte Wolfgang, obwohl der lieben Gott sie mir nicht zur Ehefrau gegeben hatte. Wir sind einfach so zusammen in das Bett gefallen, wie eine reife Feige einem von selber in die Hand fällt. Ja, der liebe Gott sagt: Diese schöne Frau ist dir in die Hand gefallen, wie eine reife Feige, die vom Baum fällt, bevor man geschüttelt hat. Aber, wandte Felix ein, du hast mir immer beigebracht, dass Mann und Frau vor Gott heiraten sollen und dann erst Kinder zeugen. Ja, sagte Wolfgang, aber in meiner Jugend habe ich noch nicht gewusst, wie Gott sich die Liebe denkt. Da hatte ich einfach großen Hunger, da fiel mir die Feige in den Schoß, da habe ich den lieben Leib genossen. Und was, wenn ihr Kinder bekommen hättet, fragte Felix, wäre ich dann dein Sohn? Wer weiß, lächelte Wolfgang. Felix sagte: Ich weiß, wenn ein Mann mit einer Frau schläft, dann ist das, wie wenn eine Schlange sich im Urwald verirrt. Obwohl, das habe ich gehört, doch was das genau bedeutet, habe ich noch nicht verstanden. Das musst du auch noch nicht wissen, sagte Wolfgang lächelnd, ich kann dir nur sagen, dass es sehr schön war, wie deine Mutter mich geküsst hat. Sie hatte so weiche warme Lippen und es war ganz wundervoll, wie sie mich mit ihren Lippen liebkost hat. Da hab ich genossen, wie süß die Liebe ist. Und weißt du, wie ich Abschied genommen habe von deiner lieben Mama und ihrem leckeren Leib? Nein, sagte Felix. Ich habe der Toten die Stirn geküsst. Ach, ach, mir ist so wehe zumute, sagte Felix, du kannst es dir nicht vorstellen, wie schrecklich es für mich war, meine allerliebste Mama tot auf ihrem Bette liegen zu sehen, ganz starr und kalt. Ich weiß, sagte Wolfgang, wie du da aufgeschrien hast! Aber, um die traurigen Gedanken an den Tod zu vergessen, denk ich jetzt viel daran, wie deine Mama und ich uns geliebt haben in ihrem breiten roten Himmelsbett. Ich habe ihr einmal eine kleine Geschichte geschrieben, die hab ich ihr zur heiligen Weihnacht geschenkt. Sie handelt von unserer ersten Liebesnacht. Ach bitte, bettelte Felix, lies mir die Geschichte doch einmal vor! Und Wolfgang holte ein kleines Heft aus seiner Manteltasche und las:

JEKATHARINA


Pjotr Pjotrewitsch war ein junger Student in Petersburg, er lebte zu Zeiten des Zaren Nikolaus des Zweiten als ein hungerleidender Poet mit frommer Seele. Allnächtlich saß er in seiner kleinen Kammer und träumte und träumte. Die Kerze brannte vor einer Ikone der Gottesmutter: La Vierge qui aime les hommes! Pjotr Pjotrewitsch hatte das Zimmer von einer Frau gemietet, die Frau aber nie gesehen, sie hatte einen Vermittler eingesetzt. Eines Nachts aber trat die Frau in seine Kammer. Jekatharina Jurijowitsch kam, um die Miete in Empfang zu nehmen. Da erwies sich, dass Pjotr Pjotrewitsch wirklich ein Poet war und seine Augen oft die Jungfrau, die die Menschen liebt, angesehen haben. Nämlich Jekatharina Jurijowitsch erschien ihm in einem himmlischen Licht, übernatürlich schön, wie „Russlands Venus, leidenschaftslos und rein“, wie ein Dichter gesagt. Sie trug einen weißen Hermelin, auf den ihre schwarzbraunen Haare fielen. Ihre Augen waren blau wie die Newa, es brannte ein überirdisches Feuer in ihnen. Ihre ganze Gestalt leuchtete wie die Weiße Nacht von Sankt Petersburg. Ihr Leib war wie eine Schwanin aus dem Schwanenteiche von Zarskoje Selo. Sie sah den Poeten vor seinem Papier, seine Finger waren schwarz von der Tinte. Auf dem Tischchen stand eine halbleere Wodkaflasche. Er war hager wie ein Asket aus der Wüste. Aber irgendetwas hatte er an sich, der Einsiedler, der Hungerleider, der Poet, halb dämonisches, halb göttliches, was sie faszinierte. Vielleicht war es die Art, wie er sie flammend ansah. Sie war eine Bolschewikin. Ihr war die Revolution die Mutter der Freien Liebe. Liebe war ihr, wie die Komsomolzen sagten, wie ein Schluck Wasser, einfach und natürlich. Die bürgerliche Ehe war das Privateigentum des Mannes an der Frau, im Kommunismus war die Freie Liebe die Befreiung der Frau. Was schreibst du, fragte sie ihn. Ich schreibe von der Mutter Gottes. Oh, bist du ein Pfaffe? Weißt du nicht, wie die Kirche die Monarchie stützt, der Zar die Bauern unterdrückt, Grund und Boden den Bauern vorenthalten wird? - O schöne Frau! Deine Wangen röten sich so schön im revolutionären Zorn, das steht dir sehr gut, du bist sehr hübsch! - Ah? Nun gut, hm. Aber bleib mir mit deinem himmlischen Zaren Christus vom Leibe! - Vom Leibe soll ich dir bleiben? Weißt du nicht, wer Christus ist? Er ist der russische Mushik, wenn er hungert, wenn er leidet und betet! Weißt du nicht, wer die Gottesmutter ist? Sie ist Mütterchen feuchte Erde! - Red du nur! - Aber du bist Rußlands Venus, leidenschaftslos und rein! Dich will ich lieben! - Ha, so seid ihr Pfaffen! Ihr predigt Wasser und sauft Wein! Keusch musst du sein! - O schöne Frau, ich bin nun einmal Russland in Person, ja, ich bin Rußland! Ich bin versoffen und verhurt und fromm wie ein russischer Bauer, ich bin Russland, ich bin verhurt und versoffen und Gottes Liebling! Russland mit seinem Wodka und seiner Wollust grenzt gerade an Gott! - Red du nur! Aber schön bist du, wenn du betest, deine Augen bekommen so einen schmachtenden Blick! Weiß dein Mund nur zu beten oder auch zu küssen? - O schöne Frau, an Lippen wie deinen will ich beten lernen! - Dann lass dich umarmen! - O schöne Frau, an deinem Schwanenbusen werde ich selig sein wie das Jesuskind am Busen der Gottesmutter! - Kindchen! Bist du ein Mann? Weißt du von den Geheimnissen der körperlichen Liebe? Kennst du die Emanzipation des Fleisches? - O schöne Frau, in deinem Schoß will sich Rußland mit der reinen Venus vereinen! - Narr, wenn du nur halb so viel redetest und mehr küsstest, wäre der Zar schon enthauptet und der Kommunismus der Freien Liebe errichtet auf Erden! Ich nackt, du nackt! - Am Morgen aber lag er allein in seinem Bett. Jekatharina Jurijowitsch war vor der Morgenröte verschwunden. Er war einsam und weinte, er war selig und elend, er war schwermütig und glücklich wie Russland, wenn es von der Gottesmutter heimgesucht wird!


