Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

SCHAU MARIENS


Von Josef Maria Mayer



ERSTER GESANG


Bei dem Kreuze Jesu

Standen seine Mutter,

Und die Schwester seiner Mutter,

Maria, die Frau des Klopas,

Und Maria Magdalena.

Als Jesus seine Mutter sah

Und bei ihr den Jünger,

Den er liebte,

Sagte er zu seiner Mutter:
Frau, siehe, dein Sohn!

Dann sagte er zu dem Jünger:
Siehe, deine Mutter!

Von jener Stunde an

Nahm der Jünger Maria bei sich auf.


Maria symbolisiert die Kirche,

Der Jünger Johannes symbolisiert den Christen,

Der die Kirche liebt

Wie ein Sohn seine Mutter liebt.


Weil ich aber unter der Last des Alters spüre,

Daß mir nur noch eine knapp bemessene Zeit bleibt,

Auf Erden mich der Sonne zu freuen,

Drängt es mich unwiderstehlich,

All meinen Söhnen in Christus

Und jeder einzelnen Seele zu wiederholen

Die Worte, die Jesus am Kreuz gesprochen:
Siehe, deine Mutter!

Als schöne Fügung würd ich es betrachten,

Wenn ich durch meine Hinweise

Dahin wirken könnte,

Daß die Christen Maria mehr verehren

Und dass alle Christen

Sich das Vorbild des Johannes

Zu eigen machten:
Von dieser Stunde an

Nahm der Jünger Maria bei sich auf.


Das Wort Jesu ist schöpferisch.

Wenn Jesus sagt:
O Frau, siehe, dein Sohn!

So macht er in diesem Augenblick

Maria wirklich zur Mutter.

Er gibt ihr nicht nur den Namen einer Mutter,

Sondern auch das Herz einer Mutter,

Sowie alle Gnade und Weisheit,

Die einer Mutter notwendig sind.

Jesus hatte dieses Wort kaum ausgesprochen,

Als Maria in ihrem Innern

Die ungeheure Zärtlichkeit fühlte,

Die ganze Liebe

Einer wahren Mutter der Kirche.

Jesus hatte kaum sein Wort gesprochen,

Als der geliebte Jünger

Augenblicks Liebe fühlte

Zu seiner Mutter Maria.


Siehe deine Mutter!

Liebe nun diese Frau,

Schau auf Maria,

Nimm sie bei dir auf,

Nimm deine Zuflucht zur Mutter.

Es sind die Worte Jesu

Nicht leere Menschenworte,

Die nichts als Wind sind,

Sondern wirksame Worte,

Jesu Worte bewirken, was sie sagen.

Darum erschufen Jesu Worte

Die Sohnesliebe des Johannes

Und die Mutterliebe Mariens.

Siehe deine Mutter,

Aber auch die Mutter aller Apostel,

Die Mutter aller Christen,

Die Mutter aller Menschen,

Für die du jetzt hier stehst.

Deswegen müssen alle Christen

Zu Maria als zu ihrer Mutter

Mit großer Zuversicht

Und Liebe flüchten!


Suche ich den wahren Grund,

Warum Jesus Maria Frau nennt

Und nicht Mutter,

Denk ich, er wollte sagen

Mit dem Worte Frau,

Daß Maria die große Frau ist,

Die schon im Buche Genesis

Als Schlangenzertreterin angekündigt,

Denn durch Maria wird jene Kirche bezeichnet,

Die den ganzen Christus umfasst,

Christus das Haupt und die Christen die Glieder.

Maria ist Mutter des Hauptes Christus

Und Mutter des Leibes Christi,

Mutter aller Glieder Christi,

Mutter jedes Christen.

Johannes ist ja auch nicht Johannes genannt,

Sondern: der Jünger, den Jesus liebt,

Damit wir erkennen,

Daß Maria die Mutter ist

Jedes geliebten Jüngers Jesu,

Mutter jeder christlichen Seele,

In welcher Christus lebt

Durch den Geist Gottes.


Jesus sagte nicht zu Maria:
Siehe hier, in der Person des Johannes,

Einen andern Sohn als Jesus,

Sondern Jesus sagte:
Frau, siehe deinen Sohn!

So wollt er ihr sagen:
Du, Maria, hast nur einen Sohn

Und der ist Jesus in dem Jünger.

