Roman
Von Josef Maria Mayer
(Geschrieben im Jahr 2000 A.D.)
„Wie dem auch sei, es ist klar, daß es diesem armen Ritter schon ganz gleichgültig war, wer seine Dame auch sein und was sie tun mochte. Ihm war es genug, daß er sie auserwählt hatte und an ihre ‘reine Schönheit’ glaubte; dann beugte er sich für alle Zeiten vor ihr; das ist eben sein Verdienst.“
(Fjodor M. Dostojewski)
„Seine hilflose Dankbarkeit schmückte dieses Bild so lange, bis aus dem lachenden, lieben Kinde eine bleiche, heimliche Geliebte und aus der Geliebten eine verehrte Heilige wurde, welche der Jungfrau Maria sehr ähnlich sah und ganz darin aufging...“
(Rainer Maria Rilke)
ERSTES KAPITEL
Es war in einer todumschauerten Zeit, irr genug, daß Piet Buß Marion Meister begegnete. Es war an einem Abend, da er nach dem Theaterbesuch in eine Gaststätte trat. Er hatte „Lysistrata“ gesehen, und die Vorstellung, daß allein dadurch, daß die Frauen sich ihren Männern verweigerten, Frieden auf der Erde eintreten könne, faszinierte ihn. Diese holden Wesen, die Frauen, hatten doch den Frieden, wie ihm schien, in ihren sanftmütigen Seelen; und die Männer waren es, tatendurstig und machtversessen, die die Kriege erzeugten in der Welt. Und welche Kriege drohten in seiner Zeit!
Vor einiger Zeit hatte er einen Film gesehen über die Auswirkungen eines Atomkrieges, und diese Schreckensvisionen hatten sein Herz mittendurch gespalten, von oben an bis unten aus. Wenn er doch, war dabei seine Hoffnung gewesen, im kommenden Atomkrieg wenigsten nahe genug an dem Einschlagsort der Atombombe leben würde, daß er augenblicks tot wäre! Aber nur ein wenig weiter weg, und er würde zerschmelzen in grausamen Qualen! Noch ein wenig weiter entfernt, er würde an fürchterlichen Krankheiten leiden, die ihm sein Leben unerträglich machen würden! Wen die Götter lieben, den lassen sie früh sterben.
Er stand in seinem Bad und wusch sich, da kam er immer noch nicht los vom Gedanken an den Tod, den qualvoll-grausamen Prozeß des Sterbens, Todesangst ergriff ihn und gleichzeitig eine Bereitschaft zum schnellen Tod, und er überlegte, wie er an das tödliche Gift kommen könne, um rechtzeitig im Fall eines Atomkriegs sich mit dem Tode vom Tod erlösen zu können. Doch ein verbliebener Hang zum Leben hielt ihn von weiteren Konsequenzen, etwa sich ein Gift zu besorgen, vorsorglich ab.
Da war Lysistrata mit ihrem Humor eine Erquickung für die Seele gewesen. Der antike Wunsch nach Frieden berührte seine Seele, und die Heiterkeit der spielerischen Lösung befreite seine Seele ein wenig von dem ängstlichen Druck. Er war bereit, sich einen schönen Abend zu gönnen im Abendrot des Weltuntergangfeuers. Die Musik, der schrille Gesang einer Sängerin durchbohrte sein Bewußtsein: „the final curtain...“ verstand er, und da war er wieder, der Untergang, das Ende, der Tod, der Meister aus Deutschland, Amerika, Rußland, Japan, der Meister der Welt!
Ein junger Mann stelle sich neben ihn und fing ein zwanglos-belanglos plauderndes Gespräch an, Piet ließ sich ablenken und so schweiften seine Gedanken zum Jazz, von dem er gar nichts verstand. Er sah sich, wenig beteiligt am Gespräch, im dunklen Raum der Gaststätte um, die Dunkelheit vom Zigarettenrauch durchwölkt. Da traf sein Blick auf das Weiße zweier Augen, große Vollmonde, schimmernd wie die Milch der Milchstraße, voller weiblichen Friedens, Weichheit, Reinheit, Zärtlichkeit, Liebe und Fragen. Diese Mondmilch floß in seine Seele und gebar ein Lächeln auf seinem Angesicht - und Lysistrata lächelte zurück. Das war Marion Meister.
An einem der Tage der kommenden Woche bekam Piet Buß in seiner Einzimmerwohnung Besuch von seinem guten Freunde Andreas Schwalbenburg, einem arbeitslosen Mann von fünfunddreißig Jahren, zehn Jahre älter als Piet, breit gebaut, mit einem großen runden und weichen Gesicht, großen braunen Augen, ein wenig verweichlicht vom Alkohol. Und sie saßen zusammen, tranken roten Wein, und Piet erzählte ihm von Novalis, dessen Ofterdingen er gerade las.
Piet konnte sich in Poesie versenken, er dachte und fühlte poetisch, er lebte gerne in den Traumwelten des Romantikers, dessen Sehnsucht nach der blauen Blume berührte eine Sehnsucht in seiner Seele. Hindurch durch die Tiefe des dunklen Bergwerks, hinunter in die lichtlose Nacht, um aufzutauchen in einer Idylle, von grünem zarten Licht durchwoben, mit großen Blumen, die einen mit zauberhaften Augen anblickten...
Später am Abend entdeckte Andreas die Bibel im Regal, eingeordnet irgendwo zwischen den deutschen und griechischen Dichtern, ungelesen; Piet hatte sie vor kurzem aus einer evangelischen Kirche gestohlen. Andreas nahm sich das heilige Buch vor und schlug die Offenbarung an den heiligen Johannes auf. Er begann zu lesen, mit einer gleichmäßigen leisen Stimme, als läse er eine Litanei, ohne Betonung, und Piet lauschte den rätselhaften Worten:
„Und die sieben Engel mit den sieben Posaunen hatten sich gerüstet zu blasen. Und der erste blies seine Posaune; und es kam Hagel und Feuer, mit Blut vermengt, und fiel auf die Erde; und der dritte Teil der Erde verbrannte, und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte.
Und der zweite Engel blies seine Posaune; und es stürzte etwas wie ein großer Berg mit Feuer brennend ins Meer, und der dritte Teil des Meeres wurde zu Blut, und der dritte Teil der lebendigen Geschöpfe im Meer starb, und der dritte Teil der Schiffe wurde vernichtet.
Und der dritte Engel blies seine Posaune; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und auf die Wasserquellen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser wurde zu Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern, weil sie bitter geworden waren.
Und der vierte Engel blies seine Posaune; und es wurde geschlagen der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der dritte Teil der Sterne, so daß ihr dritter Teil verfinstert wurde und den dritten Teil des Tages das Licht nicht schien, und in der Nacht desgleichen.
Und ich sah, und ich hörte, wie ein Adler mitten durch den Himmel flog und sagte mit großer Stimme: Weh, weh, weh denen, die auf Erden wohnen wegen der andern Posaunen der drei Engel, die noch blasen sollen!
Und der fünfte Engel blies seine Posaune; und ich sah einen Stern, gefallen vom Himmel auf die Erde; und ihm wurde der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben. Und er tat den Brunnen des Abgrunds auf - -“
„Halt ein!“ rief Piet, „Ich ertrag es nicht mehr! Was für ein Schreckensbild! Der Atomkrieg! Der Tod! Das ist die Prophezeiung der Zukunft? Wie soll das einer ertragen? Wer wollte nicht, wenn er das weiß, gleich sterben?“
„Aber es wird ein gutes Ende nehmen, gedulde dich, dann will ichs dir vorlesen“, ermutigte Andreas.
„Nein, nicht mehr, ich kann nicht mehr!“
Andreas schlug ein wenig enttäuscht das Buch wieder zu. Ihn interessierte Gott, er wollte die Bibel kennen lernen. Aber Piet weigerte sich beharrlich, noch mehr Unheilsprophezeiungen und Weherufe zu hören. Sie trennten sich in einem Anflug von Unfrieden, einem Anflug nur, weil Piet sich sehr zu beherrschen suchte, um nicht in Zorn auszubrechen, daß Andreas ihm sein Leben noch einige schwere Grade schwerer gemacht hatte, als es ohnehin schon war. Als Piet allein war, wußte er sich nicht anders zu beruhigen, als daß er zum Sherry griff und Beethovens Mondscheinsonate hörte, mit einer Verzweiflung, die sich langsam in eine Trauer und immer gelindere Traurigkeit wandelte.
Eines Vormittags trat Piet Buß, dürstend nach einem erquickenden Kaffee, in eine Gaststätte, in der sich die Gymnasiasten versammelten, und setzte sich mit einem Buche moderner Oden an das sonnige Fenster. Da trat jene herein, die ihm Lysistrata war, die Frau mit den weichen Augen. Sie hatte ein fast phantastisch anmutendes Hemd und eine bunte Hose an und setzte sich an den Nebentisch. Sie sah zu ihm herüber, er sah zu ihr, und sie schien ihn wiederzuerkennen, da lächelte sie ein stilles, verhaltenes Lächeln. Dann nahm sie einen Zeichenblock heraus und Zeichenstifte und sah träumerisch durch die große Fensterscheibe in den Tag.
Piet stand auf, trat zu ihr und fragte: „Zeichnest du?“
„Das versuche ich zumindest“, antwortete sie freundlich. Er wollte sie gerne kennen lernen und fragte: „Wie heißt du?“ Da sah sie ihm in die Augen mit ihren großen offenen Augen, ein wenig melancholisch der Glanz ihres Blickes, und sagte: „Marion.“ Er setzte sich zu ihr, und sie begannen ein Gespräch, das sie von einem Thema zum nächsten führte. Bald kamen sie auf den Bereich der gegenwärtigen Politik zu sprechen.
„Was für Ungeheuer werden aus der Gentechnologie erstehen? Was für Monster werden uns die Welt vergällen!“ erzürnte sich Piet.
„Und“, ergänzte sie, „hast du schon gehört, daß die Menschen in Bayern mittags alle müde werden, weil die Ozonwerte so hoch sind?“
„Die Umwelt geht zugrunde“, prophezeite Piet, „die Menschen werden die Erde zerstören und in den letzten Tagen auf der Erde durch genmutierte Monster ein Schreckensregiment errichten!“
„Ich komme mir so ohnmächtig vor“, klagte Marion resigniert.
„Ich habe noch den Willen zum Protest, zur Rebellion, zum Widerstand! Wir müssen die Menschen aufrütteln, wir müssen ein Bewußtsein des Weltuntergangs wecken! Wir müssen aufstehen gegen den organisiserten Tod!“ ereiferte Piet sich.
Das Gespräch setzte sich fort und wurde konkreter und praktischer. Bald hatten sie eine Idee entwickelt, eine Demonstration durch ihre Stadt, das ostfriesische Norden, durchzuführen. Sie wollten mit einem fliegenden Blatt auf den drohenden Weltuntergang aufmerksam machen und sich als Genmutationen maskieren, um die Menschen sich entsetzen zu lassen und sie wachzurütteln.
Piet sah einige junge Gymnasiastinnen, die er aus der Bewegung gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in Südafrika kannte. Er weihte sie in ihre Pläne ein. Tatjana, die Schauspielerin werden wollte, war begeistert, und auch die beiden Freundinnen, die dabei standen, wollten sich der Aktion anschließen und noch einige Mitschüler, revolutionäre Jugend, einweihen und mitwirken lassen. So kam eine Gruppe von fast einem Dutzend jungen Menschen zusammen, die bereit waren zu dieser Aktion. Piet wollte das fliegende Blatt verfassen, er war bekannt für eine geschickte Hand im Schreiben von Pamphleten.
Er aber nutzte die Gelegenheit, Marion zu fragen, ob sie gemeinsam mit ihm das Pamphlet erstellen wollte, schließlich seien sie ja gemeinsam auf die Idee gekommen. Sie stimmte zu und gab ihm ihre Adresse, sie wohnte im Krokusweg und hieß Meister mit Nachnamen.
Am folgenden Abend machte sich Piet auf den Weg zu Marion. Er war nicht wenig aufgeregt, denn er hatte sich verliebt in jene phantastische Frau mit den romantischen Augen. Er hatte, bevor er losgefahren war mit dem Rad, noch einige alte Liebeslieder von Dylan gehört, diese Poesie hatte seinen Zustand noch romantisiert. Nun fuhr er durch den frühsommerlichen Abend, die Luft roch milde und lieblich von den letzten Blüten an den Bäumen, Pferde weideten friedlich auf einer Wiese in der Nähe des Krokusweges, und Piet hielt an, ein Gedicht über das Land der Pferde zu dichten, eines Landes, in dem Friede, Sanftmut und Harmonie herrschte. Er sah diese Tugenden verkörpert in Marion, deren Seele die Stimmung dieses freimetrischen, reimlosen Gedichtes durchwaltete.