VIERTES KAPITEL


Ich bin dann von deiner lieben Mama entführt worden in das Paradies der Provence, sagte Wolfgang. Provence, sagte Felix, du meinst Süd-Frankreich? Da war ich auch mit meiner Mama kurz vor ihrem Tod, und es war auch Mamas Busenfreundin mit, die liebst du doch, nicht wahr? Ach, ja, ich liebe sie wie den Stachel in meinem Fleische, seufzte Wolfgang. Ach, sagte Felix schwärmerisch, das war schön in Südfrankreich. Ich kannte Frankreich ja schon aus dem Buch, das du mir immer vorgelesen hast, mein allerliebster Wolfgang, von dem Kampf zwischen Vercingetorix und Cäsar. Felix musste lachen. Ich hab dich immer für Cäsar gehalten, mein Pate, ich wollte dir auch einen Lorbeerkranz machen. Wolfgang lächelte: Erzähle mir von Südfrankreich, dann will ich dir auch erzählen, was ich erlebte in der Provence des Paradieses. Felix lächelte: Als in ihrem Schlafsack allein deiner Herzallerliebste schlief, da ist sie von einem Skorpion gebissen worden! Ah, sagte Wolfgang, das passt zu ihr! Das ist ein Zeichen Gottes! Und es war da so heiß! sagte Felix, man verbrannte sich die Füße, wenn man mit nackten Füßen auf dem weißen Sand gelaufen ist. Und habt ihr auch gebadet, fragte Wolfgang. Ja, meine liebe Mama und deine Herzallerliebste haben in der Ardeche gebadet. Im Bikini, fragte Wolfgang. Nein, sagte Felix, sie haben nackig gebadet! Warum warst du nicht dabei? Ach, stöhnte Wolfgang, meine Herzallerliebste wollte mich nicht dabei haben, und ich wäre gewiss auch verrückt geworden, hätte ich sie ganz nackt im Bad gesehen. Was hast du denn in dem Sommer gemacht, fragte Felix. Damals, sagte Wolfgang, ist mein Vater gestorben. Der Mann hat an dem Grab in der Grabrede folgende Geschichte erzählt: Es war einmal ein kleiner Hirte, der immer am Fluß saß und Flöte blies. Er sah immer zum anderen Ufer hinüber und im Geist war er auch schon oft am anderen Ufer gewesen. Eines Tages kam der Tod in einem Boot über den Fluß und holte den kleinen Hirten ab. Der kleine Hirte hatte keine Angst, er folgte dem Tod gerne ans andere Ufer, wo er doch im Geiste schon so oft gewesen war. Und nun war er endlich wirklich am anderen Ufer, wo er immerfort lustig die Flöte blies! Das ist merkwürdig, sagte Felix, denn in jenem Sommer hatte deine Herzallerliebste einmal sich am Ufer der Ardeche verloren, also, wie du sagst, am Ufer des Paradieses, da hörte sie in der Ferne, wie einer in der Nacht die Flöte blies. Das ist kaum noch zu verwundern, sagte Wolfgang, denn meine Herzallerliebste und ich sind geheimnisvoll verbundene Zwillingsseelen. Warst du denn sehr traurig, als dein Vater starb, fragte Felix. Ach, es war seltsam, ich habe mich fast totgelacht! Ich war so ausgesprochen lustig! Und meine junge Nichte, die neunjährige Beatrice erzählte mir einen Witz! Erzähl mir diesen Witz, bettelte Felix. Also, sagte Wolfgang, meine neunjährige Nichte Beatrice erzählte diesen Witz: Es war einmal eine Frau, die hieß Frau Ficken. Und wenn es an ihrem Telephon klingelte, dann meldete sie sich und sagte: Ja, Ficken! Da hab ich mich fast totgelacht. Aber nun, wo deine liebe Mama tot ist, da ist mir gar nicht zum Lachen zumute, da ist mir, wie man so sagt, ich weiß nicht warum, da ist mir hundeelend zumute! Erzähl mir doch, sagte Felix, wie es war mit meiner lieben Mama in der Provence des Paradieses. Und Wolfgang erzählte gerne:

HONIGMOND


Ich studierte die Welt des Matriarchats im Sommer in der Wohnung einer Frau, da las ich, die Priesterpoeten der Matriarchate kleideten sich in Frauengewänder, und ich zog das rote Sommerkleid der Wohnungsbesitzerin an und lag auf ihrem Bett, als die Tür aufging und Sie hereintrat. Sie hatte schwarzes Haar und ein schwarzes Kleid an, aber um sie war ein strahlendes Licht wie von einer Himmelserscheinung. Ich kann nur sagen, dass sie sich über mich wunderte. Ich bezahlte meine Miete, und sie ging wieder fort. Aber mich hatte der Pfeil des göttlichen Eros getroffen! Ich forschte in ihrem Zimmer, ob ich sie kennen lernen könnte und erfuhr ihren Namen – Carina. Immer sang ich den Namen Carina durch die sommerliche Nacht, und erfuhr, dass sie in Paris geboren war, der Stadt der Liebe. Also schrieb ich ihr. Eine Freundin (...) empfing den Brief und las ihn ihr vor, da kam sie wieder nach Oldenburg. Ich ging gerade an den Sphinxen des Museums lang, den Löwengöttinnen mit Frauenkopf und Frauenbrüsten – da sah ich Sie – die Sphinx Carina! Ich kaufte beim nächsten Kiosk eine rote Rose und legte sie ihr zu Füßen. Wir tranken Wacholderschnaps und lagen in der Nacht beisammen im Bett. Aber als ich am Morgen erwachte, war die Seite neben mir leer, da musste ich weinen vor Sehnsucht und sang: „A man needs a maid!“ Aber sie trat aus dem Nebenzimmer zu mir, in eben dem roten Kleid, das ich zuvor getragen hatte. Die weiße Haut ihrer wohlgeformten Arme und Beine war zu sehen. Der Körper war gebaut wie der einer griechischen Göttin – diese Brüste, diese Hüften, dieser Po! Ich sang ihr eine „Ode an Aphrodite“, denn die Göttin der Liebe und Schönheit hatte ihre Priesterin, ihre Stellvertreterin auf die Erde geschickt und sie direkt in meine Arme gelegt, um mich in das Paradies zu versetzen. Sie nahm mich also an die Hand und führte mich nach Frankreich. In meiner Tasche war das Tao-te-king von Lao Tse („Die Welt hat eine Mutter, ich nenne sie Tao, sie ist die Mutter der zehntausend Wesen!“) und die Oden von Sappho („Komm, goldene Aphrodite, vom bunten Throne!“). Wir studierten unsere Bücher im Clair de la lune und legten uns dann an den Strand von Montpellier, am Golf du Lyon, nahe Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, an das rauschende Mittelmeer, zusammen in einen Schlafsack, und während das Mittelmeer rauschte, rauschten wir in einem seligen Liebesrausch in einander verschlungen. Berauscht von den Genüssen der Liebe, war ich in archaische Zeiten versetzt. In einem Gesicht sah ich das Schiff des Odysseus, und ich sah die Göttin Aphrodite mit dem Halbgott Adonis Arm in Arm und Bein an Beine in einem Himmelsbett auf einer Wolke liegen und zu uns lächeln. Wir gingen von dort nach Avignon, der Stadt der Päpste in Verbannung, da die provencalische Minne der Troubadoure am Papsthof erfunden worden, darum auch Petrarca seine Madonna Laura vor der Kathedrale der heiligen Klara, der Freundin des heiligen Franziskus, an einem Karfreitag strahlen sah wie eine irdische Göttin und ihr sein Leben und seine Poesie schenkte. Dort also vor der Kirche der heiligen Klara saß Carina und ich staunte sie an – die perfekte Schönheit, vollkommen, perfekt und makellos, süß wie Milch und Honig, die Schöne Liebe der Gottheit in einer unbefleckten Fleischwerdung! Wir wanderten weiter und kamen an die Ardeche, den Nebenfluss der Rhone, in ein Tal, das bepflanzt war mit Weinstöcken, über uns die Sterne – ich dankte den Sternen für die gute Ankunft! Das Weingelände schien wie geschaffen für antike Prozessionen zu Ehren des Weingottes Dionysos, da man den Stab mit Pinienzapfen vorantrug, ein Symbol für den heiligen Phallus des Gottes aller Begeisterung! Wir badeten in der Ardeche, da sah ich Carina vor mir sitzen wie eine Steinzeit-Madonna, eine Venus der archaischen Matriarchate, eine Fruchtbarkeitsgöttin aus dem Zweistromland, eine Große Mutter des Paradieses! Nachts aber saß ich unter dem Weinstock und las antike Oden, den allerbesten französischen Wein trinkend. Berauscht vom Wein und den Küssen der antiken Muse, legte ich mich zu Carina, die mich mit den Liebeskünste des Kamasutra in die himmlischen Paradiese der Liebeswonnen verzückte. Wir aber erhoben uns von unserm feuchten Lager, feucht vom heißen Kampf der beiden Liebeskrieger, und wandelten durch die Nacht. Da sah ich in einem Gesicht eine Weiße Dame, die erforschte ein Orakel, in einer Einsiedlerhütte am Bergeshang wohnend, und sprach zu mir: „Das Göttliche ist innen in dir!...“ Genug, wir wollen zum Ende kommen, meiner wohlgesonnenen Leserin nicht die Zeit zu stehlen. Es stand in den Sternen geschrieben, dass der Mannessamen und die Lust des Beischlafs aufgespart würden von der Schöpferischen Mutter bis ins Millennium, da die Frucht unsrer Liebe, Buffodontel, von der Priesterin der Großen Mutter geboren ward