Denn durch die Erlösung am Kreuz,

Durch das Geheimnis der Wiedergeburt

Im Blut des Gekreuzigten,

Wird Johannes dem Christus einverleibt.

Der Jünger und Jesus

Sind jetzt ein und derselbe.

In Johannes, der unterm Kreuze steht,

Hast du, o Große Frau,

Deinen Sohn, denselben, der am Kreuz hängt,

Deinen Jesus, den du gebildet,

Der jetzt in seinem Jünger lebt,

Wie das Haupt mit den Gliedern verbunden ist.

Nichts mangelt meinem Jünger, den ich liebe,

Mein andres Selbst zu sein,

Eines Wesens mit mir zu sein.

Da ich dein Sohn bin,

Ist er dein Sohn.

Und alle, die den gleichen Anspruch haben

Wie Johannes, nämlich Jünger zu sein,

Von Jesus geliebt,

Die sind in mir

Dein einziger Sohn.


Denn keiner ist der Sohn Mariens

Als Jesus allein.

Wenn Jesus zur Gottesmutter sagt:
Siehe deinen Sohn,

So sagt er zu Maria:
Siehe, dieser Jünger ist Jesus,

Den du geboren hast.

Denn in der Taufe ist der Christ

Mit Christus eins geworden,

Wiedergeboren im Bad der Taufe

Zu einem Glied am Leibe Christi.

Da nun Christus im Christen lebt,

Sagt Christus zu Maria:
O Große Frau,

Siehe deinen einzigen Sohn,

Den gesalbten Christus im Christen!


Die Mutter Jesu stand neben dem Kreuz

Und freute sich über den Sieg

Im glorreichen Kampf

Gegen Sünde, Teufel und Tod,

Denn sie wusste,

Er wird triumphieren,

Und zugleich war Maria

Ganz aufgelöst in Trauer,

Weil Jesus so allein war

In seinem Kampf,

Weil Jesus ohne Hilfe von Menschen,

Ja, sogar von Gott verlassen war

Und ganz allein

Die Kelter treten musste,

Bis Jesus ganz erschöpft

Und übergossen von Blut

Den letzten Atemzug tat

Und seine Mutter zurückließ,

Beraubt ihres einziges Glücks!

Standhaft stand Maria beim Kreuz.

Das Feuer der Liebe

Erfüllte sie mit solcher Kraft,

Daß weder Juden noch Römer,

Weder Soldaten noch der Pöbel

Und auch nicht die heftige Bitterkeit

Ihrer Seelenschmerzen sie bewegen konnte,

Vom Kreuz zu weichen.

Sie blieb beim Kreuze stehen,

Ob auch ein Schwert in ihr Herze drang.

Da drang das Wort

Ihres sterbenden Sohnes

An ihr empfängliches Ohr:
Frau, siehe deinen Sohn!

Durch dieses Wort

Ward der Mutter Gottes

Der Diener an der Stelle des Herrn

Zum Sohn gegeben,

Der Jünger an der Stelle des Meisters,

Der Mensch an der Stelle des Gottes.

Dieses Wort war wie ein scharfes Schwert

Im Herzen Mariens,

Der Schmerz aber öffnete ihr Herz

Für eine allumfassende Mutterliebe.



ZWEITER GESANG


Nachdem ich meine irdische Mutter verloren,

Hab ich meine himmlische Mutter

Besser verstanden.

Jesus sprach am Kreuz das Wort:
Siehe deine Mutter!
Da wusste ich, dass er das zu mir gesagt,

Jesus sagte zu mir persönlich:
Siehe deine Mutter Maria!


Mancher von uns bewahrt

In seinem Herzen die Erinnerung

Und süße Liebe

Zu einem besondern Wallfahrtsort Mariens,

Wo sein Leben einen besondern Ruf

Empfangen und eine Einladung

Des unbefleckten Herzens

Der schönen Madonna.


Maria, die Mutter Christi,

Ist die Mutter aller Menschen.

Sie findet sich wirklich

Mit allen Kindern Adams verbunden.


Die neue Mutterschaft Mariens

Ist Frucht der neuen Liebe,

Die unter dem Kreuz

Durch Teilhabe und durch Mitleid

Mit dem Erlöserleiden Jesu

In ihr zur vollen Riefe gekommen ist.