Er klingelte an der Tür und wurde von der Hauswirtin begrüßt, die ihn zu Marions Zimmer führte. Er trat ein. Marion war gerade dabei, einige Farben anzurühren, sie hatte ein Bild vor sich liegen von impressionistischer Sanftheit. An den Wänden hingen Marionetten, der Durchgang zum Schlafzimmer war von einem violetten Schleier verhüllt, einige Gedichtbände lagen auf dem Schreibtisch. Sie begrüßte ihn freundlich und erzählte sogleich begeistert von ihren Ideen für das Flugblatt. Sie hatte in einer Zeitschrift namens „Pierrot“ (es war ein weißer, melancholischer Narr auf dem Titelbild abgebildet) ein Inszenario des Weltuntergangs gefunden. Dies wollte sie überarbeiten und verwenden.
Venedig würde überflutet von dem Wogen des Meeres, denn durch die Erderwärmung infolge der ungeschützten Sonneneinstrahlung würde das Eis an den Polkappen schmelzen, der Meeresspiegel steigen, und so würde Venedig untergehen, die Glocken von Sankt Markus würden dann auf dem Meeresgrunde läuten. In Brasilien würde ein Museum errichtet, dem Louvre ähnlich, welches die letzten Exemplare der seltenen Gattung Baum ausstellen würde, denn infolge der Brandrodungen und Abholzungen in den tropischen Regenwäldern würde der Waldbestand der Erde drastisch vermindert, infolge des giftigen Regens würden viele Bäume krank werden und zugrunde gehen. Es würden genmanipulierte Schweine gezüchtet, welche auf ihren unterentwickelten Beinchen die riesige Körperfülle nicht mehr tragen könnten und quiekend zu den Schlachthöfen gerollt würden. Infolge eines Unfalls in einem großen Atomreaktor würden die Ratten sich schlagartig vermehren und zu einer Plage werden, die der mittelalterlichen Pestrattenplage in nichts nachstünde; und so weiter.
Sie waren in einem Eifer von Leidenschaft, als Marion über das Ozonloch zu reden begann. Durch die von der Erde der Menschen aufsteigenden Gifte war der Ozonmantel in der Atmosphäre löchrig geworden, so daß die giftigen Strahlen der Sonne ungehindert auf die Erde fallen könnten. Das erinnere sie an ein Zitat aus der Apokalypse des Johannes, sie suchte in ihrer Bibel und fand schließlich folgendes Zitat: „Und der vierte Engel goß aus seine Schale über die Sonne; und es wurde ihr Macht gegeben, die Menschen zu versengen mit Feuer. Und die Menschen wurden versengt von der großen Hitze und lästerten den Namen Gottes...“
Piet, der sich noch vor einigen Tagen so gegen das göttliche Wort gewehrt hatte, nahm aus den Händen Marions dieses Brot des Lebens an, es schien ihm treffend zu sein und von einer prophetischen Macht.
Nachdem das Flugblatt, mit dem prophetischen Wort, erstellt war, bereitete Marion Tee, und sie unterhielten sich über die Kunst. Sie erzählte, wie sie Marionetten herstellte, Figuren aus der italienischen Komödie, und von ihrem Malen und Zeichnen. Sie liebte unter den Malern besonders Marc Chagall. Piet erzählte von seinen lyrischen Versuchen, und sie fragte ihn nach seinen Vorbildern. Er erzählte, wie er noch vor einiger Zeit am meisten von Pablo Neruda gelernt habe, aber vor einiger Zeit habe er Hölderlin und Novalis entdeckt und wollte von ihnen lernen. Er übe sich gerade in der Rhythmisierung seiner Poesie.
Piet fand Marion so lieblich, so schwärmerisch und poetisch, so romantisch und phantastisch, daß sein Gefühl von Sekunde zu Sekunde anwuchs, anschwoll und feuriger wurde. Am späten Abend, da es draußen fast schon dunkel war, verabschiedete er sich, in dem er ihr einen Kuß auf die Wange zu geben versuchte. „O, du bist frech!“ sagte Marion und verwehrte ihm den Kuß. Ein wenig beschämt ging Piet hinaus und fuhr in seine Wohnung, wo er bei einer Flasche Wein noch über dieses so wundersame, liebreiche Geschöpf nachdachte.
Marion war ihm nicht böse gewesen und kam unbefangen und freundlich auf ihn zu, als sie sich trafen mit den andern Gymnasiasten, sich zu verkleiden als Genmutanten. Es war eine schreckliche Groteske, ein politischer Karneval. Sie sahen alle wirklich phantastisch-fürchterlich aus. Sie zogen, die Flugblätter verteilend, durch die Innenstadt von Norden, klapperten mit Blechdosen und riefen: „Wir sind die Zukunft, wir sind die Genmutanten!“ Piet bereute ein wenig ihre Übertreibung, als er ein kleines Kind am Straßenrand vor Angst weinen und sich an den Rocksaum seiner Mutter klammern sah.
Ein Lehrer des Gymnasiums, der bekannt war für seine maoistische Gesinnung, begrüßte den Protest, aber als er sah das Zitat aus der Bibel, welches den Abschluß des Flugblattes bildete, fragte er, warum sie so „pfäffisch“ argumentierten. Piet, vor noch nicht allzu langen Jahren selbst Anhänger Mao Tse-tungs, ärgerte sich über diesen bornierten Dogmatismus. Es ging bei diesem Weltuntergangsdrama nicht um revolutionären Klassenkampf, sondern um den Aufstand der Menschheit, ja um den Aufstand der ganzen Schöpfung gegen die Vernichter.
Nach dem grotesken politischen Maskenzug legten sich die Gymnasiasten, Marion und Piet in das weiche Gras auf dem Friedhofshügel neben der großen Stadtkirche und besprachen die Aktion. Nach und nach verabschiedeten sich die Mitwirkenden, nur Marion und Piet blieben zurück und genossen die Muße. Piet zog ein kleines Heftchen heraus mit der Eichendorf-Erzählung „Aus dem Leben eines Taugenichts“ und erzählte Marion davon. Er hatte auch Sehnsucht, so tagträumerisch-romantisch ein Leben der Poesie zu leben und der schrecklichen Wirklichkeit in andere Welten zu entkommen. Sie schwärmte mit ihm von Müllersöhnen, Gräfinnen, alten Schlössern und Burgruinen, Geigenspiel und Bauerntanz und dem munteren Rauschen eines kleinen Bächleins, an dessen Ufer die Schmetterlinge um die Blümelein gaukelten. Die Sonne umleuchtete sie und die Kastanie wölbte sich neben ihnen, um deren letzte Blüten einige Bienen summten.
An einem Sommernachmittag fuhr Piet mit seinem geliebten himmelblauen Fahrrad durch die Straßen Nordens, träumend, irgendwie kam er zu einem kleinen Park, einem kleinen Rosengarten mit einer Wiese und einer Bank und einem Baum, dies alles von Büschen umschlossen. Er setzte sich auf die Bank und begann zu träumen. Einige Blüten, leichter weißer Blütenstaub, segelten und schwebten vom Baum herab und hüllten ihn in eine weiße Wolke ein. Er sah in den duftenden Baum herauf und träumte von einer Schwester. Er hatte keine leibliche Schwester, aber er sehnte sich nach einer. Das weibliche Geschlecht schien ihm friedsamer, sanftmütiger, liebreicher als das männliche; und mit seinem Bruder hatte er oft im Streit gelegen, darum sehnte er sich nach einer liebevollen Schwester.
Da tauchte ihm in seiner reichen, schöpferischen Phantasie mitten aus der zwielichtigen Dämmerwolke des weißen Blütenstaubes, vom Dufte schwanger, das holde Antlitz Marions auf, er sah sie in seiner Seele lächeln wie eine schöne Sonne. Er fühlte für sie die sanfteste Liebe, die wie ein Traum durch seine Seele schwamm, ähnlich den weißen Schwänen auf dem Schwanenteich von Norden, still und hold.
Er ruhte noch lange in diesem sonderbaren Frieden der Natur und der stillen Verträumtheit seiner Seele, und erst, als der Abend hereinbrach mit seinem lauten Vogelzwitschern, fuhr er, trunken von Traum, wie geistesabwesend nach Hause. Dort nahm er seine alte, kleine Gitarre, ein Erbstück seiner Mutter, und spielte auf ihr eine melancholische Blues-Improvistaion.
Am selben Abend kam Andreas Schwalbenburg zu Piet Buß, mit einer zweiten Gitarre, und sie spielten manchen Blues zusammen. Andreas war voll von der Idee, als Musikant mit Piet auf irgendwelchen Märkten aufzutreten. Ja, er wollte mit Piet in einem Wohnwagen durch Europa ziehen - vielleicht kämen sie ja auch nach Afrika - und auf den Märkten mit Gitarre, Mundharmonika und Gesang den Menschen die Freude der Kunst bringen. Piet stellte sich das Leben eines Fahrenden Sängers vor wie das Leben im Taugenichts Eichendorfs, und so war er gleich Feuer und Flamme für diese Idee. Sie übten gleich ein Stück ein, eine niederdeutsche Nachdichtung eines alten schwarzen Blues, die Andreas getextet hatte.
In der Nacht, inzwischen hatte Andreas auch eine Haschischpfeife gezündet, träumte Piet davon, auf diese Reise Marion mitzunehmen. Sie könnte mit Marionettenspielen auftreten, mit einem kleinen komischen Theater, während die beiden Freunde musizierten. Er erzählte Andreas von Marion und seinem Plan: „Du, ich habe ein Mädchen kennen gelernt, die schön ist und voller Phantasie, so unheimlich freundlich und ebenso geistreich. Marion Meister heißt sie, und ich würde sie gerne fragen, ob sie nicht mitkommen möchte auf unsere Tingeltangel-Tour durch die Länder der Erde.“
„Ich müßte sie natürlich vorher kennen lernen“, gab Andreas zum Einwand, „aber an sich habe ich nichts dagegen, wenn wir unsere Musikkunst durch Theaterkunst ergänzen.“
„Ja“, freute sich Piet, „unser ganzes Leben soll ein Gesamtkunstwerk sein!“
Und als Piet einige Tage später überraschend Besuch von Marion bekam, da erzählte er ihr gleich von seinem Plan. Sie schwärmte mit ihm vom Leben als Gesamtkunstwerk. „Ich kann im übrigen recht gut schneidern und werde uns die schönsten und phantastischsten Kleider anfertigen, mit denen wir als melancholische Komödianten auftreten können auf den Straßenbühnen der Welt. Du könntest als Magier auftreten, die Leute mit der Magie der Poesie verzaubern.“
„Dich würde ich verkleiden als Bettelprinzessin von überirdischem Glanz!“ Sie hatte eine Kunstpostkarte dabei und zeigte sie ihm: „So etwa?“ Es war das Gemälde Picassos abgedruckt, welches den Titel hatte: „Harlekin und seine Gefährtin“. Die beiden Artisten dieses Gemäldes schauen unheimlich melancholisch, gedanken- und traumverloren, betrübt über die Sinnlosigkeit irdischer Existenz und dennoch geschaffen, die Menschen mit ihrer Kunst zu erheitern und erfreuen. Piet bat Marion: „Schenkst du mir dieses Bild? Ich sehe in diesem Bilde unsere Kunstexistenz figuriert. Du hast solche Ähnlichkeit mit dieser namenlosen Gefährtin des Harlekin, die gleiche Melancholie, die gleiche Traumverlorenheit!“
„Im übrigen ist die Gefährtin bekannt unter dem Namen Colombine, das heißt Täubchen.“
„Dann bist du von nun an Colombine!“ Marion lächelte, ein wenig von linder Traurigkeit umflort, deren Grund Piet nicht kannte.