FÜNFTES KAPITEL


Und nun ins Bettchen, hopp, hopp! sagte Wolfgang. Sie kletterten in das Hochbett. Felix kuschelte sich dicht an den großen Wolfgang und sagte: Liebes Wölfchen, erzähl mir noch eine Geschichte! Ja, was soll ich dir denn erzählen, sagte Wolfgang, lass mich mal nachdenken. Felix sagte: Erzähl mir von meiner lieben Mama! Ja, sagte Wolfgang, da fällt mir ein, wie das war, als deine Mama zum ersten Mal schwanger war. Wir waren auf der Nordsee-Insel Baltrum, dem Dornröschen der südlichen Nordsee, der kleinsten der Perlen an dem Perlengeschmeide des Ostfriesischen Archipelagus. Deine Mama war hochschwanger und ich war mit meiner Freundin Lili und ihrem Söhnchen mit deiner Mama nach Baltrum gefahren. Die Baltrum-Fähre, auf der mein Großvater einst ein Kapitän gewesen, fuhr durch den Nebel, den Nebel von Avalon, so kamen wir auf die Insel der Seligen. Dornröschen schlief unter den Heckenrosen. An den Heckenrosen wuchsen Hagebutten. Hagebutten sind auch Weinrosen, denn man kann aus Hagebutten Wein machen, aber auch Juckpulver, den man den Mädchen unter das Hemd schiebt, dann juckt es die Mädchen, das gibt einen Gaudi! Und die Weinrosen haben so weiße Kelchblüten, aus den weißen Kelchblüten der Hagebutten kann man dann den Weinrosen-Rotwein trinken. Da war auch die Heckenrosen-Fee, die schöne Hagebutten-Elfe auf Baltrum. Meine liebste Freundin Lili und ich saßen auf dem Balkon im Ostdorf und hörten dem Rauschen der Erlen zu. Die Erlen, sagt Orpheus, stehen am Ufer der Lethe. Die Zikaden zirpten in den Wiesen, als ob Goethe mit Eckermann spräche. Lili erzählte mir ihren Traum, einen unheimlichen Traum. Ich habe ihr den Traum gedeutet. Dann bin ich in der Nacht an den Strand gegangen und habe das Rauschen der südlichen Nordsee gehört. Ich glaube, ich habe die Ewigkeit rauschen gehört, den Ozean der Schönen Liebe. Ich bin mit Lili spazieren gegangen und wir haben gemeinsam den Bollerwagen gezogen, indem Lilis Söhnchen saß. Da habe ich auf dem Boden der Erde den Schatten gesehen von Lilis Hand und den Schatten von meiner Hand, und während sich unsere körperlichen Hände nicht berührten, haben sich die Schatten unserer Hände berührt, und unsere Schatten gingen Hand in Hand. Aber liebes Wölfchen, sprach Felix, du sprichst ja gar nicht von meiner lieben Mama! Immer nur von Lili! Ja, ja, das hat deine liebe Mama auch so oft gesagt und dann geseufzt: Du schaust mich gar nicht mehr so liebevoll an, immer starrst du nur auf Lili wie das Kaninchen auf die Schlange! Deine liebe Mama war immer eifersüchtig, dass ich Lili so leidenschaftlich liebe. Sie mochte auch rein gar nichts davon hören, wenn ich wieder einmal unter Lilis Launen so zu leiden hatte und deiner Mama klagen wollte, dann sagte sie: Ich will davon nichts hören! Du, Wolfgang, bist mein Freund, und Lili, ist meine Freundin, und ihr seid meine Familie! Aber dann hat sie doch immer den postillon d’amour gespielt und Versöhnung gestiftet zwischen Lili und mir, wenn wir uns wieder einmal periodisch bis aufs Blut gestritten. Und als deine liebe Mama gestorben und vor Gottes Thron getreten ist, da hab ich deine liebe Mama zum Schutzengel meiner Liebe erklärt. Deine Mama im Himmel muß nun immer wieder als Schutzengel meiner Liebe Frieden und Versöhnung ausgießen auf Lili und mich, wenn unser Drama einmal dissonant wird. Da sagte Felix: Und meine Mama ist auch mein Schutzengel? Aber ich möchte lieber eine Mama auf Erden als einen Schutzengel im Himmel! Wolfgang seufzte tief: Ach, in der Erinnerung ist deine Mama immer in dir und mit dir und bei dir. So erinnere ich mich noch gut, wie ich deiner Mama geholfen, den Erstgeborenen aufzuziehen. Ich habe damals begonnen, die Philosophie zu studieren. Und deiner Mama kleiner Erstgeborener, schön wie Apoll von Belvedere, war immer mein kleiner Alkibiades, denn ich war ja auf jeden Fall Sokrates, der Weiseste aller Weisen der Welt. Und wer war meine Mama, fragte Felix. Ja, ja, deine Mama war mir die rechte Xanthippe! Sie schickte mich mit dem Abfalleimer aus dem Haus und plagte mich mit Hausarbeit so sehr, dass ich immer heilfroh war, wenn ich einen vernünftigen Menschen traf, mit dem ich philosophisch spekulieren konnte. Aber von dieser Zeit will ich dir jetzt erzählen, und das ist meine Gute-Nacht-Geschichte:

SOKRATES


.Sokrates war mit dem Hahnenschrei erwacht und sah eben die Morgenröte an, gedachte eben des Gottes, der in ihm wohnte, der ihm die Ewige Weisheit offenbarte, welche als das göttliche Ideal der Schönheit das letzte Ziel alles wahren Eros ist – als Xanthippe seine Söhne zu ihm brachte, dass er ihnen das Brot schneide und die Glockensäuler von der Nase putze. Xanthippe ging ins Bad, sich waschen, und rief Sokrates noch eben zu: Im Hof ist der Abfalleimer umgefallen, bitte feg du den Abfall auf! Sokrates stand mit der Schaufel in der Hand und sah den Kot: Essensreste, überzogen mit Schimmel, gekochtes Gemüse, Orangenschalen, Nussschalen, alles zu einem ekelhaften Brei zusammengeklumpt. Ärgerlich fegte er den Kot in den Abfalleimer und seufzte seinem Genius zu: Wo ist sie hin, die göttliche Idee der Schönheit, die eben so rein wie der heilige Geist selbst am Morgenhimmel erschien? Rasch eilte Sokrates von Xanthippe fort. Er eilte in die Stadt. Immer wollte sie auf dem Lande leben, unter Bäumen, am liebsten im tiefen Walde, denn sie verehrte wie die thessalischen Hexen die Mutter Natur. Aber Sokrates liebte die Stadt, denn zwischen den antiken Säulen, den Statuen von Athene und Amor überall an den Wänden, begegnete man manchem geistreichen Mann. Allen geistreichen Männern aber zog er den Knaben Alkibiades vor, der schön war wie ein griechischen Halbgott! Der Dichter sagt: So neigt sich am Ende der Weise dem Schönen zu! Alkibiades war die reine Schönheit, das klassische Ideal der Griechen. Sokrates liebte ihn, nicht mit perverser Begierde, sondern mit der reinen Liebe der Seele, die nur die jugendliche Schönheit schauen wollte. Wenn Sokrates die Begierde überfiel, Eros, das heillose Vieh, dann ging er nachts zu Aspasia, der Edelhetäre, schaute sie an, wie sie sich Kleid um Kleid entblätterte wie eine Rose im Sommer und schließlich nichts war als Schoß und Busen, ganz wie eine Steinzeit-Venus! Aber wenn Sokrates abends mit Alkibiades zusammensaß beim Wein, dann begann der Geist in Sokrates zu erwachen und er dachte an die heilige Frau, an Diotima, die Priesterin der Liebe, die ihn eingeweiht in das göttliche Geheimnis der Liebe. Da erschien es Sokrates, der Eros seiner Seele strebe von der Schönheit des Alkibiades zur Seelenschönheit der heiligen Diotima und münde zuletzt in die ewige Schönheit Gottes – Diese, die Ewige Gottesschönheit, war die wahre Geliebte seiner erotischen Seele! So kam er wieder nach Hause. Xanthippe schwatzte eben noch mit einer Freundin, sie schwatzten und schwatzten, aber als Sokrates in seiner Trunkenheit eine lose Zunge bekam und sagte: Ah, du garstiges Eheweib! Meine wahre Gattin ist die Ewige Schönheit Gottes! – da schimpfte Xanthippe: Bist du schon wieder blau? Erst gestern hast du hundertzwanzig Drachmen an den Weinhändler verloren, und nun schwatzt du solch ein irrsinniges Zeug? Da gab Sokrates ihr einen Kuß und sagte: Schweig, Närrin! Sie war schon müde und lächelte ihn versöhnt an, ihre Pracht von Busen bebte, sie gingen in ihre getrennten Schlafzimmer, Sokrates, den Mond noch einmal anzuschauen, Xanthippe, um lange, lange zu schlafen.