Der Jünger nahm die Mutter zu sich,

Er nahm sie in seine Wohnung auf.

Ein besonderes Zeichen

Der Mütterlichkeit Mariens

Sind die Orte, wo sie uns begegnet,

Die Häuser, in denen sie wohnt,

Wohnungen, in denen man spüren kann

Die besondere Nähe der Mutter.


Der Jünger nimmt sie bei sich auf,

Er nimmt sie hinein in seine Probleme,

In die Probleme der andern,

In die Probleme der Familie,

In die Probleme seines Volkes und aller Völker,

In die Probleme der ganzen Menschheit.


Die geistige Mutterschaft

Mariens ist Teil der Kraft

Des Geistes, der das Leben schenkt.


Das unbefleckte Herz Mariens

Wurde geöffnet durch die Worte:
Frau, siehe dein Sohn!

Dies Herz Mariens ist verbunden

Mit dem Herzen Jesu,

Das von der Lanze

Des römischen Soldaten geöffnet wurde.

Das Herz Mariens ist auch geöffnet worden

Und erfüllt von der gleichen Liebe zum Menschen,

Der gleichen Liebe zur ganzen Welt,

Maria hat die Liebe,

Die Jesus in sich hat,

Die Liebe, mit der sich Jesus hingab

Am Kreuz bis zum Lanzenstoß des Soldaten.


O Mutter aller Menschen!

Die geistliche Mutterschaft

Kennt keine Grenzen.

Sie erstreckt sich über alle Zeiten

Und alle Räume.

Sie erreicht alle Völker.

Die Mutterschaft

Ist das beliebteste Thema

Des schöpferischen Geistes.


Jeder von uns darf sagen:
Jesus hat mich angeschaut

Und mich lieb gehabt.

Jesus hat gerade zu mir geschaut

Und mich auf besondere Weise geliebt,

Als er vom Kreuz herab

Zu seinem Lieblingsjünger sagte

Und dabei auf Maria wies:
Siehe, deine Mutter!


Jesu Mutter war das Geschenk

Des Abschieds Jesu von der Erde,

Dies Geschenk ist die Frucht

Seines Opfers und ist Geschenk

An die ganze Menschheit.


Mariens Mutterschaft als Jesu Geschenk

Ist die Krone der Erlösung.


Aber Jesus wählte Johannes aus,

Ihm die Mutter zu schenken,

Denn Jesus schenkt allen geliebten Jüngern

Die Mutter Jesu zur Mutter,

Ihre Liebe soll alle umfassen,

Aber Jesus stellte einen Jünger neben die Mutter,

Denn die Mutterschaft Mariens

Ist individuell,

Maria ist nicht einfach Mutter der Kirche,

Mutter des Leibes Christi,

Sondern ganz persönlich und individuell

Mutter jedes einzelnen Christen,

Maria nimmt jeden einzelnen Christen so an

Als wäre er ihr eigener Sohn,

Als wäre er die Frucht ihres Leibes.


Als Jesus seinem Lieblingsjünger

Die Große Frau zur Mutter gab,

Hat Jesus das Fundament gelegt

Der Verehrung der Mutter Maria,

Der Verehrung der Großen Frau.

Johannes folgte seinem Meister

Und nahm die Mutter bei sich auf

Und erwies ihr die Liebe eines Sohnes,

Eine Liebe, die eiferte,

Ihrer Mutterliebe zu entsprechen.

So entstand eine Beziehung

Geistlicher Innigkeit,

Die dem Jünger half,

Die Beziehung zum Meister zu vertiefen,

Weil der Jünger das Antlitz des Meisters

Im Antlitz der Mutter wiederfand.


Die Anwesenheit einer Mutter

Im Leben der Gnade

Ist Quelle des Trostes

Und der Freude.

Im mütterlichen Antlitz Mariens

Erkennt der Christ

Einen besonderen Ausdruck

Der mütterlichen Barmherzigkeit Gottes.


Es gehört zur Natur

Der Mutterschaft,

Daß sie sich auf eine Person bezieht.

Die Mutterschaft führt

Zu einer einzigartigen

Unwiederholbaren

Beziehung von zwei Personen:
Die Mutter liebt das Kind,

Das Kind liebt die Mutter.