An einem sanften Sommerabend saß Piet auf seinem kleinen Balkon. Die letzten Tage hatte er einige Erzählungen von Hermann Hesse gelesen, und es berührte ihn des Dichters Empfindung für die Schönheit der Schöpfung, die wohl das Werk des lieben Gottes war. Er war von diesen weichen, melodischen Worten ganz fein gestimmt für die Herrlichkeit der Schöpfungsoffenbarung Gottes. An diesem Abend aber las er ein Gedicht von Hölderlin, die Hymne „Friedensfeier“:
„Versöhnender, der du nimmergeglaubt
Nun da bist, Freundesgestalt mir
Annimmst, Unsterblicher, aber wohl
Erkenn ich das Hohe,
Das mir die Knie beugt,
Und fast wie ein Blinder muß ich
Dich, Himmlischer, fragen, wozu du mir,
Woher du seiest, seliger Friede!“
Piets Seele ward gestimmt auf Hohes, auf Unsterbliches, auf Himmlisches. Er, der noch vor wenigen Monaten überzeugter Atheist und Materialist gewesen, aber durch den Niedergang des Kommunismus seine Ideale verloren hatte, und nun neue Ideale zu gewinnen suchte, wandte sich an die Poesie, und da begegnete ihm Hölderlin. Und ein wenig Erinnerung, unbewußtes Auftauchen der Kindheit mit ihrer naiven Frömmigkeit war da. Und er sah in den Himmel, die blaue Unendlichkeit, und er träumte von Idealen, Schönheit, Paradiesen, Ewigkeiten...
In jenem Augenblick schien es ihm, als ob sich das Sonnenlicht, das verstreut durch die weißen Wolken glitt, sprechend zu ihm wende; als ob das goldene Gängelband der Himmlischen sich zu ihm neige; und ihm schien, als ob die Hand Gottes sich herabreichte, ihn zu halten auf dem Seil, das über den Abgrund des Todes gespannt war, und auf dem er tanzen wollte, aber nun, gehalten von der sonnengoldenen Hand Gottes, war er ruhig überm Abgrund, da kam in seine Brust der selige Friede, von dem Hölderlin so hymnisch gesungen.
Es war nur ein Moment, aber er sollte ihn nie vergessen, und in seligeren Momenten seines späteren Lebens gedachte er gerne jener Erfahrung, denn er sah ein sanftes Wirken des Geistes darin. In jener Zeit aber, da er tatsächlich eine himmlische Ruhe erfuhr, wußte er diese Erfahrung gar nicht zu deuten, er genoß sie einfach als eine Stimmung, er freute sich an der Herrlichkeit der Schöpfung, ohne weiter des Schöpfers zu gedenken. Aber ein lichter Keim war in seine Seele gesenkt worden, daß er dort, in aller Geduld, keime und aufgehe, blühe mit dem Frühling und Frucht bringe mit dem Herbste.
Er zog an jenem Abend eine weiße Hose und ein weißes Hemd an, so war seine Seele gefärbt, und er wandelte durch den Sommerabend zu einer Grundschule, in der ein Konzert stattfinden sollte. Ihm schien der Schulhof eine antike Wandelhalle, die Betonpfeiler schienen ihm antike Säulen, das Konzert schien ihm ein attisches Theater zu sein, die Antigone-Tragödie von der frommen Heldin, der Märtyrerin der Bruderliebe, könnt es geben; - aber die laute Musik und das laute Geschwätz der vielen schwarzgekleideten Jungen zerstörte seine Illusion, und sein Traum ward von der Wirklichkeit vergewaltigt. Mit Schmerzen und Traurigkeit ging er nach Hause in die Einsamkeit, legte sich in der Stille auf sein Bett, sah in Marions Mond-Augen und floh in den süßen Trost des Schlafes.
Die Pläne, mit Andreas Schwalbenburg und Marion Meister auf eine Tingel-Tangel-Tour zu fahren, als fahrende Sänger in Freiheit zu leben, als Harlekin und Pierrot und Colombine die bunte Welt eines närrischen Paradieses zu erobern, zögerten sich hinaus. Immerhin schlug Andreas vor, miteinander aufs Land zu fahren, denn dort würden sich einige Freaks treffen, um gemeinsam zu trommeln, zu singen, um das Lagerfeuer zu tanzen und mitten in der Natur zu leben wie die Indianer vor der Entdeckung Amerikas.
Andreas brachte ein Mädchen mit, Sonja mit Namen, die er liebte. Sie war ein sehr schlankes, sanftes Naturwesen mit langen, rotblonden Haaren, großen blauen Augen und einer weißen Haut. Piet und Marion fuhren im Wagen mit. Marion las auf dem Rücksitz Hesses „Narziß und Goldmund“ und erzählte von dem Konflikt zwischen stiller Frömmigkeit auf der einen Seite und Lust und Frauenliebe auf der anderen Seite.
Sie kamen an, als es schon dunkel war, einige bemalte Wohnwagen standen in der Nähe eines Lagerfeuers, Trommeln dröhnten schon durch die Nacht, und man hörte einen Specht im umschließenden Walde mittrommeln. Männer wie Frauen trugen lange Haare, die Männer dazu Bärte. Jeder hatte irgendein Musikinstrument in der Hand, und mancher dazu noch eine Haschischpfeife im Mund. Piet legte sich neben einen Heuballen in der Nähe des Feuers, und Sonja saß neben ihm auf dem Heuballen. Marion saß etwas weiter entfernt, und Piet sah nur das Weiße ihrer schimmernden Augen durch die Nacht leuchten. Er gestand der Rothaarigen, daß er nun immer weniger mit Andreas fahren wolle, er wolle allein mit Marion die Kunstwanderungen unternehmen. Sonja sah zu Marion und fragte Piet: „Liebst du sie?“
„Ich liebe sie, aber mir scheint, sie liebt mich nicht. Aber sie mag mich, das weiß ich sicher. Und darum bin ich voller Hoffnung, daß meine Leidenschaft für sie auch sie entzünden wird. Sie hat die gleiche Vision wie ich: als Artisten durch die Welt zu gaukeln und die Poesie zu leben! Das Leben ist ein Traum, und wir wollen nicht erwachen, um in einer Fabrik zu arbeiten. Wir wollen sein wie die Träumenden, die nicht fassen, was sie sehn, die staunen wie Kinder.“
„Dann mußt du das Andreas sagen.“ Und an jenem Abend sagte Piet dem Andreas, daß aus den Reiseplänen nichts würde, weil er Marion mit niemandem teilen wolle. Andreas war sehr enttäuscht, setzte sich weit abwärts, wandte sich dem intensiven Haschischkonsum zu und redete kein Wort mehr mit Piet. Dieser wollte mit Marion musizieren (sie hatte ein Knopfakkordeon genommen), aber sie schien abwesend zu sein, sie schien keine Nähe und Gemeinschaft zu suchen, sie war allein in der Einsamkeit ihres Geistes und wirkte abweisend auf den dadurch enttäuschten Piet.
Erst am folgenden Morgen, nachdem sie in der Nähe des Feuers neben den Heuballen geschlafen hatten, war Marion wieder zugänglich. Und Piet erzählte ihr von einem Kulturfest in einer Burg in Oberfranken, zu dem er gerne mit ihr reisen würde, und als er ihr unterbreitet hatte, was sie dort erwarten würde, war sie einverstanden. Die Rückfahrt war mindestens für Piet und Marion freudig, denn sie erwarteten ein Leben der Kunst, und sei es auch nur für eine Woche in einer romantischen Burg.
ZWEITES KAPITEL
In Aurach im Frankenlande stand auf einem Berge die Burg, durch deren Tor sie nun schritten, Piet Buß und Marion Meister. Als sie auf dem Vorhof standen, kam eine Frau ihnen entgegen, eine schwarzhäutige, füllige junge Frau mit schwarzen Locken, in ein weißes Kleid gewandet. Sie begrüßte die beiden Ankömmlinge: „Ich heiße Susanne, herzlich willkommen!“ Piet und Marion stellten sich namentlich vor.
Es war eine Kulturwoche der Reform-Kommunisten, denen Piet noch aus alten Zeiten anhing, und wenn er sich auch innerlich schon vom Marxismus geschieden hatte als einer dogmatischen Lehre, die seiner sehnsüchtigen Seele keine lebendige Nahrung gab, so hatte er doch die Hoffnung, daß in diesen reformerischen Kreisen die Jugendlichen mit ihren Utopien Mitgenossen wären auf dem Weg nach Utopia, nach dem er sich sehnte wie nach dem irdischen Paradies.
Die Woche wurde veranstaltet von der sozialistischen Jugend unter Leitung eines jungen Mannes namens Uwe, der eine symbolistisch-dekadente Erscheinung war, ein Dandy und Lebemann, ein Genußmensch. Er hatte dünne blonde, schulterlange Haare, eine hagere Gestalt, seine Nase war adlermäßig und seine Augen wach und scharf. Er führte Piet und Marion in den gemeinsamen Schlafsaal, in dem vier Betten standen, zwei Etagenbetten. Piet legte seine Sachen auf das untere Bett und Marion ihre Tasche auf das obere.
Beim gemeinsamen Abendbrot, es waren etwa zwanzig junge Menschen versammelt, wurden Ideen zur Gestaltung des nächsten Tages gesammelt. Piet hatte eine poetische Arbeit mitgebracht, die er vorstellen wollte: „Es handelt sich dabei um eine Collage aus Sätzen Shakespeares, die ich im Macbeth fand und derart zusammenstellte, daß sie ein kämpferisches Drama zur Rettung der bedrohten Schöpfung sind. Ich würde es gern als Lesedrama vortragen.“ Das fand Gefallen, und so versammelten sich am folgenden Tage fünf, sechs junge Erwachsene, unter ihnen Marion, um Piet, der auf dem Vorplatz der Burg, gelehnt an die ruinöse Mauer, sein Lesedrama vortrug.
Das Chaos trat auf den Plan, das Chaos der Apokalypse:
„Schön ist wüst, und wüst ist schön!“
Die Menschheit erinnerte sich daran, daß die Schöpfung einst schön gewesen, aber aus dem Schoße der Natur trat der Mensch herauf und vernichtete die Schöpfung. Es wurde deklamiert:
„Wie dorther, wo der Sonne Lauf beginnt,
Wohl Sturm und Wetter, schiffzertrümmernd, losbricht,
So aus dem Brunnquell, der uns Heil verhieß,
Schwillt Unheil an.“
Die Menschheit tritt mit dem Plan auf, genmutierte Schweine zu züchten, die allesamt durch eine Katastrophe im Genlabor weltweit starben:
„Wo warst du, Schwester?“ -
„Schweine gewürgt.“
Die Menschheit ratschlug und fragte sich nach dem Grunde ihres Untergangs, ob sie die Ursache bei sich selber finden könne:
„Oder aßen wir von jener giftigen Wurzel,
Die die Venunft bewältigt?“
Wenn auch die Menschen nicht ergründen konnten, was die Ursache dieses widervernünftigen Unterganges war, so sah sie doch deutlich vor sich...
„...was du selber schufest:
Abbilder grausen Todes.“
Einige Menschen waren zu verzweifelt, um sich noch regen zu können und irgendetwas zu unternehmen: sie schickten sich in den Tod der Menschheit. Einige aber wurden dargestellt als erfüllt vom Willen nach der ersehnten Rettung. Ihre Herzen waren...
„...zu voll von Milch der Menschenliebe.“
Diese Menschen erinnern an die Schuldigen, die Reichen, die von Geldgier zerfressen, den Untergang heraufbeschworen, wenn auch ihre Medien ihnen bis zum letzten Tage schmeichelten:
„Oft, uns in eignes Elend zu verlocken,
Erzählen Wahrheit uns des Dunkels Schergen,
Verlocken uns durch schuldlos Spielwerk, uns
Dem tiefsten Abgrund zu verraten.“
Diese Reichen, die die Menschheit an den Abgrund verraten, diese seien das Hindernis auf dem Wege zum irdischen Paradiese:
„Das ist ein Stein,
Der muß, sonst fall ich, übersprungen sein,
Weil er mich hemmt.“
Das Haupt der Bewegung innerer Erneuerung sei vorangegangen, ihm zu folgen sei der Weg zum Paradiese:
„Er ist ganz so edel,
Und ihn zu preisen, ist mir eine Labung;
Es ist ein Fest für mich. Laßt uns ihm nach,
Dessen Liebe uns vorangeeilt, uns zu begrüßen.“
Damit endete das Lesedrama, welches wir hier nur in den Grundzügen wiedergeben, weil es sonst den Rahmen dieser Prosa und den Rahmen des Themas sprengen würde. Immerhin bekam Piet Buß von den jungen Revolutionären heftigen Applaus und von Marion ein mildes Lächeln.