SECHSTES KAPITEL


Der russische Volksaberglaube sagt, sprach Wolfgang, dass man in der Nacht auf den Sankt-Andreas-Tag von seiner Braut träumt. Wer ist denn deine Braut, fragte Felix. Nun, erst einmal will ich dir noch überliefern, dass deine Mutter die russische Sprache studiert hat. Sie hat mich eigentlich erst ins kultivierte Russland gebracht. Sie hat mir erzählt von Kyrill und Method, die die slawische Schrift erfunden haben, den beiden Aposteln der Slawen, und von der Großfürstin Olga, deren Sohn der Großfürst Wladimir war, der alle Religionen untersuchte, nämlich das germanische Heidentum, die persischen Feuerpriesterlehren, den Islam des Propheten Mohammed, die Philosophie des Buddha, das mosaische Judentum und das Christentum. Als er aber einmal in Konstantinopel, das ist Byzanz, in der Kirche der Hagia Sophia eine Heilige Messe sah unter der Leitung des Papstes und des Patriarchen von Konstantinopel, da bekehrte er sich zu dem einzig wahren Glauben, weil die Liturgie in der Hagia Sophia schön war wie die Hallelujachöre im Himmel. Deine Mutter erzählte mir von Zarin Katharina und ihren vielen Geliebten, unter denen auch Don Juan war. Deine Mutter stellte mich dem Fürsten Myschkin vor, der allen Erniedrigten und Beleidigten den Trost Gottes schenken wollte, der auch eine Predigt vom Starez Sossima hörte über die Liebe Gottes. Deine Mutter stellte mir den Doktor Juri Schiwago vor und seine beiden Frauen. Sie führte mich in den Weißen Saal im Fontanny Dom und ließ mich im Spiegel die Zukunft sehen, da mit tausendfachem Echo der Name Anna erklang, Anna, o Muse der Klage. Deine Mutter führte mich zu der Frau namens Phönix, die vor hundert Jahren in mich verliebt war und mir über die Zeitgrenze von hundert Jahren hinweg einen Liebesbrief schrieb. Deine Mutter stellte mich dem russischen Dichterfürsten Puschkin vor und seiner schönen Anna Kern. Ich hörte Puschkins Gebet: O Divina! O Femina! Ich lernte Tatjana kennen und lieben, die in der Kindheit am liebsten im Garten allein gewesen, die abergläubisch war und Träume deuten wollte, diese dunkle Schönheit Tatjana hatte mein Herz eingenommen. Dann lehrte meine Mutter mich ein russisches Gebet: O Mütterchen feuchte schwarze Erde, o Mütterrchen heilige Ruß, o Mütterchen Gottesmutter! Da lernte ich durch deine Mutter die Gottesmutter von Kasan kennen und die Gottesmutter von Wladimir. Ich sah, wie Russland die Ikone der Gottesmutter an die Front getragen und so Dschingis Khan vertrieben, die Russen die Ikone der Gottesmutter an die Front getragen und so Napoleon vertrieben, die Russen die Ikone der Gottesmutter im Flugzeug über der Front kreisen ließen und so den deutschen Dämon Hitler vertrieben. Ich kam bis nach Sibirien, wo ich eine Christin kennen lernte, die französische Verse über alles liebte, und ich kam bis zum Ewigen Eis und sah dort die Ikone der nackten Eva mit dem nackten Adam unter dem Lebensbaum, an dem nicht Äpfel hingen, sondern Brombeeren. Da habe ich das ganze heilige russische Reich dem Mütterchen Gottesmutter geweiht, denn wenn ihr Mutterherz in Russland triumphieren wird, dann wird ein neuer Menschheitsfrühling anbrechen. Da sah ich in der Morgenröte die Herrlichkeit des Herrn, das war die Jungfrau Hagia Sophia. Diese nämlich ist meine Braut. Felix sagte: Wer ist denn die Hagia Sophia? Wolfgang sagte: Sie ist Frau Weisheit. Felix lachte und sagte sehr klug: Ha, ich weiß, wer Frau Weisheit ist, das ist – Maria! Mein kleiner süßer Jesusknabe, sagte Wolfgang, ich will dir jetzt einmal von den beiden Katharinen erzählen, von der französischen Katharina aus Avignon und von der russischen Katharina aus Zarskoje Selo, denn davon habe ich deiner Mama oft erzählt. Sie lebt nun gewiss im Himmel auch in solch einem Lustschloß wie dem Lustschloß der Zaren in Zarskoje Selo. Ach, wär ich doch heute morgen einmal kurz in ihrem Himmlischen Schlafzimmer, stöhnte Wolfgang.


KATHARINA DIE GROSSE UND SANKT KATHARINA


Katharina die Zweite oder Katharina die Große, wie man sie nannte, hatte einen dummen Tyrannen von Russlands Thron gestürzt. Dieser Tyrann war ein Verräter, eine dumpfe Seele. Sie hatte sich einen Galan erwählt, der mit politischer Kunst den Tyrannen absetzte in dem Augenblick, den Katharina die Große für die rechte Stunde hielt. Sie trat in Uniform vor die Gardisten und sagte: Für Russland und den orthodoxen Glauben! Da fielen die Gardisten vor der wunderschönen Frau nieder und riefen: Zarin Katharina, Matruschka! So ward Katharina Zarin des heiligen russischen Reiches. Sie führte die aufgeklärte Monarchie ein. Sie war die Gebildete unter den absoluten Herrschern Europas. Sie berief Ärzte nach Russland, die Seuchen im Volk zu bekämpfen. Sie ließ Schulen und Hospitäler bauen. Sie führte einen Briefwechsel mit den aufgeklärten Geistern Europas. Um ihren Hof zu schmücken, sammelte sie die schönsten Gemälde abendländischer Kunst in der Eremitage. Als Krönung ihrer aufgeklärten, absoluten Herrschaft lud sie einen Zaren des Geistes, den Aufklärer Diderot, an ihren Hof. Der Franzose unternahm lange Spaziergänge durch den Schnee und beriet die Zarin in wesentlichen Fragen der Aufklärung. Alle Welt bestaunte Katharina, dass sie einen solchen großen Geist an sich fesseln konnte. Aber in Wahrheit ließ sie ihn reden: Rede Er, was Er wolle! Ich, ein Weib von Gottes Gnaden, weiß besser, was ich will! Die Heilige Katharina hieß zu Recht Katharina, denn der Name bedeutet: Die Reinheit! Katharsis heißt Reinigung. Die griechische Tragödie wollte durch das Anschauen schrecklicher Ereignisse die betrachtende Seele reinigen. So ist Katharsis eine Läuterung durch Leiden. Die Reinheit wird erreicht durch Läuterung, die von einem tragischen Leiden hervorgebracht wird. Die Heilige Katharina hatte sich dem Gekreuzigten Christus vermählt, sie, die leidenschaftliche Beterin, hatte sich dem Gottmenschen vermählt im Bett des Kreuzes, im Dornenbett der Passion! Als sie so gereinigt, eine große Reinheit der Seele erreicht, ging sie zum Papst. Der saß in Avignon in babylonischer Gefangenschaft und dichtete für irgendeine reizende Dirne närrische Minnelieder. Aber die heilige Katharina rief ihm zu: Laß ab von der nur-schönen Frau, die zu stolz ist, einen Minnesklaven zu lieben! Wende dich dem Gottesdienste zu! Verkünde Gottesliebe den Menschenkindern! Sei du als Heiliger Vater ein Diener aller Menschen, sei ein Sklave Jesu Christi, indem du ein Diener aller Schwachen, Armen, Kranken und Kleinen, Leidenden und Sterbenden bist! Das ist die wahre Minne! Dazu musst du wieder auf deinem Apostolischen Thron sitzen, der steht in der Kirche von Rom! Sei ein Apostel und Menschenfischer wie Sankt Peter! Sei ein Stellvertreter Christi auf Erden und ein Schatten des Ewigvaters, ja, sei du ein wahrhaft heiliger Heiliger Vater! – So führte die heilige Katharina den Papst wieder seiner Bestimmung zu.