Auch wenn eine und dieselbe Frau

Mutter von vielen Kindern ist,

Ist sie doch ganz persönlich

Und einzigartig Mutter jedes einzelnen.

Jedes Kind ist einmalig

Und auf unwiederholbare Weise

Gezeugt worden von Gott,

Jedes Kind wird auf genau die Art und Weise geliebt

Von der Mutter, wie es dem Kind entspricht.


Die Mutterschaft Mariens,

Die das Erbe des Menschen wird,

Ist ein Geschenk, das Christus

Ganz persönlich jedem einzelnen Christen macht.


Was die innerste Beziehung

Des Kindes zur Mutter ausmacht,

Ist das Vertrauen.

Maria, ich vertraue dir!

Vertrauen ist die Antwort

Auf die Liebe der Mutter.


Indem der Christ sich

Wie der Apostel Johannes

Maria kindlich anvertraut,

Nimmt er sie bei sich auf,

Führt sie ein in den gesamten Bereich

Seines inneren Lebens,

In sein menschliches, christliches Ich:
Er nahm sie zu sich.


Denn von jener Stunde an

Nahm sie der Jünger zu sich.

Eigentlich heißt es:
Er nahm sie in sein Eigenes hinein.


Es geht um das Einlaß Mariens

In das Innere

Des geistigen und geistlichen Lebens

Und ein Sich-Hineinlassen

In ihre frauliche Existenz,

In ihre Mutterexistenz,

Ein gegenseitiges Sich-Anvertrauen,

Das immer wieder Weg

Der Christusgeburt im Innern wird,

Gestaltwerdung Christi im Christen bewirkt.


Der Evangelist Johannes

Erhebt Maria als die Frau an sich

Ins Allgemeingültige,

Zeichenhafte,

Zum Inbegriff des Ewigweiblichen.

Die Szene der Kreuzigung

Verweist auf das Zeichen der Frau,

Die in mütterlicher Weise

Am Kampf gegen die Mächte der Verneinung

Teilnimmt und dabei Zeichen der Hoffnung ist.


Dieses feierliche Anvertrauen

Von Sohn und Mutter

Auf dem Höhepunkt der Kreuzigung

Und die testamentarische Form

Der Worte Jesu

Haben eine sakramentale Form.

Hier ist die Frau

Mit am Werk des Heils.

Jesus bittet Maria,

Einzustimmen in das Opfer des Sohnes,

Und indem die Mutter den Sohn opfert,

Wird sie zur Mutter der Menschen,

Zur Mutter jedes Menschen.


In diesem Augenblick

Wird Maria

Geweiht zur Mutter

Des Leibes Christi.


In dem Geschenk dieser Mutter

Erfüllt sich die Selbsthingabe Jesu.


Jesus hat alles aufgeopfert,

Zuletzt opfert er die Mutterschaft Mariens auf

Und löst sich von der Mutter

Und nennt sie Frau

Und schenkt sie der Menschheit

Zur Mutter der Menschheit.

Dann spricht er: Es ist vollbracht.

In dem, was vollbracht ist,

In dem neuen Heil,

Ist auch die Mutter aller Menschen

Als Gabe, und das wollte Jesus.


Diese Mutterschaft Mariens

Ist eine übernatürliche Mutterschaft

Im Bereich des Gnadenlebens.

Die Gnade ist die Urheberin

Des göttlichen Lebens im Menschen.

Und wie die Gnade Gegenstand des Glaubens ist,

So ist auch die Mutterschaft Mariens

Gegenstand des Glaubens,

Aber sie schließt das Aufblühen

Von Gedanken und Gefühlen

Des Vertrauens und der Liebe mit ein,

Ja, auch die Gefühle der Liebe

Der Kinder zur Mutter

Gehören mit zum Geschenk des Heilands.


Darum lade ich alle Menschen ein

Und jede Seele einzeln:
Bedenke, wie du Maria aufnehmen willst,

Wie du sie in dein Leben

Und in dein Inneres aufnehmen willst,

Und ich ermutige alle Christen

Und alle Menschen der Erde,

Das Geschenk des gekreuzigten Christus

Anzunehmen, denn der Herr

Hat uns seine Mutter geschenkt,

Und ich lade euch ein,

Seine und unsre Mutter

Immer mehr zu schätzen

Und immer inniger zu lieben!