Am folgenden Tage traten Piet und Marion zu einer kleinen Gruppe, die sich um Uwe versammelte, der aus einer Erzählung über Cassandra vorlas:
„Unglücklichste, wehevollste aller Seherinnen! Tochter des Unglücks, tragische Frau! Wie weh tut mir dein dir vom Schicksal verhängtes Los! Warst du doch anfangs eine der glücklichsten Frauen, da der Gott der Seher, der schönste Jüngling, dich besuchte und dir die Gabe des Sehens verlieh! Darum liebtest du den Gott auch so sehr, weil er aus seinem unermeßlichen Reichtum dir die Gabe verliehen, da er durch dich die Zukunft deinem Volke offenbaren wollte! Welche Segensgabe solltest du deinem Volke sein, und wie danktest du deinem Gotte dafür! Er war wahrlich der Schönste unter den Göttern, er war die Sonne, von der du lebtest und die dir deinen Geist erleuchtet hat! O Cassandra, warum wurdest du untreu deinem Versprechen und hieltest die erste Liebe zu deinem Gotte nicht? Weh dir, du Ungetreue, du beschworest ein dunkles Schicksal herauf! Dein Fehlen an Liebe zu deinem Gotte besiegelte deinen Tod! Aber vor deinem Tode mußtest du täglich sterben: denn du wurdest verachtet vom Volke, du wurdest verschmäht und verspottet! Deine Prophezeiungen waren weiterhin wahr, weiterhin Offenbarungen deines Gottes, aber verhüllt von der Decke des Unheils, denn dein Volk schenkte deinen Worten keinen Glauben mehr. Du riefest: Unsere Stadt wird im Feuer untergehen! Aber alle Krieger, alle Bauern, alle Frauen lachten über deine Worte! Du sahest den Untergang, die Vernichtung unaufhaltsam kommen, eine stärkere Macht als die deines orientalischen Volkes würde eure Stadt vernichten, du wußtest das, aber keiner glaubte dir! Welches Geschick, Cassandra, daß du, die Tochter der Hecuba, wußtest, aber nichts bewirken konntest gegen den Untergang deiner Welt! Man spottete über dich, man lachte, man hielt dich für eine Idiotin, eine Rasende, einen Raben, eine, die nichts als Unheil prophezeite, nichts als Feuersbrand weissagte! Darum sperrte man dich, die Wahrhaftige, in den Turm! Und so mußtest du, die du dein Volk retten wolltest, in den Elfenbeinturm der Einsamkeit! Klagend lagest du daselbst auf dem Boden, du riefest die Tochter Gottes, die Jungfrau mit den himmelblauen Augen an und umklammertest ihr Standbild, aber es half dir nichts, weil du die erste Liebe zu deinem Gott verlassen hattest! Ajax schleifte dich aus dem Turm, riß dich vom Standbild der Jungfrau fort und übergab dich einem fremden Heerführer, einem Feinde deines Volkes! Dieser aber, selbst ein Mörder, ward ermordet, und du, du mußtest sein Schicksal des Todes leiden, du mußtest sterben, weil du die erste Liebe zu deinem Gott verlassen hattest! So ist alle Weisheit und Weissagung ohne die erste Liebe nichts und ist ein Todesurteil! Wehe dir, o Cassandra, wehe dir und allen, die deinem Schicksal folgen!“
Piet war aufgewühlt von diesem Text, er sprach von den Sehenden, die den Untergang der ganzen Erde kommen sähen, den Tod im Auge hätten, und dennoch wollte keiner auf sie hören; und da war er verzweifelt über das Schicksal Cassandrens. Und Marion sprach von der ersten Liebe, die Cassandra verlassen hatte, und daß es ihr Todesurteil gewesen wäre; und was denn der heutigen Menschen erste Liebe sei und wem sie zu gelten habe? Wer sei denn der Gott, wie sei denn sein Name?... Ratlos gingen die Menschen auseinander, ratlos und aufgewühlt, erregt und leidenschaftlich, mit dem Willen zu einer Änderung, und einer sprach zum Abschied einen Vers von Rilke aus: „Du mußt dein Leben ändern.“
Den darauf folgenden Tag gab es ein richtiges Theater, eine Bearbeitung der „Antigone“ des Sophokles. Susanne spielte die Antigone. Piet war in ganz andere Zeiten versetzt, schicksalsträchtige. Nach der Aufführung gab es ein Gespräch, im Wesentlichen zwischen Susanne und Piet.
„Die Antigone ist eine Frau, wie ich mir eine Frau vorstelle, eine Verkörperung des Guten“, sagte Piet, „dagegen die Ismene hat etwas Weibisches, wie man die Frauen so halten möchte, feig und zaghaft. Ich stelle mir Ismene noch schöner vor, als die... wie heißt sie gleich? sie spielen konnte, viel zarter, femininer, mit langen goldblonden Haaren, einem schmalen weißen Gesicht und blassen blauen Augen, blickend wie ein Häschen, ängstlich und weich. Aber die Antigone hast du gut gespielt. Sie hat etwas entschieden Entschlossenes, etwas Beherztes, etwas Ideales.“
„Ja, sie ist eine Amazone, nicht wahr? Aber doch nicht so wild wie etwa Penthesilea, die Amazonenkönigin, die Kleist vorstellt, die mit der zerreißenden, fressenden Leidenschaft. Nein, Antigone ist still und von einer inneren Stärke, die ihr Ruhe und Gewißheit gibt, die Gewißheit, auf dem rechten Wege zu sein.“
„Woher hatte sie diese Gewißheit? Immerhin war es eine Gewißheit, für die sie bereit war, in den Tod zu gehen! Manche Gewißheiten kann ein Mensch haben, man kann seine Gewißheiten wechseln wie sein Hemd; aber wenn es ans Sterben geht, erweist sich doch, welche Gewißheit wirklich eine solche genannt werden kann. Warum war es ihr eigentlich so wichtig, den Bruder zu begraben? War er doch tot und an dem Schicksal seines Staubes wenig interessiert.“
„Nun, ich weiß nicht genau, aber es war wohl eine Liebe, die die Schwester zu ihrem Bruder hatte, die besorgt war, er möchte auch als Toter noch geehrt werden. Es war eine Liebe, die über den Tod hinausging, eine wirkliche Liebe. Und sicher gab es da ein Gesetz in ihrem Gewissen, an dem sie schmählich versagt hätte, wenn sie nicht immer wieder Staub auf die Glieder des Bruders geworfen hätte. Dieses Gesetz in ihrem Gewissen muß nun ihr ein göttliches gewesen sein, ein wahrhaft menschliches Recht verkörpernd.“
„Ein Gesetz in dem Gewissen?“
„Woher es auch immer stammte; aus Überlieferung, Tradition, Erziehung oder aus ureigen Menschlichem. Jedenfalls war das die unbeirrbare Richtschnur ihres Handelns.“
„Aber es war nicht göttlich genug, sie vor dem Tod zu bewahren.“
„Es war stark genug, sie den Tod tragen zu lassen, ja, den Tod wählen zu lassen. Sie ging todesmutig in den Tod! Ist doch natürlicherweise der Mensch in Todesfurcht gefangen; aber Antigones Lebensgesetz schien sie davon befreien zu können.“
„Und sie wirkte in ihrer tugendhaften Haltung so anziehend auf Haimon, daß er ihr nacheilte! Ist das nicht die wahre Liebe eines Mannes, wenn er dem geliebten Menschen nachstirbt? Wenn einer den Tod eines geliebten Menschen zu seinem eigenen macht? Oder ist das nur eine törichte Leidenschaft, die das eigene, so kostbare Leben sinnlos fortwirft?“
„Haimon war ein Held. Aber die wahre Stärke sehe ich in Antigone, denn sie trug die ganze Last eines dunklen Schicksals auf ihren Schultern, und sie trug es standhaft und wich der Last nicht aus. Ismene wich aus und wollte ihren Frieden mit der Welt des Tyrannen. Haimon raste in seiner Leidenschaft der Geliebten nach, aber es war kein dunkles Verhängnis über ihm, er starb leicht. Nein, Antigone trug des Verhängnisses Kreuz, welches darin bestand, ein gutes, gewiß göttlich-gutes Gesetz in ihrem Gewissen zu haben, welches in der Welt des Tyrannen nicht lebendig war, welches nicht herrschte auf Erden, sondern die böse Macht herrschte auf Erden, der unheilwirkende Tyrann. Antigone beugte sich aber nicht der zeitlichen Wirklichkeit, sondern hielt fest am Gesetz in ihrem Gewissen, darum war sie bereit unterzugehen, und ist doch - Paradoxon der Tragödie - die eigentliche Siegerin der Geschichte!“
So diskutierte Piet mit der gelehrten Susanne, welche tief in die antike Welt eingetaucht war und begonnen hatte, sich einen tiefen Begriff von Schicksal zu bilden, der immer weiter von der oberflächlich-politischen Rebellion des Kommunismus fortführte. Piet konnte ihr nicht in allem folgen, in seiner Seele stand nur das Bild einer edlen Griechin: das konnte Cassandra oder Antigone sein, es war eine vom Tode umdrohte edle Griechin mit einer besseren Seele. Und diese edle, tugendhafte Griechin, edle Athenerin! sollte er in Marion suchen.
In der Nacht auf seinem Bett hatte Piet einen Traum, über den er sich selbst am nächsten Morgen wunderte. Bisher hatte er begehrt, Marion zu küssen, auch einmal sie in den Armen zu halten, in der Nacht aber träumte er folgendes: Er stand vor einer großen eichenen Tür, die plötzlich aufging und einen Raum darstellte, der von einem seltsamen Dämmerlicht erfüllt war. Da stand er und sah, daß es ein Baderaum war, das Licht kam vom Vollmond, der durch die kleinen Fenster schien und sich auf den Kacheln an den Wänden spiegelte. An der einen Wandseite waren Duschen angebracht. Plötzlich stand mitten im Raume Marion, umschlungen von einem weinroten Badetuch. Der Mondschein in der Nacht verblasste vor dem weißeren Mondenpaare ihrer Augen, die das Dunkel durchschimmerten, wie die Milch der Milchstraße flossen ihre weiblichen Blicke zu ihm und küssten seine Seele. Er sah ihre bloßen Schultern, weich gerundet, und da sank das Badetuch ein wenig herunter, und er sah für den Bruchteil eines Augenblicks ihre Brüste. Sofort war ihre bloße Gestalt wieder vom Tuch bedeckt. Sie schaute ihn jungfräulich-abweisend an, und er schämte sich in jenem Traum, in jenem dämmernden Raum für seine Wollust. Noch am Morgen, als er erwachte, hatte er das Gefühl, Marion entehrt und beleidigt zu haben. Aber die stille Erregung des Traumes blieb doch in ihm.
Am Nachmittag war eine Veranstaltung im Turm der Burg angesetzt, es sollte modelliert werden. Piet trat allein in das Turmzimmer. Marion hatte, ein wenig unwillig, abgelehnt und wollte alleine spazieren gehen. Es war, als hätte er sie tatsächlich beleidigt, dabei hat er in der Tat nichts als geträumt. Immerhin stak der Traum noch in seinen Gliedern, und so kam es, daß er, als er nach einem Modell suchte, das er modellieren könne, in einem Buche über antike Göttergestalten das Bild der Artemis von Ephesos fand. Die Göttin mit den neunzehn Brüsten wollte er darstellen, sie war ihm ein Sinnbild für die Fruchtbarkeit des Weibes, des Lebens überhaupt.
So machte er sich daran, den weißen Ton zu klopfen, zu befeuchten, zu kneten und zu modellieren, und er hatte schon im Groben das Götzenbild geformt, als Marion hereinkam. Sie sah still und ein wenig traurig aus, ihre regelmäßige Schwermut hatte sie wieder eingefangen. Sie sah so schön aus in ihrer Schwermut, so dunkel umflort, sah aus wie ein Bund roter Rosen, den man auf einen schwarzen Sarg legt, sah aus wie ein Trauermantel-Schmetterling, der doch immerhin den Frühling verkündet.
Still in dem Erker des Turmzimmers fing sie an zu arbeiten. Piet wagte nicht, in ihre traurige Stille hineinzusprechen, er beobachtete sie nur heimlich. Wie wunderschön war ihre Schwermut, und wie herzergreifend. Er hätte sie gern getröstet, fühlte sich aber ganz und gar hilflos. Sie fertigte eine Maske. Nach etwa einer Stunde stillen Arbeitens sah sie zu ihm herüber und sprach ihn an, als wenn sie von ihm ein Zeichen erwarte, daß das Leben noch lebendig sei, daß da noch Freundlichkeit der Menschen sei, daß da noch irgendeine Hoffnung sei.