SIEBENTES KAPITEL


Denken muß ich jetzt oft daran, sagte Wolfgang zu Felix, wie ich mit deiner lieben Mama den letzten Advent erlebt, den letzten Advent ihres Lebens auf Erden. Ach bitte, sagte Felix, erzähl mir davon. Ja, mein Liebling, gerne, sagte Wolfgang. Es war nämlich am Tag des heiligen Bischofs Nikolaus von Myra, da deine Mama und ich einen Spaziergang machten. Ich bat sie, mit mir zusammen die Weihnachtslieder unserer Kindheit zu singen, und sie kannte alle die berühmten christlichen Weihnachtslieder: Maria und Josef, die liebten sich im Stroh... Es ist ein Roß entsprungen... Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jungfrau Jerusalem, dein König kommt! Er kommt, er kommt auf seinem Esel geritten durch deine Pforte! Mach hoch die Tür, mach breit die Pforte! Denn der König will herein, der König der Ehre! Da hielten deine Mama und ich uns an den Händen und spazierten den Hasenweg zum Kanal am Deich. Der schmale Weg war ganz mit Schnee bedeckt, und deine Mama konnte schon fast nicht mehr laufen, so hakte ich meinen Arm unter ihren Arm und hielt sie fest und führte sie spazieren. Zu beiden Seiten des weißen Weges standen lebendige Bäume, alle überstreut mit Schnee, wie bestreut mit Puderzucker, und jenseits dieser schneeweißen Allee von Lebensbäumen aus Zucker breiteten sich diese Wiesen des Garten Edens, alle wie das weiße Laken auf dem Hochzeitsbett der Geliebten, alle weiß wie Milch. Über allem schwebte wie eine Wolke der Herrlichkeit ein milchweißer Nebelschleier, weiß und doch durchsichtig, wie der Schleier vor dem Antlitz der göttlichen Wahrheit. Der Himmel war ganz weiß, die allerweißesten Lämmerwolken spazierten am Himmel. So wandelten wir durch eine reine weiße Welt zu dem Wasser der Ruhe, zu den Auen des Lebens. Ich sagte zu deiner Mama: Schau, meine Freundin-Schwester, wir gehen jetzt schon auf Erden im Himmel spazieren, wir gehen spazieren im Innern des ewigen Lichtes Gottes. Da streichelte deine Mama meine Hüfte und sagte: Mein liebes Wölfchen, wir sind doch fast wie ein altes Ehepaar. Ich hatte immer Angst vor dem Tod. Aber wenn du, Geliebter, bei mir bist, dann hab ich keine Angst vor dem Tod mehr. Felix lächelte. Weißt du, sagte Wolfgang, deine liebe Mama war mir immer wie ein lebendiges Bild der allerheiligsten Gottesmutter mit dem Jesusknaben. Ich stand dabei so keusch wie Sankt Josef. Oder, wenn ich einmal bescheiden reden wollte, so wäre ich vielleicht wie der brüllende Stier im Stall, wie der schreiende Esel im Stall. Aber dieser geile Esel hat ja dem Jesuskind den Körper gewärmt. Felix sagte: Wie war noch einmal die Geschichte von dem heiligen Schwein? Wolfgang sagte: Als die allerheiligste Gottesmutter ihr Jesulein in die Krippe gelegt, da hat die schwarze Stute mit der Schnauze dem Jesuskind eine warme Bettdecke aus Heu bereitet. Darum segnete Jesulein die schwarze Stute. Aber das nackte Schwein hat dem Jesulein die Bettdecke weggezogen, so dass das arme Jesulein ganz nackt in seiner Krippe lag. Da hat die heilige Gottesmutter das Schwein verflucht: Von nun an sollst du zur Speise meiner auserwählten Lieblingen dienen! Felix lächelte. Wolfgang sagte: Ich erzähle dir jetzt einmal von der heiligen Familie. Denn ich habe eines Tages im Mai deine liebe Mama und alle ihre Kinder der heiligen Familie anvertraut. So höre mein Evangelium von der Heiligen Familie:

DIE HEILIGE FAMILIE


Liebe Mutter Maria! Du bist meine liebe Gottesmutter, denn dein Kind ist ein göttliches Kind, ja, du bist die Mutter der Dreifaltigkeit! (Du verstehst mich!) Ich habe ja nicht mit dir geschlafen. Ich liege auch nicht unter deinen weichen Decken in deinem breiten Bett. Aber Gott wollte, dass ich Pflegevater, Ziehvater des kleinen Jesusknaben bin oder meinetwegen auch Pate. Du bist, wie eigentlich jede Frau, mit Gott dem Bräutigam verheiratet. Aber ich bin auch dein Mann! Ich bin dein Mann, obwohl wir nicht miteinander schlafen. Und du bist die Mutter meines Kindes, obwohl dein Kind nicht von meinem Mannessamen gezeugt ist. Aber weil ich deinen Jesusknaben wie mein eigenes Kind liebe, ist es doch eben mein Kind. Ach, wie du mir dein Kind in die Arme gelegt hast und gesagt: „Das ist auch eine Art, wie man ein Kind zusammen haben kann, nicht wahr?“ Ach und wie der Jesusknabe mich angeschaut und mich immer so zärtlich Jo-Jo nennt! Nun wollen wir uns in Nazareth ein kleines Dorf bauen. Deine Mutter, die heilige Anna, die Großmutter des Jesuskindes, soll auch bei uns wohnen. Und ich hoffe, du hast einen schönen Garten für die Rosen und die Tulpen und die Nelken. Ich bin ja nur ein armer Mann, der gerne stille sitzt und nachdenkt über die Weisheit und die Propheten, ansonsten schnitz ich auch als Kunsthandwerker kleine Madonnen, ein wenig deine Schönheit zu verherrlichen! Aber ich will dem Jesuskinde den Popo putzen und dem Jesuskinde den Rotz von der Nase wischen. Ich will ihm soviel süße Feigen geben, bis du sagst: Nicht soviel süße Feigen, mein Jojo! Du erinnerst dich doch? Ach, wie schön das war, als das Jesuskind mit zwei Jahren eine tote Ente zum Leben erweckt hat! Ach, wie schön das war, als der Jesusknabe mit fünf Jahren alle seine Süßigkeiten an die armen Kinder im Dorf verteilte! Man wird uns noch die Heilige Familie nennen! Und alles, weil uns Gott, die Ewige Liebe, so unendlich liebt! Weißt du, ein Dichter hat einmal gesagt: Josef stirbt aus Liebe zur Mutter Maria, Maria stirbt aus Liebe zu Jesus, Jesus stirbt aus Liebe zur ganzen Menschheit! Wir wollen in Liebe zusammenleben. Wir wollen herzlich treu sein in Angelegenheiten der Liebe. Wir wollen einander die besten Freude sein. Wir wollen einander trösten in Traurigkeit und scherzen miteinander in freudigen Zeiten. Ah, Maria, wenn du tanzt, dann tanzen alle Sterne! Ah, Maria, wenn dein Busen hüpft, dann bebt die Erde! Ah, Maria, wenn du morgens deinen afrikanischen Schleier umbindest, geht die Sonne auf! O mein Jesusknabe, wenn du mich küsst, dann küsst mich die süße Zärtlichkeit Gottes! O mein Jesusknabe, wenn du mir liebevoll in die Augen schaust, dann schaut mich die Ewige Liebe an! O mein Jesusknabe, wenn ich dein Antlitz anschaue, betrachte ich die Göttliche Schönheit!