Denn jeder Christ ist aufgerufen,

Auch du, mein Bruder,

Maria bei sich Heimat zu geben,

Maria bei sich

Geborgenheit zu schenken.



DRITTER GESANG


Maria hat frei

Von jeder originalen Sündhaftigkeit

Und frei von jeder persönlichen Sünde

Und immer mit ihrem Sohn

Aufs innigste verbunden

Jesus auf Golgatha

Zusammen mit dem ganzen Opfer

All ihrer Mutterrechte

Und all ihrer Mutterliebe

Dem Ewigvater dargebracht

Als Neue Eva

Für alle Kinder Adams,

Die von Adams traurigem Fall

So hässlich entstellt waren.


Maria hat dadurch, dass sie

Ihr namenloses Leid

Tapfer und voller Vertrauen trug,

Mehr als alle andern Gläubigen zusammen

Als wahre Königin der Märtyrer

Ergänzt, was an den Leiden Christi noch fehlte

Für Christi Leib, die Kirche.

Sie hat den geheimnisvollen Leib Christi,

Geboren aus dem durchbohrten Herzen des Heilands,

Mit derselbigen innigen Mutterliebe

Und mütterlichen Fürsorge begleitet,

Womit sie das Jesuskind in der Krippe

Und an ihren Brüste hegte und nährte.


Vermöge jener seligen Gottesschau,

Deren Jesus sich erfreute

Sogleich nach der Empfängnis

Im Schoße seiner Mutter,

Sind ihm alle Glieder

Seines mystischen Leibes

Unablässig und jeden Augenblick

Gegenwärtig

Und umfängt er sie alle

Mit seiner Liebe.

O wunderbare Herabneigung

Der göttlichen Güte

Zu uns Menschen,

O unbegreifliche Liebe ohne Grenzen!

In der Krippe und am Kreuz

Und in der Gloria Gottes

Hat Christus immer alle Glieder

Seines mystischen Leibes vor Augen

Und im Herzen

Und liebt jeden einzelnen mehr

Als der Mensch sich selber kennt und liebt,

Ja, Jesus liebt alle Christen

Wie die Mutter ihr Kind auf dem Schoß.



VIERTER GESANG


Ich ging aus dem Munde des Höchsten hervor,

Wie Nebel umhüllt ich die Erde.

Vor der Zeit,

Am Anfang hat er mich erschaffen,

Bis in Ewigkeit vergeh ich nicht.

Der Herr hat mich geschaffen

Als Anfang seiner Wege,

Vor seinen Werken in der Urzeit.

Vor aller Zeit

Wurd ich gebildet,

Am Anbeginn,

Vor dem Anfang der Erde.

Als die Urmeere noch nicht waren,

Wurd ich geboren,

Als es die Quellen noch nicht gab,

Die wasserreichen Quellen.

Ehe die Berge eingesenkt wurden,

Vor den Hügeln

Wurd ich geboren.


Von der Gestalt

Der heiligen Jungfrau

Weiß man nichts sicher.


Aber ich meine,

Maria war von hoher Gestalt,

Ihre Haut

Von der Sonne des Landes vergoldet,

Wie die Farbe des Weizens.

Ihre Haare waren blond,

Ihre Augen lebhaft,

Grün in ihrer Farbe.

Die Augenbrauen waren fein gezogen

Und schwarz,

Die Lippen rot

Und voller Süßigkeit

Beim Sprechen.

Ihr Gesicht war elegant oval,

Die Hände und die Finger

Waren lang und fein.


Es war ja nicht anders möglich,

Als dass Maria

Ein schönes Mädchen war,

Ein liebliches Mädchen,

Denn ihr Vorbild war Esther,

Dieses schöne Mädchen,

Judith,

Welcher der Herr einen großen Liebreiz gegeben,

Rachel, die sehr schöne Augen hatte,

Rebekka, die schöngeschmückte.

Ja, Maria besaß die höchste

Körperliche Schönheit.

Wie Jesus

Der Schönste aller Menschensöhne,

War Maria

Die Schönste aller Menschentöchter.

Die äußere Schönheit

Besteht in der richtigen Höhe des Körpers,

In der zierlichen Gliederung

Und rechten Proportion aller Teile

Und schließlich in der schönen Farbe.