„Was hast du denn da für eine Figur modelliert?“
„Nun, es stellt eine Fruchtbarkeitsgöttin aus Kleinasien dar.“
„So träumt ihr Männer also von den Frauen?“
„Ach, ich hab mir schon etwas dabei gedacht. Aber was hast du geformt?“
„Eine Totenmaske, siehst du, mit dem Rot der Erde und dem Weiß des Todes. Die Nase ist so groß und wie ein Schnorchel, weil durch die Nase der Atem des Lebens entweicht.“
„Und was bedeuten die Spiegel, die du in die Augenhöhlen einsetzt hast?“
„Ich wollte ausdrücken, daß man im Spiegel des Todes sich selbst erkennen muß. Ist doch der Gedanke an den Tod, den eigenen, ganz persönlichen Tod, notwendig, sich selbst zu erkennen. Jeder trägt seinen eigenen Tod wie ein Verhängnis mit sich. Vom Tode her formt sich die Seele, vom Ende her, oder? Erst der Begriff der Seele, die dem eigenen Tode standhält, ist ein tauglicher Begriff für die Seele, nur dadurch kann sie wahrhaft leben.“
„Und eben dieses Leben wollte ich in dieser Göttin darstellen: die Fruchtbarkeit des Lebens, die Schöpfer- und Zeugungskraft, die Lust am Leben, das Mütterliche des Lebens, an dem wir hängen wie Säuglinge. Ja, wie ein Säugling, der noch nicht entwöhnt ist, häng ich am Leben.“
„Ein wenig lüstern deine Vorstellung vom Leben, find ich.“
„Aber Marion, hat die Natur uns doch die Sinne gegeben, damit wir in schöner Sinnlichkeit die Natur erforschen!“
„Vor den Spiegeln des Todes hat die Sinnlichkeit ihr Recht verloren. Da ist nur noch Geist; Geist, der sich mit ewigen Dingen beschäftigt.“
Sie merkten beide, daß sie in diesem Augenblick, so sehr sie auch wünschten, es wäre anders, ja, auch Marion wünschte es, doch aus anderen Welten kamen. Vielleicht war darum Marion so melancholisch geworden, weil sie auf ihrem einsamen Spaziergang über den Tod und das Sterben nachgesonnen hatte. Wie nahe stehen sich doch der Tod und die Melancholie! Wie Geschwister!
O die Melancholie! Piet kannte einen Kupferstich von Albrecht Dürer über die Melancholie, die wie eine wohlgeformte Frau brütend über dem eigenen Selbst saß, und die Augen dieser Frau Melancholie waren dieselben wie Marions Augen: weiche Teiche aus Milch, gefaßt in den Rahmen von braunem Schilf, umdämmert von den schwarzen Schleiern der frühen Nacht. Melancholia, o du tiefsinnige Frau! Immer prüft sich dein träumerisches Philosophieren an den Gedanken des Todes! O Marion Melancholia, von welcher unsagbaren Schönheit war deine ganze seelenvolle Erscheinung!
Nach dem Abendessen und einem einsamen Spaziergang den Hügel hinunter durch die Wiesen, ging Marion früh schlafen. Piet kam am späten Abend in den Schlafraum, da sah er Marion friedlich schlafen. Und oh! wie friedlich lag sie da in der Ruhe des Schlafs, wie sanft und weich waren ihre entspannten Gesichtszüge! Eine Strähne ihrer dunkelblonden, fast braunen Locken hing ihr über die Stirn, und Piet hätte sie so gerne zurückgestrichen aus der Idee heraus, diese Strähne auf der Stirne könnte Marions Schlaf doch auf irgendeine Art und Weise beeinträchtigen. Diese Locke weckte einen solchen Schwall von Zärtlichkeit in ihm, er wußte nicht, wohin mit dieser Zärtlichkeit!
An ihren Bettpfosten hingen die Marionetten, die sie in der Heimat gebastelt hatte, die sie mitgebracht hatte, weil sie vielleicht mit ihnen ein Theater aufführen wollte. Aber nun war sie doch wohl zu schüchtern und introvertiert gewesen. Es waren ein Harlekin in einem gelbrotgrünen Rautengewand und eine Colombine im hellblauen Kleid. Die Colombine hatte große, dunkle Augen und feuerrote, lange Locken. Colombine war keine alberne Närrin, sie war vielleicht die Hauptfigur ein einer Tragikomödie oder in einem melancholischen Märchen mit dem Troste einer stillen Heiterkeit.
Piet saß noch so da und sah es Nacht werden, den Blick abwechselnd zum Fenster und zur schlafenden Geliebten wendend. Piet war aber noch keineswegs müde, sondern vielmehr sehr erregt von seiner seelischen Leidenschaft, die aus einer stürmischen Zärtlichkeit zu einer Rastlosigkeit und inneren Unruhe anwuchs. Er ging aus dem Schlafsaal hinunter in die Gemeinschaftsräume, in der Hand das Buch mit den Versen Alexander Bloks und sein Notizbuch mit einem Stift. In der Küche machte er sich noch einen Kaffee, denn er gedachte, die Nacht zu durchwachen, um nachzudenken oder wach zu träumen.
Er setzte sich auf einen bequemen Stuhl an einen Tisch und begann, Bloks Verse an die Schöne Dame zu lesen. Er las nicht darüber hinweg, nein, nahezu jeder Vers sprach in sein Herz und zündete ein Feuer der Liebe an.
„Spar den Befehl. Ich werde ohne ihn
Zum Tempel steigen.
Geneigten Hauptes vor dir knien
Und schweigen.
Und Hörer sein, von deiner Hand gelenkt,
Von dir betroffen.
Und was die flüchtige Begegnung schenkt,
Ergreifen und erhoffen.“
Wie war er doch in seiner Seele von ihrer schönen Hand gelenkt worden, die aus dem Daunenbett über den Bettrand hing, war sie doch wie eine Gnadenhand gewesen, die ihm den Weg weisen wollte, wie die Hand einer Königin, die den Kuß der Huldigung zu empfangen verdiente, ja, mehr noch, wie die Hand auf dem Bilde Michelangelos, die Hand Gottes, die Adam, ihn berührend, zum Leben erweckte!
„Das irdische Klopfen fällt fremd an ihr Ohr,
Die ringst tausend Perlen verstreute, verlor.
Ihr Schloß, himmelhoch in die Feuer getürmt,
Ihr Eingang, den rot das Geheimnis beschirmt...“
O da war beides enthalten: Das Überirdische ihrer Seele, die alles Drängen der Wollust jungfräulich von sich wies, und dennoch, wie in dem Traume seines Begehrens, die Pforte, die weinrot der geheimnisvolle Vorhang verbarg. Er sublimierte in seinen poetischen Träumen jedes Begehren, das aus seinem Traum und aus seinem Fleisch erwachte, zu einer mystischen Betrachtung der Geliebten. Sie war ja keine irdische Frau, sie war eine fremde Frau, fremder als jede Frau fremd war, mehr als eine Frau: eine Sendbotin vom Stern der Phantasie! Und von diesem Sterne ließ sie Diamantensplitter fallen, die in andere Welten spiegelten, so die Spiegel in den Augen des Todes oder die sanften Lächelblicke der Liebe oder die traumhaft-melancholische Schönheit ihres Blickes aus strömender Mondmilch.
„Als Ikone schaut mich lange
An - ach nur ein Traum von ihr.“
War sie nicht ein Gnadenbild, eine jungfräuliche Tochter Gottes mit mütterlichen Zügen? Aber warum ging sie nun nicht vor ihm? Warum lebte sie einzig in seinem Traum, in der Phantasie seiner Seele? Was für ein immaterielles Feuer hatte sie in seiner Seele entfacht, welches unstoffliche Blut der Leidenschaft brannte in seinem verliebten Herzen, Blut, das ihr Blut war!?
„Deine Züge, sie strahlen so tröstlich,
Und ich glaub: meine Liebe bist du.“
Wieder tauchte vor seinem geistigen Auge das Bild ihrer Ruhe auf, ein seliger Friede, derselbe selige Friede, den er einst - wie lang schien ihm das her zu sein - auf seinem Balkon im Angesicht des Himmels empfunden hatte! Sie ruhte wie eine Himmlische, wie eine Begnadete! Vielleicht ruhte so die Jungfrau Maria in ihrem Tode - - Woher kamen ihm diese religiösen Gedanken, ihm, der noch vor einem halben Jahr zu den Atheisten sich gerechnet hatte? War das die Religion der Liebe, die Religion der Minne, und war er ein Minnesänger, der im Tempel der Liebe anbetete in der Seitenkapelle vor dem Schrein mit der Ikone der Marion Melancholia?
„Eine märchenhafte Krone
Krönte dich aus Morgenlicht.
Ich weiß wohl noch den Weg zum Throne
Und dein strenges - mein Gericht!“
Noch war der Morgen nicht da, und schon schaute er den purpurgoldenen Glanz um Marions braune Locken sich weben wie eine Strahlenkrone, und sie tauchte auf aus dem rubinroten Meere des Morgens mit der Sonne im Haar, und aus dem Schoß der Morgenröte tauchte auf in diamantener Glorie die Geliebte, Tau auf den Lippen, die Augen wie erwachende Blumen! Und sie nahm den Thron ein, den Thronstuhl im Tempel seines Herzens und sprach ein königliches Gericht über seine Seele - und er entsetzte sich und erschrak! Da schrieb er in sein pergamentgebundenes Notizbuch: „Ich bin verbrannt im Feuer der heiligen Inspiration!“
Da sah er, wie durch die Fenster das erste Licht der Morgenfrühe hereinschimmerte, das Schwarz der Nacht blaute auf, und er hörte die ersten Vögel ihren Gesang anheben. Da begann in ihm das Leben seiner Seele hell zu werden, und das dämonische Feuer seiner Vergötterung, in dem er verbrannt war, entließ ihn, daß er wie ein vom neuen Leben erregter Phönix aufstieg, sich in den lindblauen Lüften zu tümmeln.
Er trat ins Freie und wandelte auf dem Burgvorhof, mit den bloßen Füßen in den Sandalen über das taufeuchte Gras, das seine Füße erfrischte und den ganzen Menschen erweckte, daß ihm war, als tauchte er aus einem tiefen Schlafe voller Träume auf. Im Osten sah er am Horizont die erste zarte rosa Röte, die wie ein Hauch von Scham war, hold und zartselig. Und er lauschte den Liebesliedern der Vögel, die diese dem Erwachen der großen Sonne sangen, des Stellvertreters Christi auf Erden!
Er spazierte den Wandelgang um die Burg herum, bis er zu dem Burggarten kam, da zwischen Wiese und Mauer die schönsten Rosen blühten. Von einem tiefen satten Rot waren die Blüten, waren wie Weinkelche, wie lebendige Rubine, wie Herzblut. Er betrachtete die sanfte Faltung der Blütenblätter, das Gefaltetsein der frommen Blütenhände, das Sich-ineinander-schmiegen der blutroten Laken, das leichte Wehen der purpurnen Segel im erwachenden Lüftchen des Morgens; und sein Blick ward gebannt von der Königin der Rosen, die in der Mitte der anderen Jungfraun stand wie eine Maienkönigin, gekränzt von blutiger Glorie, gekleidet in ein scharlachfarbenes Gewand einer Hohepriesterin. Und diese Königin der Rosen neigte demütig wie eine schlichte Magd ihr holdes Haupt und ließ eine Handvoll Blütenblätter fallen zum Opfer der Liebe, und sie sanken in die leeren, offenen Hände Piets, der sich ihrer erbarmend annahm und sie auffing, daß sie nicht zu hart auf die Erde fielen. Er bewahrte sie wie einen Schatz von königlichen Rubinen und Amethysten in seinen demütigen Händen und trug sie wie eine Schale voll Weihrauch oder wie den Heiligen Gral in den Tempel der Ruhe und des Friedens, da sein Gnadenbild sich befand, da seine blauäugige Athene ihre Waffen abgelegt hatte, da die selige Jungfrau Maria im Bett der Auferstehung harrte. Und Piet brachte zur Opfergabe Blütenblätter dar auf dem Altar der Liebe. In den kleinen hellgrünen Schuh aus Segeltuch, den Cindarellaschuh, legte er, ihr zu Füßen, die Blütenblätter.
Dann zog er sich zurück in den Gemeinschaftraum und wartete auf die andern Menschen, die sich dort zum Morgenmahl versammeln würden. Bald trafen die Andern ein, einige noch schlaftrunken still, andere schon heiter schwatzend, Piet wie geistesabwesend unter ihnen. Schließlich kam auch Marion herein, er hatte diesem Moment entgegengezittert und wagte kaum, sie anzusehen, so fürchtete er, daß sein Opfer abgewiesen würde, er zitterte, als bangte er um seine ewige Seligkeit. Sie aber sah ihn kaum, sie sah noch keinen Menschen, und widmete sich ganz dem morgentlichen Tee.