ACHTES KAPITEL


Felix, es ist Ostern! Ich habe gestern Nacht in einer Tele-Vision den Heiligen Vater gesehen, der die Heilige Messe der Osternacht im Dom Sankt Peter zelebrierte. Die göttliche Liturgie sprach vom Opfer Abrahams. Felix sagte: Ja, ich erinnere mich, wir haben einmal in einer Tele-Vision das Opfer Abrahams gesehen, ich, meine Brüder und Lilis kleiner Sohn. Als Vater Abraham seinen kleinen Sohn auf den Altar legte, um ihn Gott zu opfern, sagte Lilis kleiner Sohn: Fürchtet euch nicht! Am Ende geht alles gut aus! Ja, sagte Wolfgang, aber in dieser Osternacht gebot mir der Herr, dass ich als ein neuer Abraham ihm auch meinen Liebling zum Opfer bringe. Ich war erschrocken vor dem dunklen Gott! Aber ich willigte ein. So habe ich im Geiste dich auf den heiligen Altar gelegt und dich dem Ewigen aufgeopfert! Felix schaute Wolfgang mit großen Augen an und sagte mit prophetischer Stimme: Papa, wir werden uns nie, nie wiedersehen! Wolfgang sagte: Der Staatsanwalt hat dich mir weggenommen, er soll nun dein Erzieher sein. Er wird vielleicht dein Erzieher sein, aber ich werde doch dein Vater sein, denn ich habe dich in Gott gezeugt! Ich kann die Ewige Vorsehung nicht durchschauen, diese siebenfach verschleierte Gottheit, warum Sie es zulässt, dass der Staatsanwalt dich mir wegnimmt, aber ich muß in hoffnungsloser Hoffnung und übervernünftigem Glauben darauf vertrauen, dass alles Widrige des irdischen Schicksals doch von der Ewigen Güte der Vorsehung schließlich gelenkt wird zur ewigen Lust der unsterblichen Seelen! Ich glaube an einen dunklen Gott, den ich nicht mehr verstehe... Du musst nun gehen, Felix. Maria, unsre Himmlische Mutter, breite ihren grünen Sternenmantel über uns alle! Dein heiliger Engel begleite dich auf allen deinen Wegen! Felix weinte und sagte: Papa, pass gut auf dich auf! Adieu, sagte Wolfgang, verbarg seine Tränen und ging in die Nacht hinaus. Als Überwinder schrieb er in jener Nacht einen Essay für den Staatsanwalt, einen Essay vom Jüngsten Gericht.


JUSTITIA DIVINA


Der Ankläger


Der böse Feind Gottes und aller Menschen wird im Evangelium der Ankläger oder Verkläger unserer Brüder und Schwestern genannt. Der gefallene Engel tritt vor den Thron Gottes und klagt die Menschen an. Er hat ein schlechtes Herz, darum kann er nichts Gutes von den Menschen sagen, er kann nicht benedeien, Gutes sagen, sondern nur maledeien, Schlechtes sagen. Der Feind ist der, der alles üble Gerede in die Welt trägt, von jedem schlecht denkt und über jeden schlecht redet und über die Menschen lästert, sich gerne das Maul zerreißt, die üble Nachrede, den Rufmord, das große Mobbing in die Welt bringt. Er lästert nicht allein über alle Menschen, sondern vor allem über alles, was heilig ist, am allerliebsten über Gott, die Engel und die Gemeinschaft der Gläubigen. Dabei spricht er niemals die Wahrheit, sondern ist der Vater der Lüge. Er trat einst zu Gott und klagte Hiob an: Der fromme Hiob ist nur deshalb fromm, weil du ihm Söhne gegeben, Geld gegeben, ein Haus gegeben hast. Nimm ihm seine Söhne, nimm ihm sein Geld und nimm ihm sein Haus und gib ihm falsche Freunde, Gott, dann wird er anfangen, dich zu lästern. Aber Gott sagte als Verteidiger Hiobs: Du darfst ihn prüfen, Feind, denn ich glaube, dass mein treuer Knecht Hiob mir treu bleiben wird. Da nahm der böse Feind dem Hiob seine Söhne, seinen Wohlstand und sein Haus, Hiob aber sagte: Nackt kam ich aus dem Schoß meiner Mutter, nackt lege ich mich in den Mutterschoß der Mutter Erde und kehre nackt zu meinem Schöpfer heim. Gott sei gepriesen, Halleluja! Da trat der böse Feind zu Gott und sagte: Alles hast du Hiob genommen, was in der Welt den Menschen Freude macht, aber die Gesundheit hast du ihm gelassen. Darum rühmt er dich mit Hymnen, Psalmen und Oden. Aber gib ihm eine schreckliche Krankheit, lass seine Seele umnachtet sein und schenke ihm eine Seele voll des Jammers, siehe, dann wird er dich lästern. Gott sagte: Feind, gieße ihm eine schreckliche Krankheit ein, einen namenlosen Jammer der Seele, ich glaube an meinen Knecht Hiob, er wird mir klagen, aber er wird seine
Hoffnung auf die Auferstehung setzen und glauben, dass er in diesem seinem eigenen Körper Gott schauen wird. So also sehen wir das Wirken des Anklägers, des Verklägers unserer Brüder und Schwestern.

Der Advocat


Das Evangelium nennt den Heiligen Geist den Advocaten. Das griechische Wort ist Paraklet. Das lateinische Wort ist Advocat. Zu deutsch heißt das: Beistand, Tröster, Fürsprecher. Advocat heißt: Herbeigerufener. Der Heilige Geist ist der Beistand der Gläubigen, die Kraft Gottes, der Führer der Gläubigen, der die Gläubigen in die Fülle der Wahrheit führt, der Tröster, der die verbannten Kinder Evas in diesem Tal der Tränen tröstet, der Fürsprecher, das heißt der, der in den Seelen der Gläubigen selber als Gott das Gebet zu Gott betet. Er vertritt die Gläubigen, die nicht wissen, was sie Gott sagen sollen im Gebet, er vertritt die Gläubigen, indem er in unaussprechlichen Seufzern all ihren Jammer vor Gott bringt. Der Heilige Geist lässt die verbannten Kinder Evas nicht als Waisenkinder zurück, sondern der Beistand selbst ist der Vater der Armen und er betet in den Kindern Gottes: Abba, Lieber Vater Unser in dem Himmel! Der Heilige Geist als der Beistand, der Anwalt, wird auch die göttliche Liebe genannt, das heißt die Caritas, die sich der Waisenkinder annimmt und die Unschuldigen im Gericht verteidigt.

Advocata nostra


Maria ist die Braut des Heiligen Geistes. Da sie als die Ehefrau des Heiligen Geistes den Namen des Heiligen Geistes annimmt, heißt die Braut des Advocaten also Advocata. Im Gebet heißt es: Gegrüßet seiest du, o Königin, o Mutter der Barmherzigkeit! Du bist unser Leben, unsre Hoffnung, unsre Süßigkeit! Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas, trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Auf denn, Advocata, Herbeigerufene! Wende deine barmherzigen Augen uns zu! O gütige, o milde, o süße Maria! Als Adovocata ist sie die Fürsprecherin, das heißt die, die die Anliegen all ihrer Kinder vor den Thron Gottes bringt und nichts erbittet als die Geschenke der göttlichen Liebe für all ihre Menschenkinder. Wenn auch Gott selbst allein die Frucht ihres Leibes war und sie außer Gott keinen Menschen geboren hat, so nimmt sie doch von Herzen alle Menschenkinder der ganzen Welt als ihre lieben Kinderlein an. Alle Menschenkinder sind ihre Kinder, nicht in leiblicher Mutterschaft ist sie unsere Mutter, sondern in geistiger Mutterschaft. Sie ist die Benedeite unter den Frauen. Gott sagt nur Gutes über die Advocatin. Maria selbst weiß, dass Gott nur Gutes über sie denkt und nur Gutes über sie sagt, und darum segnet Maria auch alle ihre Kinderlein und redet nur erbauliche Worte und flucht keinem Menschen, in ihr ist nichts als Güte, Milde und Süßigkeit. Wenn ihre Kinder sagen: Der Himmel ist ein Himmel voller Süßigkeit, so sagt die Advocata: Ja, der Himmel ist ein Himmel, da ihr alle euch mit Maria an der Süßigkeit der göttlichen Liebe freut! Aber sie ist kein Zuckerpüppchen, sondern ist auch eine starke Frau, ja, eine Kriegerin, denn, wenn sie ihre Kinder als Advocata verteidigen muß gegen die Angriffe des Anklägers, dann nimmt sie die scharfen Waffen des Gebets und die feurigen Pfeile der Liebe und kämpft wie eine Löwenmutter für ihre Löwenjungen!

Der Richter


Gott der Ewige hat seinen göttlichen Sohn, den Menschen Jesus von Nazareth, der auferstanden ist von den Toten, eingesetzt zum Richter der Lebenden und der Toten. In der Stunde des Todes tritt jede Seele vor ihren persönlichen Richter Jesus. Der heilige Johannes vom Kreuz sagte: Wir werden alle gerichtet nach dem Maß der Liebe und der Richter ist die barmherzige Liebe. Jesus selbst sagt im Evangelium: Ich werde euch als Richter fragen: Habt ihr die Kranken im Krankenhaus besucht? Habt ihr den Sterbenden die Hand gehalten? Habt ihr die Witwen getröstet? Habt ihr die Waisenkinder aufgenommen? Habt ihr denen ein Zuhause gegeben, die kein Zuhause mehr hatten? Habt ihr den Kindern zu essen und zu trinken gegeben? Habt ihr den Kindern Kleidung gegeben? Alles, was ihr meinen kleinsten Brüderlein getan habt, das habt ihr für mich getan, denn ich, das göttliche Jesuskind, lebe in den Seelen meiner kleinsten Brüderlein! Wenn ihr dies alles getan habt, dann kommt und geht ein in meine Ewige Wonne!