In allem war Maria vollkommen.


Zuerst ist ein Seidenrauschen zu hören.

Wenn man hinschaut,

Sieht man die selige Jungfrau

Aufrecht stehend,

Angetan mit einem weißen Gewand,

Das am Hals geschlossen ist,

Mit langen Ärmeln versehen.

Ihr Haupt ist mit einem weißen Schleier bedeckt,

Der zu beiden Seiten

Bis auf die Füße herabwallt.

Auf dem gescheitelten Haar

Trägt sie einen Schleier,

Mit Spitzen besetzt.

Das Gesicht ist unverhüllt.

Die Füße ruhen auf der Erdkugel.

Ihr Angesicht ist von solcher Schönheit,

Daß man es unmöglich beschreiben kann.


Die junge schöne Dame

Ist besonders schön,

So außergewöhnlich schön,

Wie ich keine andre je gesehen habe.


Maria ist so schön,

Daß man, wenn man sie einmal gesehen,

Am liebsten gleich sterben möchte,

Um sie wiederzusehen.

Wenn ich aber die meisten Marienbilder betrachte,

Denke ich: Wie kann man nur

Solche Karikaturen machen?


Man müsste Sonnenstrahlen

Anstelle von Farben haben,

Um ihre unbeschreibliche Schönheit zu malen.

Man müsste die Sprache der Engel sprechen,

Um ihre Schönheit zu besingen.


Die Erscheinung Mariens

Ist die einer fünfzehnjährigen

Oder siebzehnjährigen Jungfrau.

Ihre Augen sind schwarz,

Das Kleid ist weiß wie Schnee.

Lichtglanz umstrahlt ihr Antlitz

Und die ganze Gestalt.


Wie ihr Antlitz aussieht?
Licht, Licht, Licht!

Die hocherhabene schöne Frau

Blickt überaus liebevoll,

Doch freundlich-ernst,

Mit einer gewissen Traurigkeit in den Augen.


Die Schönste von allen

Ist die Prinzessin Gottes,

Schöneres kann nicht malen ein Engel.

Maria ist ihr Name,

In ihrer Gestalt ist alle Schönheit versammelt,

An welcher Gott Ergötzen findet.



FÜNFTER GESANG



Das Hohelied

Ist das Allerheiligste

In der Heiligen Schrift.


Jede Seele, die liebt,

Wird Braut genannt.


Maria ist die vollkommene Braut,

Die vollkommene Braut des Hohenliedes,

Maria ist Sulamith in all ihrer Schönheit,

Die vollkommene Braut in der Prophetie,

Maria ist die Tochter Zion,

Die treue Braut Gottes,

Maria ist die vollkommene Braut

Des Hochzeitspsalmes Davids.


Als der ewige Gottessohn

Die Menschennatur

Zur Erlösung

Und zur Auszeichnung des Menschengeschlechts

Angenommen hat und so

Eine geheimnisvolle Vermählung

Mit dem gesamten Menschengeschlecht

Einzugehen beabsichtigte,

Vollzog er diese Vermählung nicht eher,

Als bis er das freie Ja-Wort Mariens

Erhalten hatte, Maria

Sagte Ja für die ganze Menschheit,

Sie spielte die Rolle

Des ganzen Menschengeschlechts.


Maria hat ihr Ja-Wort gegeben

Im Namen der ganzen Menschheit,

Daß sich zwischen dem Sohn Gottes

Und der menschlichen Natur

Eine Art geistlicher Ehe vollzog.


Unsre Herrin, sag Ja zu uns!

Königin des Weltalls, sag Ja zu uns!

Himmlische Königin, sag Ja zu uns!

Unsre Mittlerin, sag Ja zu uns!

Geliebte Tochter Gottes, sag Ja zu uns!

Braut und Mutter, sag Ja zu uns!

Wahrer Morgenstern, sag Ja zu uns!

Tochter Zion, sag Ja zu uns!

Lilie unter den Dornen, sag Ja zu uns!

Paradies der Unschuld, sag Ja zu uns!

Reines Erdreich, sag Ja zu uns!


Es gibt keine himmlische Gnade,

Die nicht durch ihre

Jungfräulichen Hände ging.

So will es Gott, der wollte,

Daß wir alles durch Maria empfangen.