Die Unsicherheit war dem, vom langen Wachen sensibilisierten Piet zu gefahrvoll, er zog sich heimlich zurück, er mochte auch von keinem Genossen angesprochen werden, er fürchtete, daß seine zärtlichen, fast heiligen Gefühle von der prophanen Wirklichkeit der anderen Menschen nur entweiht würde. Er ging in den Schlafraum, um sich noch für ein, zwei Stunden schlafen zu legen. Da fand er als eine überwältigende Erscheinung die Blütenblätter der Rose im ganzen Raume ausgelegt! Er wollte einem Menschen Liebe erweisen, und dieser Mensch hatte seine Liebe der ganzen Welt gegeben! Auf dem Fenster zur Sonne atmeten Rosenblüten dem Tag entgegen, auf den weißen Betten ruhten die roten Blutstropfen, in dem Gedichtband Rilkes lagen auf den weißen Seiten, zwischen den schwarzen Verszeilen, die roten Tintenflecken der Rosenkönigin -
„Nicht wahr, der Fremdling ist bleich?
Aber noch viel, viel bleicher
Sind seine Lieblingsträume,
Sind wie Rosen im Teich.“
Und vorsichtig blätterte Piet die Seite um, und siehe, auch da lagen, eingebettet zwischen zwei schneeweiße Seiten mit den schwarzen Krähenfüßen, drei rote Rosenblütenblätter.
„Schau, unsre Tage sind so eng
Und bang das Nachtgemach;
Wir langen alle ungelenk
Den roten Rosen nach.
Du mußt uns milde sein, Marie,
Wir blühn aus deinem Blut,
Und du allein kannst wissen, wie
So weh die Sehnsucht tut.“
Mit unsagbaren, unbeschreiblichen Gefühlen, einer Odyssee durch die Felsen Seligkeit und Angst, mit einer Wanderung durch die Wüste der Bangigkeit wanderte Piet in den zitternden Schlaf, das gelobte Land der Ruhe hinüber und schlief zwei, drei Stunden traumlosen Schlaf.
Als Piet erwachte, war er wieder einigermaßen nüchtern. Marion trat zu ihm, als er an dem Tisch im Schlafraum saß und schaute neugierig, was er da in seinem Notizbuch las: „Läßt du mich lesen, was du da geschrieben hast?“ fragte sie.
„Wenn du mir ein wenig aus deinem Tagebuch vorliest. Ich habe wohl gesehen, daß du sehr sauber, sehr nachdenklich in ein großes Tagebuch deine Gedanken oder Erlebnisse einträgst, und ich bin neugierig zu erfahren, was denn in jenem Heft so steht.“
„Nun gut, lies mir aus deinem Notizbuch vor, und ich les dir aus meinem Tagebuch vor.“
Piet schlug an irgendeiner Stelle das kleine Notizbuch auf und schaute und sagte dann: „Das ist eine Nachdichtung eines Dylan-Liedes, die ich für dich gemacht habe: He, Flötenspielerin! heißt das Lied:
An einem Tingel-Tangel-Morgen
Ziehn wir zur Welt hinaus...
Das haben wir ja nun auch getan und sind hinausgezogen, aber schöner finde ich noch folgenden Vers:
Du hilf mir, hilf mir, daß ich nicht versink
In meines Geistes tiefen, innern Ring,
Nicht in den Zeitennebeln mich verschling
Irrsinnigen Kummers!...
Eines Tages, wenn es ganz fertig ist, möcht ich es dir gerne vorsingen.“
„Und nun also“, sagte Marion, „les ich dir aus meinem Tagebuch vor. Mal sehen, was du da erfahren darfst.“ Sie blätterte in ihrem schönen Notizbuch, er sah eine schwungvolle weibliche Schrift, ein wenig zur linken Seiten geneigt. „Na also, da hör einmal: Alle ihre Intelligenzen sind nur gestohlene Dummheiten... oder: Ich habe gesehen, wie die Dinge wirklich sind, darum muß ich nun gehen... Ach, ich weiß selbst nicht mehr genau, was ich mir dabei gedacht habe.“
In dem Augenblick kamen zwei Genossinnen herein. Sie wollten einen Nachmittagsspaziergang machen und fragten Piet und Marion, ob sie nicht mitkommen wollten; und beide wollten gerne. So machten sich die Vier auf die Wanderung, aus der Burg heraus, den staubigen Weg den Hügel hinab, bis sie auf einen Seitenpfad traten, der in die herrliche Natur der fränkischen Landschaft einbog. Sie gingen an einem kleinen Bächlein entlang durch die herrlichsten Wiesen, die nicht nur sattsam grün waren, sondern auch beblümt von den zartesten Blümelein, kleine hellblaue Blüten, kleine violette Blätter lächelten die Wanderer so an, daß die Empfindsameren unter ihnen sich in einem Garten des Friedens versetzt fühlten. Marion schien eine Art von überirdischer Seligkeit zu empfinden und schaute wie ein Kind in die Welt, voller Staunen und Dankbarkeit für die Schönheit der Schöpfung. Sie, die so oft einen Seelenschmerz auf dem Antlitz zu tragen schien, erschien hier ganz gelöst und selig, wie geheilt von einem inneren Schmerz durch die Lindigkeit der Schöpfung. Es war wirklich ein seltener Friede in der Natur, als ruhte all ihr Streiten und Kämpfen, es war ein Hauch von Elysium um sie her. Bald kamen sie an einer Gruppe von jungen Pferden vorüber, die mit treuen, weichherzigen Blicken, sanft und groß, die friedlichen Wanderer anschauten. Da erinnerte Piet sich wieder an sein Gedicht vom Land der Pferde, das er einmal auf dem Weg zu Marion gedichtet hatte; nun aber war sie mit ihm in diesem Land; und er erwartete fast, daß die Pferde zu sprechen begönnen. Nun, sie wieherten hell und freundlich und kamen neugierig näher. Marion strich einer Stute durch die Mähne, und Piet genoß dieses Austeilen von Zärtlichkeit, als gölte sie ihm. Nach zwei, drei Stunden Spaziergangs kehrten die Vier zurück zur Burg, da war es auch schon Abendbrotszeit.
Nach diesem zerstreute sich die Gruppe wieder, und bis zum Konzert, das einige im Burgkeller veranstalten wollten, war es noch ein wenig Zeit. Jeder ging seiner Wege. Marion setzte sich mit Papier und Stift an einen Tisch im Gruppenraum und begann, einige Menschengesichter zu zeichnen. „Sie geraten mir immer grotesk“, sagte sie zu Piet, der ihr über die Schulter sah. „Ich kann mich anstrengen, wie ich will, ich kann mir vornehmen, die lieblichsten, anmutigsten Gestalten zu malen, die friedlichsten, harmonischsten Züge in den Angesichtern, sie geraten mir immer zur Groteske, zur bitteren Karikatur.“
„Vielleicht können wir, wenn wir von Aurach weiterwandern wollen, die Welt zu erobern, auf den Marktplätzen mit deiner Kunst die Menschen unterhalten? Du hältst ihnen den Spiegel vor, sie entdecken die Deformationen ihrer Seele, und haben auch noch einen innern Gewinn davon!“
„Du willst als Straßenkünstler durch die Städte ziehen? Wie soll das werden? Wovon willst du leben?“
„Wir werden schon irgendwie durchkommen, mach dir nur keine Sorgen. Wenn wir heute überleben, warum soll es uns nicht auch morgen gelingen? Und wir sind ja schließlich auch Künstler, und Künstler sind ihres Brotes wert. Ich weiß wohl, es ist brotlose Kunst, aber lieber verhungern als ein Kind der Welt zu werden!“
„Ich will dich einmal porträtieren!“ Und sie begann in schnellen Strichen seine hagere Gestalt, sein schmales Gesicht, seinen jungen Bart und seine langen Haare zu zeichnen, kleidete ihn in eine Rautenjacke und setzte ihm eine Halbmaske vor die Augen. Sie hatte ihn als Arlecchino skizziert. Er lachte. Daraufhin gingen sie hinunter in den Burgkeller, da ihnen aus dem steinernen Gewölbe schon die elektrische Musik entgegendröhnte: „Rote Lippen mußt du küssen, denn zum Küssen sind sie da“, sang ihnen Susanne entgegen. Jeder beteiligte sich mit irgendeinem Instrument am Stück, Rasseln und Schellen und Trommeln waren genug da, Maultrommeln und Flöten und Gitarren. Sie gingen ganz unter in dem Musikereignis.
Am folgenden Morgen - der letzte Tag sollte beginnen dieser Kulturwoche - erwachte Piet, sah sich um und vermisste Marion. Nun, sie mußte wohl schon aufgestanden sein. Er wusch sich und ging in den Speiseraum. Aber auch zum Frühstück erschien sie nicht. Da fragte er Uwe, ob er wüsste, wo Marion bliebe. Dieser klärte ihn auf: „Sie ist mit dem Trommler nach Ulm gefahren, ich soll dir sagen, du solltest nicht traurig sein...“
Nicht traurig sein! Das war leicht, denn er war augenblicks geschockt, vom Schock der Erstarrung stürzte er in eine blinde, schwarze Verzweiflung! Er sah nichts mehr um sich herum, ertrug die schwatzenden, glücklichen Menschen nicht mehr, stürzte davon und begab sich in das einsame Turmzimmer, wo er auf den Boden sank und die Tränen der Verzweiflung weinte!
Er war in dem Turmzimmer eingeschlossen, wie in einem Elfeinbeinturm, die Wände waren weiß wie Elfenbein, aber es krochen die schwarzen Spinnen der Verzweiflung darüber hin und spannen das Netz des Elends, das, wenn man hineinfällt, zerreißt und einen noch tiefer fallen läßt. Er spürte in diesem Elfenbeinturm noch sehr stark die Anwesenheit seiner Geliebten, die ihm hier den Spiegel des Todes vorgehalten hatte, und diese Totenmaske war ihm nun viel näher als die Göttin der Fruchtbarkeit. Sein Götze war zerstört! Ihm war wie Cassandra, die sich an der Tochter Gottes, an deren Standbild festgehalten hatte, aber von Ajax herausgezerrt worden war und geschleift über den trojanischen Boden; so wurde auch er geschleift über den Grund, auf dem Sie einst gegangen war, und kein Götzenbild half ihm in dieser Stunde des Zugrundegehens! Alles war nichtig!
Er hielt es nicht mehr aus in dem Turmzimmer, es war ihm zu hell, die Wände weiß und die Fenster zum Tage offen, er wollte sich in Dunkel und Finsternis verbergen, darum eilte er in den Burgkeller, in das dunkle steinerne Gewölbe und setzte sich an einem groben eichenen Tisch, da sank ihm der Kopf auf den Tisch, und wieder ward er erschüttert und schüttete Tränen aus, und unter Schluchzen stammelte er ihren Namen, aber es vermehrte seinen Schmerz! An den finsteren Steinwänden rann das Wasser der inneren Not herab, es tropfte gleichmäßig auf den kalten Steinboden, und der Tropfenfall, der Tränenschlag hallte in dem Gewölbe trostlos wieder. Er fand sich in einem Verließ, zum Tode verurteilt, in einer Zeit, da er am Leben hing wie nie zuvor, da ward ihm die Hoffnung auf das Glück des Lebens genommen, nun erlebte er seine letzte Stunde vor dem Fall des Beils der Guillotine! Er wand sich vor Todesfurcht und ersehnte doch das Nichts, das Verlöschen, das Ende des Elends - und dennoch, war dieser Schmerz der Erde nicht der Vorgeschmack der ewigen Höllenschmerzen?!
Es riß ihn fort, er eilte zum Vorhof der Burg. Nach der Finsternis beruhigte ihn das Licht des Tages ein wenig, er lehnte sich an die Burgmauer und sah in die Ferne: alles war ihm leer, diese Ferne ohne Leben, der Horizont ohne Hoffnung, die Sonne ohne Licht und Leben, er sank auf den Boden. Die Löcher in den Steinen der Burgmauer sahen ihn aus ihren schwarzen Höhlen mit den Augen des Todes an, mit den Blicken der schwarzen Verzweiflung und zeigten ihm wie in einem Spiegel seinen eigenen steinharten Schmerz! Die Seelenqual hatte in sein steinernes Herz tiefe schwarze Löcher gegraben, aus denen er in die Welt starrte und die Welt doch nicht sah - alles Öde und Leere um ihn!