Lass Gnade vor Recht ergehen!


Wer kann bestehen vor der Gerechtigkeit Gottes? Gott ist heilig, heilig, heilig! Wer sich aber gewissenhaft selbst prüft, wird erkennen, dass seine Seele nicht makellos weiß ist, sondern Flecken der Schuld hat. In die totale Heiligkeit Gottes kann keine schuldbefleckte Seele eingehen. Das ist das Urteil der Gerechtigkeit Gottes. Aber in Gottes Mutterschoß wühlt die göttliche Barmherzigkeit. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit ist abgeleitet von dem Wort für Mutterschoß. Jesus sagte: Die ganze Welt ist in meiner göttlichen Barmherzigkeit tiefer geborgen als ein Kind im Schoße seiner Mutter. Wir wollen also die göttliche Barmherzigkeit anrufen, um ins Paradies zu gelangen. Wenn wir aber die göttliche Barmherzigkeit anrufen, müssen wir selber barmherzig werden. Barmherziger Jesus, lehre mich barmherzig zu denken, zu reden und zu handeln. Laß mich in den Seelen meiner Mitmenschen immer das Gute und Schöne sehen! Laß mich nur Segensworte sprechen und niemals Fluch und Lästerung aussprechen, schenke mir eine barmherzige, milde und gütige Zunge! Laß mich barmherzig sein in meinen Taten. Laß mich geistige Werke der Barmherzigkeit tun, indem ich Menschenkinder belehre und tröste, und laß mich materielle Werke der Barmherzigkeit tun, indem ich Menschenkinder ernähre und kleide. Dann vertraue ich darauf, dass du, barmherziger Jesus, der du wohnst im Mutterschoß Gottes, auch mich armen Sünder in das Paradies aufnehmen wirst!

Die juristische Interpretation der Kreuzigung Jesu


Der heilige Anselm von Canterbury deutete das Kreuzesopfer Jesu juristisch. Im Anfang schuf Gott die Menschen, damit sie in Gemeinschaft mit der Liebe Gottes leben. Die Menschen aber trennten sich in der Urschuld von Gott und wollten selber Gott sein. Die Folge dieser Trennung vom Ewigen Leben Gottes ist die Ewige Tod des Menschen. Gott hat nun diese Todesstrafe für die Schuld der Menschen auf den Sohn Gottes gelegt. Der Sohn Gottes hat die Strafe des Ewigen Todes stellvertretend für die ganze Menschheit getragen und ist gestorben. Gott aber hat ihn auferweckt aus dem Totenreich und nun kann die Menschheit, erlöst vom Ewigen Tod, von Christus das Ewige Leben sich schenken lassen. Oder, um es juristischer auszudrücken: Gott der gerechter Richter, hat die Schuld des Menschen verurteilt, das Urteil war die ewige Verdammnis. Aber der Richter hat die Strafe auf seinen eigenen Sohn gelegt und so die schuldige Menschheit freigesprochen. Da die Strafe vom Sohn getragen worden ist, kann der Ewige Vater die Menschheit freisprechen und ihr das Ewige Leben schenken. Die Schuld der Menschen hat die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes beleidigt. Zur Widergutmachung für diese Beleidigung Gottes muß die Menschheit dem beleidigten Vater ein Opfer bringen. Sie brachten ihm Opferblut von Lämmern. Aber die Schuld von Menschen kann das Blut eines Tieres nicht wiedergutmachen. Gott selbst hat darum in seiner Menschwerdung als Mensch selbst das Opfer gebracht: Der menschgewordene Sohn Gottes hat das Opfer der Wiedergutmachung der Beleidigungen Gottes am Kreuz gebracht, da er stellvertretend für die Sünden der Menschen als Wiedergutmachungsopfer sich dem Ewigen Vater geopfert hat. Somit ist die Schuld des Menschen von Christus bezahlt und wiedergutgemacht worden. Die Strafe für diese Schuld ist somit hinfällig. Der Mensch steht schuldlos und gerechtfertigt vor Gott. Das nennt man Versöhnung. Der Mensch ist wieder versöhnt mit Gott und kann wieder in Gemeinschaft mit der Liebe Gottes leben und von Gott erneut das Ewige Leben empfangen.

Rechtfertigung


Wie wird der schuldige Mensch vor Gott zu einem Gerechten? Luther sagte: Der Mensch ist ganz und gar verdorben. Er kann gerecht vor Gott nicht anders werden, als dass er an Jesus glaubt. Dann wird er von Gott gerecht-gesprochen, nicht aber gerecht-gemacht. Gott tut so, als wäre er ein Gerechter, er bleibt aber ein Sünder, ein schuldiger Mensch. Die katholische Kirche sagt: Der Mensch, der schuldig ist vor Gott, wird reingewaschen von dem kostbaren Blut Jesu. Im Sakrament der Taufe wird ihm die Schuld genommen und der Mensch wird gerechtgemacht. Allerdings bleibt noch eine gewisse Neigung beim Menschen, wieder in Sünde zu fallen und seine in der Taufe reingewaschene Seele wieder zu beflecken durch schuldhaftes Denken, Reden und Tun. Diese Sünden werden abgewaschen von dem Blut Jesu im Sakrament der Versöhnung, der totalen Sündenvergebung. So wird der Mensch durch Christus gerecht-gemacht.

Das Gesetz Moses


Die Zehn Gebote sind das Gesetz Gottes. Paragraph 1: Ich bin Jahwe, dein Gott, du sollst keine andern Götter neben mir haben. Das heißt, du sollst weder Allah, noch Buddha, noch Krishna anbeten, auch nicht die Marmorstatue der Aphrodite, du sollst auch nicht den Mammon anbeten, aber auch nicht die Gesundheitsgöttin Hygiene, noch auch die Schicksalsgöttin der Astrologen. Paragraph 2: Du sollst dir kein Bild von Gott machen. Meißele nicht eine nackte Hure in Stein und bete sie dann als Göttin der Liebe an! Mache dir auch nicht das Bild vom Vater im Himmel nach dem Gleichnis deines unväterlichen Vaters! Paragraph 3: Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen. Das heißt, du sollst nicht im Namen Gottes Krieg führen und nicht im Namen Gottes Selbstmord begehen. Paragraph 4: Du sollst den Ruhetag heiligen. Das heißt, du sollst nicht ununterbrochen arbeiten, sondern am Sonntag dir Zeit nehmen für Gott, für die Familie, für die Muße und die Kultur. Paragraph 5: Du sollst Vater und Mutter ehren. Das heißt: Du sollst deinen Vater beerdigen und deine Mutter, wenn sie alte Witwe ist, mit Gottes Zuspruch trösten. Du sollst deinen Eltern alles verzeihen, was sie dir Böses getan haben, denn du weißt, dass du selbst auch schuldig geworden bist an Kinderseelen, die der Schöpfer dir anvertraut hat. Paragraph 6: Du sollst nicht töten. Das heißt: Du sollst keine Kinder abtreiben, du sollst keine Euthanasie begehen, du sollst dich nicht selbst ermorden und du sollst keinen Krieg beginnen. Paragraph 7: Du sollst nicht ehebrechen. Wenn du vor Gottes Angesicht die Treue versprochen hast, sollst du dich nicht scheiden. Ein Mann soll nicht mit einem Mann verkehren und eine Frau nicht mit einer Frau. Du sollst die Ehe und Familie heiligen als ein Abbild der Liebe Gottes. Paragraph 8: Du sollst nicht stehlen. Das heißt: Du sollst weder habgierig noch neidisch sein. Du sollst das Privateigentum achten. Du sollst mit dem Geld verantwortlich in Gerechtigkeit umgehen und deinen Besitz zum Gemeinwohl einsetzen. Paragraph 9: Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen über deinen Nächsten. Das heißt: Du sollst nicht lügen, du sollst nicht lästern, du sollst nicht üble Nachrede tun, du sollst nicht verleumden, du sollst nicht andere Menschen verfluchen, du sollst dir nicht das Maul zerreißen, du sollst nicht mobben. Zügle deine Zunge und rede nichts als Worte der Güte und Wahrheit. Paragraph 10: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Bauernhaus, deines Nächsten schönes Weib, deines Nächsten Kinder, deines Nächsten Katzen und Hunde. Freue dich vielmehr, dass Gott deinem Nächsten solch ein schönes Bauernhaus geschenkt und dass Gott solch ein schönes Weib geschaffen, die dir eine gute Freundin sein will, und freue dich an den Kindern deines Nächsten und segne sie allezeit und sorge für die Katze deines Nächsten und staune über die Hündin deines Nächsten. – Wenn du also diese Paragraphen Gottes alle einhältst, bist du ein guter und gerechter Bürger im Gottesstaat, im Himmelreich des ewigen Königs. (Solltest du dennoch das Weib deines Nächsten begehren, so bitte Jesus um Verzeihung.)