Das makellose Herz

Unsrer Lieben Frau

Ist so voll Zärtlichkeit für mich,

Daß die Herzen aller irdischen Mütter dagegen

Nur ein Stück Eis sind.


Maria an den Wallfahrtsorten

Ist geworden

Zur sakramentalen Gegenwart

Des mütterlichen Antlitzes Gottes.



SECHSTER GESANG



Wenn man auch die Liebe

Aller Mütter zu ihren Kindern,

Aller Liebenden zueinander,

Aller Heiligen und Engel

Zu ihren Verehrern

Vereinigen wollte,

So würde diese Liebe

Nicht die Größe der Liebe erreichen,

Die Maria empfindet

Für eine einzige Seele.


Alle Berge und Hügel,

Alle Flüsse und Meere,

Alle Geschöpfe des Himmels und der Erde

Rufen: So unendlich,

So unaussprechlich hat uns Maria geliebt,

Daß sie ihr einziges Kind

Hingegeben hat für uns,

Für unsre Rettung,

Für unsre Seligkeit!


Wie der Himmel die Erde an Seligkeit übertrifft,

So übertrifft Maria an Liebe alle Geschöpfe.


Ich habe aus dem Herzen Mariens

Schon so viel Liebe geschöpft,

Daß es längst leer sein müsste,

Wenn es nicht unausschöpflich wäre.


Würde mir einer sagen,

In diesem Augenblick

Geschähe kein Wunder Mariens,

So würde ich ihm hundert Wunder

Der Liebe Mariens nennen.

Würde mir einer erklären,

In dieser Stunde

Habe uns Maria nicht geliebt,

So würde ich ihm die tausend Beweise

Ihrer Liebe zeigen.

Zähle die Wiesenblumen im Mai,

Zähle die Knospen im Frühling,

Zähle die Mücken im Sommer,

Zähle die Sandkörner an dem Strand des Meeres,

Zähle die Flocken des Schnees,

Zähle die Tropfen des Regens,

So zählst du die Wunder

Der Liebe Mariens,

So zählst du die Beweise

Ihrer Barmherzigkeit.


Nämlich nicht der Name einer Mutter

Macht eine Mutter zur Mutter,

Sondern die Mutterliebe

Macht Maria zur wahren Mutter.


Ich habe schon seit langem

Das Vaterunser nicht mehr gebetet,

Ich kann nicht Vater sagen zu Gott.

Darum bete ich zu Maria.

Die Mariengebete

Sind Gebete, die ich immer beten kann.

Es gibt kein Mariengebet,

Daß nicht auch der verdorbenste Sünder noch beten könnte.

Das Ave Maria ist die letzte Rettung!

Mit dem Ave Maria kann man nicht verloren gehen!


Maria taucht ihren Jünger

In den Abgrund ihrer Gnaden,

Schmückt ihn mit ihren Verdiensten,

Hilft ihm mit ihrer Macht,

Erleuchtet ihn mit ihrem Licht,

Entflammt ihn mit ihrer Liebe,

Schenkt ihm ihre Tugenden,

Demut und Glauben und Reinheit.

Sie ergänzt für ihn bei Gott,

Was ihm noch an Heiligkeit fehlt.

Sie ist sein Ein und Alles

Bei Jesus.


Marias Schönheit,

Marias Liebenswürdigkeit,

Marias Holdseligkeit

Machen sie zur Räuberin der Herzen,

Zum Magnet der Herzen.

Wie viele verstockte Sünder

Zieht dieser Magnet der Herzen

Zu Gott!

Wie der Magnet das Eisen anzieht,

So zieht Maria

Die härtesten Herzen an sich,

Um sie mit Gott zu versöhnen.

Und dieses Wunder

Ereignet sich nicht selten,

Sondern täglich.


Maria, du hast vollkommene Macht,

Die Herzen zu verwandeln,

Nimm also auch mein Herz

Und wandle mein Herz!


Gott hat seine Tochter erschaffen,

Seine überaus geliebte Tochter Maria,

Damit sie ihm

Eine süße Lockspeise sei,

Um die Menschen zu fangen,

Besonders die Sünder,

Und sie zu Gott zu ziehen.


Gott spricht zu mir:
Mit ewiger Liebe hab ich dich geliebt

Und darum hab ich dich an mich gezogen

Mit ewiger Liebe!