Über ihm schossen Schwalben lustig durch die Luft, in der Ferne wieherten die Pferde, die doch noch vor kurzem sein Friede gewesen waren. Ach die hilflose Kreatur, wie als wäre sie um ihn bemüht, wie als wolle sie ihn trösten und waren doch so hilflos und konnten kein Wort der Hoffnung reden. Vielmehr wirbelte in seinem verfinsterten Geiste alles durcheinander, und er sah die Schwalben wie Pfeilgeschosse durch die Leiber der Pferde schießen, hörte die Stuten aufschreien wie in Todesqual - vorüber war es mit dem Frieden der Kreatur! Piet lag verzweifelt auf dem harten, steinigen Boden der Erde, verflucht zur elendigsten Einsamkeit! Sein Abgott hatte ihn verlassen, und Gott - er kannte Gott nicht.
DRITTES KAPITEL
Wieder in Ostfriesland, wieder in Norden, spazierte Piet von seiner neuen Wohnung (er hatte zur Untermiete ein größeres Zimmer in dem Hause einer fünfunddreißigjährigen Frau bezogen) durch die stillen Straßen Nordens, es war ein September-Sonntag, besah sich die Blumenbeete und Vorgärten der Kleinbürgerhäuser, kam an dem verwahrlosten Obdachlosenwohnheim vorüber, das am Stadtrand lag, da sah er schon die Wiesen und Weiden sich breiten, durchzogen von schmalen, schilfgesäumten Kanälen. Und er wanderte an der Eisenbahnlinie entlang einen Wanderweg durch große Felder - zu anderen Zeiten blühte hier goldgelber Raps, dessen Duft betrunken machte - und kam schließlich zu einer Weide, auf der einige Pferde grasten.
Von seiner Wanderung war er ein wenig erschöpft und setzte sich unter einen Busch in das Gras, betrachtete eine Zeit lang die ruhigen Pferde, da tauchte der Gedanke an die Pferde von Aurach auf, eine leichte Wehmut umwob ihn wie ein silberner Schleier, und er träumte dieser Stimmung ohne Gedanken nach. Nach einiger Zeit zog er ein Buch aus seiner Umhängetasche, es war ein Rilke-Brevier mit ausgewählten Zitaten aus seinen Erzählungen, Gedichten und Briefen; darin las er.
Ein Themenkapitel berührte ihn im Grunde seiner Seele, es war das Kapitel „Liebe“. Er hatte noch einen Goethevers im Sinn: „Es küsst sich so süße der Busen der Zweiten, wie süß sich der Busen der Ersten geküsst.“ Aber bei Rilke fand er andere Gedanken, die ihn in eine andere Richtung zu denken anregten. Er wollte seine Beziehung zu Marion nicht als gescheitert ansehen, er wollte nicht vergessen, um sich anderweitig umzuschauen, sondern hatte ein treues Empfinden für sie, wenn es auch ruhiger geworden war. Nun tauchten aber Gedanken in ihm auf von Freiheit, von Geist und Idee, von Verzicht und Entsagung. Sollte er nicht Marion, die wer weiß wo sich befand, freigeben? Hatte sie nicht gewünscht, daß er ihr die Freiheit lasse? Einst hatte er zu ihr gesagt: „Wer gebraucht wird, ist nicht frei; ich aber brauche dich.“ Und sie hatte darauf ernst erwidert: „Ich will aber nicht gebraucht werden, sondern frei sein.“ Und hatte sie nicht immer ihr Alleinsein, ihre Einsamkeit behauptet? Nie hatte sie Sehnsucht nach inniger Verschmelzung der Seelen angedeutet, sondern war souverän wie eine Königin der Phantasie durch das Leben geschritten. Dann konnte doch der Dienst einer wahrhaftigen, selbstlosen Liebe nur darin bestehen, ihr diese Einsamkeit zu schützen und zu bewahren. Er wollte „Wächter ihrer Einsamkeit“ sein, er wollte, daß ihre Leben wie zwei ferne Türme seien, die über große Entfernung hinweg einander zublickten.
Nachdem er so nachgesonnen hatte, ward ihm doch die Erinnerung an das vergangene, in ihm lebendige Erleben wieder wach, er fühlte alles wieder neu, die Leidenschaft von Aurach kam erneut in seine Seele, aber verklärt und vergeistigt. Und aus dieser Mischung von erinnerter Leidenschaft und neuer Vergeistigung und Entsagung entstand eine poetische Stimmung in ihm, die ihm den ersten Vers eines Sonettes eingab, und die folgenden dichtete er flüssig mit:
„Ich sei der Wächter deiner Einsamkeit
Und schau von fern zu dir als wie ein Turm,
Der ungebeugt beharret in dem Sturm
Der Leidenschaft und nicht zerbricht im Leid.
Ich widm mich deiner Freiheit: Du bist frei!
Nur daß du meinen Liebesdienst empfängst
Wie eine Gnadenkönigin, das sei
Mein Wunsch, und daß du an mein Lieben denkst.
Und ich will pflegen die Erinnerung,
In meinem Herzen lebt die Feuersglut
Der Nacht mit ihrem dichterischem Schwung
Und deiner schönen Schwermut schwerer Mut
Freiwilliger Entsagung. Du bist jung
Und lebst in mir mit deinem Rosenblut.“
In jenem Monat las er in der stillen Mußezeit des Herbstes („Sei mir gegrüßt, o Göttin der Muße!“) eine Poetik, eine poetische Konfession, die ihn sehr ansprach. Es war darin die Rede vom Dichter, der nicht allein zu dichten wissen müsse, sondern poetisch leben müsse. Er hatte zuvor das Dichten unbewußt aus innerem Drang betrieben, er hatte dies getan, seit er mit dreizehn Jahren, so weit er sich erinnerte, seine erste Poesie geschrieben hatte. Später hatte er sich Pamphleten der revolutionären Bewegung gewidmet und die Poesie vernachlässigt, aber nun brach der natürliche Drang zur Poesie sich machtvoll in seinem Inneren Bahn. Er ahnte, daß er eine natürliche Gabe der Dichtkunst verliehen bekommen hatte mit seinem Leben. Und aus einem tiefen Instinkt heraus entschied er sich in jenen Wochen, seiner Berufung zu leben, der Rühmungskunst.
Nun ergriff ihn eine noch unwiderstehlichere Leidenschaft, die Dichter kennen zu lernen, vor allem die großen alten Dichter, die Klassiker. Und er nahm sich, was er schon seit langem hatte lesen wollen, den „Hyperion“ von Hölderlin - und versank in die romantische Welt des Griechentums. Der edle Charakter des Helden sprach ihn ungeheuer an, vor allem aber Hyperions unbedingte Liebe. Dass auch Hyperion dem politischen Kampfe sich widmen wollte, brachte ihn noch näher, denn wenn Piets Engagement in der radikalen Bewegung nun zuende gegangen war, so lebte doch noch die Illusion in ihm, durch menschlichen Einsatz die Welt der Gerechtigkeit heraufführen zu können, das irdische Paradies erkämpfen zu können. Nur war seine Sehnsucht nach etwas unendlich Idealerem als nach dem Sozialismus mit seinem Materialismus. Aber auch Hyperion fand in seinem Kampf um die Ideale nicht das Wesen der Liebe, sondern allein in dem Anschaun der Geliebten, der Reinen, der holden Jungfrau, der stillen Athenerin. In manchen Zügen der seelenschönen Diotima fand Piet auch Züge Marions. Solch eine Liebe, wie Hyperion sie zu Diotima lebte, solch eine Liebe war die einzige Liebe, die würdig war, menschliche Liebe genannt zu werden. Es war ideale Liebe, mehr als eine vorüberflatternde Verliebtheit, tausendmal wertvoller als aller betörender Rausch der Sinnenlust. Marion erhob Piet über seine bisher gewohnte Weise zu lieben, sie beflügelte einen Drang zum Besseren, Höheren in ihm; und er lernte von Hyperion, wie man solche Liebe leben könne. Er verlor sich in elegisch-seligen Träumen, als er mit Hyperion in den stillen, einsamen Hain ging, den Geist seiner Liebe zu rufen, er lauschte auf das leise Flüstern der Unsterblichkeit, auf die Verheißung einer ewigen, vom Tode nicht vernichtbaren Liebe. Der Roman des Schwärmers („Sonst kreuzigte man den Schwärmer auch!“) verwandelte ihn, erweckte in ihm die Sehnsucht nach dem Reich der Liebe, in der der Tod nicht mehr herrscht.
Eines Vormittags im goldenen Oktober - draußen wirbelten im Sturm die gelbbraunen Blätter durch die Luft - lag Piet auf seinem goldfarbenen samtbezogenen Sofa und blätterte in einem Bildband über das antike Griechenland, er betrachtete gerade die Ruinen des Palastes von Knossos, als es an seiner Türe klingelte. Er öffnete die Tür und erschrak, denn vor ihm stand Marion. Verwirrt von einem aufkommenden Sturm der Gefühle führte er sie in sein Zimmer.
„Ich habe im Café deinen Freund Andreas getroffen und ihn nach deiner Adresse gefragt. Nun wollte ich einmal vorbeischauen und fragen, wie es dir geht und was du so machst“, sagte sie.
„Nun, ich lese und schreibe und gehe spazieren und höre träumend Schuberts Winterreise, eine wunderschöne Musik, todtraurig, aber schön.“
Er betrachtete sie mit gespannten Sinnen. Sie trug eine orangene Wildlederjacke mit goldenen Zierstickereien, die farblich gut zu ihren braunen Haaren passte, darunter einen weinroten Samtpullover, dazu eine violette Stoffhose, auf welcher in orange und feuerrot Blütenkreise abgebildet waren. Sie erschien vor ihm wie ein phantastisches Gemälde, aufgetaucht aus dem romantischen Winkel ihrer Seele, in dem die Sehnsucht nach dem Garten Eden verborgen schlummerte. Sie sah, daß er sie so genau betrachtete, merkte aber auch die Wärme seiner Blicke, ja, eine ihr etwas unangenehme Feurigkeit seines Blicks. Da sah sie ihn ruhig-freundlich an mit den weichen Augen, diesen Blütenkelchen voller Schimmer, beruhigend wie Opium, die aber alle Träume von Liebe, die er je geträumt hatte, auf einmal in ihm erregten.
Flammend stand er auf von seinem Sessel, trat vor die Sitzende, fasste sie an den Händen und zog sie herauf. Überrascht ließ sie es geschehen, stand vor ihm, Abstand haltend, und sah ihn staunend und fragend an. Er sah wohl und spürte die Unsicherheit in ihrer Seele, sie wußte nicht, wie sie sich jetzt verhalten solle.
„Laß mich nur einmal, Marion, nur einmal deine Hände küssen!“ flehte er. Und ohne eine Antwort abzuwarten, hob er ihre Rechte und führte sie an seinen Mund. Eben als er sie küsste, zog sie die Hand auch schon wieder zurück. Als wäre er geheiligt und verdammt im selben Augenblick, trat er verwirrt einen Schritt zurück und sah sie mit glühenden Augen an.
„Prinzessin!“ Mit diesem Anruf beugte er sein rechtes Knie und kniete vor ihr, „lege deine Hände, ich bitte dich! lege deine Hände auf mein Haupt und segne mich, gib mir Frieden, gib Ruh in meine aufgewühlte Seele!“
Sie lächelte und ließ für einen kurzen Moment ihre rechte Hand in seinen Haaren ruhen. Dann zog sie die Hand zurück, er erhob sich augenblicks und sah sie an, keines verständigen Wortes gewärtig. Ihm war, als wäre er in irgendeinem sehr alten Tempel, einer dunklen Kapelle, rotes Licht flutete durch die Fensterrosen, und eine Heilige sei an ihm vorübergeschritten und habe ihren Schatten auf ihn fallen lassen.
„Ich muß fort!“ sagte sie, und Piet erschrak. „Ich brauche nur einen Augenblick bei dir zu sein, und schon ist meine Phantasie entzündet, in meiner Seele tauchen Visionen auf, und ich muß fort, meine Visionen zu malen!“ Mit diesen Worten ging Marion zur Tür, öffnete diese und trat hinaus. Er stand im Türrahmen und sagte: „Sehen wir uns wieder?“
„Ich wohne in der Mandelbaumallee, in dem Haus mit dem Gemälde an der Hauswand. Vielleicht magst du mich einmal besuchen kommen. Aber nun muß ich fort.“ Damit wandte sie sich und ging.