Das Gesetz Christi


Das alleinige Gesetz Christi ist die Liebe. Liebe Gott über alles, liebe Gott von ganzem Herzen, mit allen deinen Kräften und mit deiner ganzen Vernunft, und liebe deinen Mitmenschen, wie du sich selber liebst. In einer anderen Schrift formuliert Jesus Christus das Gesetz Christi so: Liebe deinen Nächsten so, wie ich dich liebe!


NEUNTES KAPITEL


Nun war Wolfgang allein. Der Einzige, der ihn auf Erden geliebt hatte, war ihm genommen. Auf Erden wollte keiner seine Liebe mehr haben, darum wandte er seine Liebe zu den seligen Toten. Er schaute alle Gedichte an, die er seiner toten Freundin je geschrieben hatte, sie hatte sie alle gesammelt in einer roten Mappe. Er schrieb sie ab und machte ein Buch daraus als Requiem für die Freundin. Das erste Liebesgedicht, dass er für sie geschrieben hatte, am Tage ihres ersten Kennenlernens, schrieb er mit besonders schöner Schrift ab und legte es auf einen kleinen Venus-Altar, den er zum Angedenken seiner zur Venus verklärten Freundin errichtet hatte. Es war die

ODE AN ANADYOMENE

Anadyomene, du Liebesgöttin
Der gemeinen Sinnlichkeit, Lust und Wonne,
Dank für deine Dienerin, für die nackte
Venus Carina!

Anadyomene, du inkarnierte
Große Gottheit Ewiger Schöner Liebe,
Durch den Kult des spirituellen Beischlafs
Bin ich vergottet!


Dann schrieb Wolfgang zu seinem einsamen Trost ein Liebesgespräch zwischen ihm und der Ewigen Liebe.


AN DIE EWIGE LIEBE


DIE EWIGE LIEBE:
Mein Kind, ich habe dich schon immer geliebt. Ich habe dich aus Liebe in die Welt gebracht und alle deine Wege mit Liebe bewacht und geleitet, bis du schließlich zu mir gefunden hast.
DER MENSCH:
O Liebe! wunderschön ist deine Güte,
Mit der du sanfte mich zu dir gezogen!
Ich bin dir ja so gern ans Herz geflogen
Mit dem Gemüte und mit dem Geblüte!
Wie lange ich mich doch vergebens mühte,
Du warst mir ohne mein Verdienst gewogen!
Inmitten unglücksschwarzer Flutenwogen
Mir deine süße Morgenröte frühte!
Da sah ich deiner Schönheit Lockenspitze
Und deiner Strenge blaue Augenblitze
Und deines Mundes dornenlose Rose.
Du schicktest Boten aus, die süßen Winde,
Den Leib zu tragen deinem lieben Kinde,
Bis daß er Ruhe fand in deinem Schoße.
DIE EWIGE LIEBE:
Wie hast du immer und immer wieder geirrt und dir schöne Bilder von mir gemacht, die doch an meine wahre Schönheit nie von ferne auch nur heranreichten. Nein, meine Herrlichkeit konntest du erst erkennen, als ich dich meinem Herzen gleichmachte, und darum mußtest du leiden.
DER MENSCH:
O Liebe, nähre mich mit deinem Blute,
Das dir geflossen ist von deinem Herzen,
Als du gedachtest mein in deinen Schmerzen,
Als du gepeinigt wurdest von der Rute
Der Sünde und des Fluches. O du Gute,
Dir zünd ich meiner Andacht heilge Kerzen,
Stell sie zu deinen Füßen goldenerzen
Und schaue, wie dein Feuerauge glute.
Den einen bist du schrecklich, furchtbar, herrisch,
Die andern reden blöd von dir und närrisch,
Ich aber will anbetend dich verehren!
Du gabest mir aus Güte süße Töne,
Ich geb sie wieder deiner Gnadenschöne
Im Himmel aus kristallnen Meeren.
DIE EWIGE LIEBE:
Was du auch immer sagen magst, geliebte Seele, ich bin anders. Ich erkenne dich, denn die Liebe ist die Weisheit, nach der sich alle sehnen, du aber erkennst mich nur unvollkommen. Dennoch will ich dich nicht lange mehr im Ungewissen lassen und habe dir meinen Geist ins Herz geküsst, der dir mein Wesen verherrlicht.
DER MENSCH:
Ich dank dir, Liebe, dir und deinem Geiste,
Für deine Weisheit, süßer als die Küsse
Von Menschen, strömender als alle Flüsse
Der Erde; Gnade, was auch je ich leiste;
O Gnadenreiche, als ich dir entgleiste,
Da kamest du: ‘Daß ich dich retten müsse,
Das sagten meines Herzens Feuergüsse!’
Ich dank dir, Liebe, dir und deinem Geiste!
Du machtest mich zu deinem Lieblingskinde,
Zu einem Heißgeliebten trotz der Sünde,
Zu einem König und zur Himmelsseele!
Ich will dich lieben mit dem Sturm im Blute,
Mit dem Gemüt und dem Verstand, o Gute,
Auf daß ich ewig zu den Deinen zähle!
DIE EWIGE LIEBE:
Diese Hoffnung hast du auch nur, weil mein Herz so voller Liebe zu dir war, daß ich deinen schönsten Träumen von der unsterblichen Liebe Wahrheit und Ewigkeit geben wollte in einer Herrlichkeit, die schöner als deine Sehnsüchte und Träume sein wird. Darum ist mein Herz auch schon erfinderisch, dir ein Paradies der Liebe zu bauen, und nicht nur dir, sondern all meinen Geliebten, mit denen du in Liebe verbunden sein darfst.
DER MENSCH:
O große Hoffnung auf die Paradiese,
In welchen nur geliebte Kinder leben
Und um die Engel ihres Lebens schweben
Wie Schmetterlinge auf der Blumenwiese.
Gemäntelt mit des Lammes goldnem Vliese
Werd ich im lichten Liebesgarten beben
Und ewig preisend Wunderfabeln weben
Von ewiglicher Liebe Honigsüße.
Und meines ewiglichen Leibs Atome
Gehn durch das Perlentor zum Jaspisdome,
Wo ich dir dann zu Füßen liegen bliebe.
Und alle Kinder goldne Kronen warfen
Zu deinen Füßen, nahmen goldne Harfen
Und wurden Dichter von der Ewigen Liebe!
DIE EWIGE LIEBE:
Du magst gern dich versteigen an den untersten Rand der wahren Verzückung, ich weiß mein Kind, ich habe deine Seele und dein Herz auf diese Art geschaffen. Aber steig von der Höhe in die Tiefe deines Herzens und gebe mir den tiefsten Lobpreis deiner Innigkeit, voller Einfalt, als Schlußstein deiner Poesie, ich will dir mit meinem Geiste helfen, wenn du mich darum bittest.
DER MENSCH
Ich bitte dich, Frau Liebe, daß du den Geist deines Herzens in meinem Herzen erweckst, deinem süßen Herzen ein inniges Lob zu singen. Sela.
Ich hab dich lieb, du weißt es, meine Liebe,
Vater und Mutter mir in meinem Herzen
Und Trostes Bruder mir in meinen Schmerzen.
Ich liebe dich mit meinem reinsten Triebe,
Auf daß ich je in deiner Liebe bliebe,
Drum zünd ich der Gebete weiße Kerzen.
Ich klagte einst, doch werd ich ewig scherzen
An deiner Honigrosenlippe, Liebe!
Ein Kind zu sein inmitten lieber Kinder,
Vom Liebesucher werden Liebefinder,
Das ist das Höchste aller Seligkeiten...
...Erbarm dich mein, o Liebe, meiner armen
Begehr nach dir, hüll mich in dein Erbarmen
Und liebe Zeiten mich und Ewigkeiten!

Und damit schloß der Hymnus an die Ewige Liebe, der Mensch sah aus dem Burgfenster von Bingen, sah die Weinberge, und in der Nacht wandelte Luna am Himmel, die treue Zeugin der Ewigen Liebe.