Er war so aufgewühlt, er konnte kein Buch mehr lesen, keinen Bildband mehr betrachten, keine Musik mehr hören, unruhig schritt er in seinem langen Zimmer von einem Ende zum andern, wie ein Panther im Käfig, und nur langsam beruhigte er sich, viele Zigaretten rauchend.
Wenige Tage später, wieder in seine müßige Ruhe zurückgekehrt, saß Piet eines Nachmittags im Café. Er war gerade versenkt in die Betrachtung der Fotographien von Mahatma Ghandi und Martin Luther King, die über seinem runden Tisch an der Wand hingen, als sein Freund Andreas Schwalbenburg das Café betrat. Er war es gewohnt, dort fast jeden Nachmittag die Tageszeitungen zu studieren.
Es war eine politisch bewegte Zeit in Deutschland. Im Osten hatte lange Zeit eine gottlose Clique das Volk in Furcht und Zittern gehalten, in Unmündigkeit und Gefangenschaft, aber nun waren Aufbrüche geschehen, nun hatte sich der den Menschen angeborene Drang nach Freiheit und Gerechtigkeit (zumeist verdunkelt und befleckt von ihrem innewohnenden Sog nach unten, dem Willen zur Macht und dem Eigensinn) Bahn gebrochen, und das deutsche Volk auf beiden Seiten der Todesgrenze begehrte die Einheit. Die ersten Kundgebungen der Deutschen im Osten hatten stattgefunden, Versammlungen in den Kirchen, Kerzen wurden angezündet, Gebete um eine friedliche Erneuerung und Wandlung wurden gebetet, Panzer wurden aufgefahren, Propaganda wurde auf beiden Seiten betrieben.
Viele Menschen waren aus dem Osten Deutschlands über Ungarn und Österreich in den Westen Deutschlands geflohen, große Entbehrungen leidend, weil sie im Westen den goldenen Westen sahen, das gelobte Land. Andreas verfolgte diese Entwicklung aufmerksam, alle Seiten bedenkend, seine Meinung zu entwickeln. An Piet ging diese Entwicklung wie ein Traum vorüber. Aber nun fiel doch ein Licht oder Schatten der Politik in sein Leben, als Andreas sich zu ihm an den Tisch setzte und das Gespräch über dieses Thema begann.
„Es steht noch auf Messers Schneide. Vielleicht wird vom ostdeutschen Regime die chinesische Lösung gewählt, die Bürgerbewegung mit Panzern nieder zu rollen, vielleicht kommt es zu einer Erneuerung des Sozialismus, zu einem Sozialismus mit menschlichem Gesicht, wie es so schön heißt, vielleicht entwickelt sich ein drittes System zwischen Sozialismus und Kapitalismus, vielleicht wird Ostdeutschland vom Westen angeeignet und anverwandelt. Es ist eine geschichtlich spannende Zeit. Es scheint mir der Niedergang des Kommunismus, zumindest zunächst in Europa zu sein.“
„Ich lese gerade eine Philosophie der Utopie, des utopischen Prinzips. Ich glaube, wenn die Menschen im Osten nach dem Westen streben, dann ersehnen sie Utopia im Westen. Aber Westdeutschland ist nicht Utopia, es ist nicht das Land, wo das Gold so geringgeschätzt wird, daß es für Sklavenketten verwandt wird. Nein, das Gold ist hier der Gott, den man anbetet in den Mammonstempeln zu Frankfurt, und die Börse ist der Gottesdienst“, sagte Piet.
„Du hast recht, es gibt eine gewaltige utopische Kraft in der Bewegung, eine Sehnsucht nach Freiheit, politischer und Gedanken-Freiheit. Es gibt aber auch ein utopisches Moment in der Bürgerbewegung bei denjenigen Gruppen, die ein neues System, weder die sozialistische Staatsdiktatur, noch die kapitalistische Gelddiktatur, wollen und voller Hoffnung nach einem menschlichen System suchen, nach einer Gesellschaft, in der weder das eigene Volk unterdrückt wird, noch die sich aufmacht, andere Völker auszubeuten.“
„Es scheint mir lobenswert von diesen Menschen, die Suche nach Utopia nicht aufgegeben zu haben, aber Utopia heißt Nirgendwo, und so scheint mir ihr Bestreben tragisch zu sein.“
„Wenn man es aber nicht so philosophisch abgeklärt betrachtet, dann haben doch die Menschen, die über Ungarn gekommen sind, einen enormen Zuwachs an Freiheit. Sie können nun frei ihren Glauben bekennen, so sie einen Glauben haben, sie können frei ihre politische Partei wählen, frei auch oppositionelle Meinungen vertreten, ihre Schulbildung oder der Zugang zu den Universitäten wird nicht von der Gesinnung abhängig gemacht, sondern von der Begabung und so weiter und so weiter. Auch einen Zuwachs an materiellem Reichtum kann man nicht leugnen, und das können wir, die wir in diesem Genusse stehn, ihnen ja nicht verübeln, wenn sie solches erstreben. Zuletzt, das sage ich ganz persönlich, hat mich am Sozialismus schon immer gestört, daß es nicht das Recht auf Arbeitslosigkeit gab.“
„Ja, ja, die Muße, Grundbedingung des Philosophierens bei dir, Grundbedingung des Poetisierens bei mir. Wie sagt doch Hölderlin? Sei mir gegrüßt, Göttin der Muße! Ein Künstler braucht äußere Ruhe, um sich auf seine inneren Stürme konzentrieren zu können. Und das störte mich schon seit langem am sozialistischen Realismus, an der kommunistischen Kunst, daß sie das Äußere zum Prinzip machen wollte, die materielle Wirklichkeit, ja ganz platt die Produktionsverhältnisse. Die ganze Psychologie, die ganze religiöse Kraft der Hoffnung auf das Paradies der Menschlichkeit, die gewaltige Sehnsucht nach dem Land der Liebe, all das zählte nicht zum Kern der Kunst.“
Da trat eine junge Frau an ihren Tisch. Sie war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, sehr schlank, wie eine Nymphe aus einem Gemälde Otto Muellers, die Haut war hellbraun, die Haare braunschwarz, geschnitten wie bei einem Knaben, die Augen braun, wie Kastanien, von einem lebendigen Feuer voll, die Nase schmal und etwas spitz, die Lippen fein und sanft lächelnd.
„Ich hörte eurem Gespräch eine Zeit lang zu, das läßt sich in diesem kleinen Café kaum vermeiden, und ich gestehe, ich hörte mit Interesse zu. Ihr spracht über den deutschen Osten, über den Sozialismus, und genau daher komme ich. Vor zwei Wochen bin ich über Ungarn und Österreich hierher gekommen.“
„Setz dich doch zu uns“, sagte Andreas freundlich. „Wie heißt du, und woher kommst du genau?“
„Ich heiße Britta und komme aus Jena.“
„O die Stadt der Romantik!“ seufzte Piet.
„Und wo wohnst du nun, Britta?“ fragte Andreas interessiert.
„Ich wohne in einem Block sozialen Wohnungsbaues, finanzierbar mit freundlicher Unterstützung der Bundesrepublik“, sagte sie lächelnd. „Ich habe eine Dreizimmerwohnung.“
„Eine große Wohnung für eine alleinstehende Frau“, sagte Andreas absichtlich. Sie sah ihn schweigend an. Er sah sie mit seinen großen Augen lange an, versenkte sich förmlich in ihr Anschaun, in ihre Erscheinung und sagte dann plötzlich, unvermittelt, wie einer, der am Tage vor seiner Hinrichtung alles aufklären will, was zu seiner Verurteilung geführt hat, eilig und fast verzweifelt: „Wenn ich dir das sagen darf, dann erscheinst du mir als eine vollkommene Schönheit, wie aus einem expressionistischen Gemälde, wie der Herbst selbst mit seiner dunklen, schwermütigen Schönheit, so sanft wie ein fallendes Blatt in Braun und Gold, so vertraut mir wie ein Feuer im Kamin, wenn es draußen stürmt.“
Sie sah ihn sehr erstaunt an. Damit hat sie nun wirklich nicht gerechnet, sie war nur davon ausgegangen, daß man an ihrem politischen Schicksal Anteil nahm, Interesse an einem Gespräch über den Sozialismus fand, aber daß nun ihre Person und Erscheinung im Mittelpunkt eines derart leidenschaftlichen Interesses stand, das machte sie sprachlos, zumindest für einen längeren Augenblick, in dem sie alle drei schwiegen, eine unsichere Situation. Dann aber sagte sie: „Nun, das wird meinen Mann freuen, zu hören, wie viel Wohlgefallen ich im Westen schon erregt habe. Dafür dank ich schön in seinem Namen. Ich darf aber auch gestehen, daß mir deine Erklärung selbst nicht wenig schmeichelte. Ich könnte nun natürlich antworten mit einem Gedicht über deine großen braunen Augen, die einen anschaun wie ein Kind oder ein heiliger Narr, aber das würde sich wohl für eine Verheiratete nicht gehören, nicht wahr? Laß mich lieber an deinem Geist teilhaben; ich bin begierig zu hören, wie die Philosophen im Westen den Niedergang des Sozialismus und die deutsche Wende beurteilen.“
„Ich meine, nun wird es Geistesfreiheit auf dem Gebiet der Literatur geben“, warf Piet ein.
„Oh, wir haben schon lange schöne Gedichte und Romane gekannt. Ein Gedicht besonders ist mir aufs Herz gesunken, das Bachmann-Gedicht ‘Erklär mir, Liebe...’ Und mein Mann, Arthur, kam sogar an einen Band Nietzsche; das war allerdings schwierig, wenn die Sozialisten auch den unbedingten Willen zur Macht hatten, aber man sah Nietzsche als verstrickt in die Ideologie des Faschismus an und lehnte ihn darum ab.“
„Nur Narr, nur Dichter“, zitierte Piet; und das war alles, was er von Nietzsche kannte, aber es war ja auch ein treffendes Zitat, soweit es ihn selbst betraf.
„Darf ich dich auf ein Glas Rotwein einladen? Wir könnten zu mir gehen, über Lyrik sprechen, sozusagen vom Osten und vom Westen her die Lyrik interpretieren, ich habe da einige Gedichtbände zuhause“, schlug Andreas todesmutig und versucherisch vor. Und, obwohl er es selbst wohl nicht erwartet hatte, willigte Britta ein, und so gingen die Beiden fort. Piet hatte es Andreas wohl aus den Augen lesen können, der ihn bettelnd ansah, er möge doch bitte bloß nicht mitkommen.
Piet nahm sich ein Buch aus seiner Tasche, bestellte sich ein Glas Rotwein und begann in der Philosophie der Utopie zu lesen. Er las sehr interessiert in den Schilderungen der Kindheit und ihrer utopischen Strömung. Kannte er es doch selbst auch, daß er an seinem Fenster des Kinderzimmers saß und hinausblickte, und es war Abenddämmerung, und der Garten verschwamm im Blaugrün, und der sich anschließende Park ward geheimnisvoller und geheimnisvoller, und das kleine Häuschen der katholischen Jugend, ein Gemeinschaftspavillon aus alten Zeiten, war schon längst von den Brombeerranken überwuchert und träumte verwunschen von einem Märchenprinzen, der die in ihm schlafende Jungfrau mit einem Kuß zum neuen Leben erweckte; und dann begann das unschuldige Leben einer Märchenidylle, wie er sie sich vorträumte, da er an seine Spielgefährtin Doris dachte, die mit den blonden Locken und den Sommersprossen: da war Hoffnung im Spiel.
Und die Indianerspiele und das Reden von dem Land der weißen Büffelmutter, und das Eldorado, da die Tempel aus Gold waren und die geopferten Jungfrauen unsterblich. Und Peru, das Land des Reichtums, das Land des irdischen Paradieses, da um die Orchideen faustgroße Schmetterlinge flügelten, und Papageien, die die mythischen Ritualgesänge nachplapperten wie einen Rosenkranz. Und der Kontinent Atlantis, bevor er in der Sintflut unterging, da das Recht auf ehernen Tafeln stand und Gerechtigkeit herrschte und Frömmigkeit zu dem alten Gott des Meeres und der Jungfrau der Insel. Und der Staat des Platon, in dem nur leider die Dichter zu schweigen hatten, denn Kunst war eitel und hielt sich am schönen Schein als Lüge fest und strebte nicht nach der reinen Idee der Wahrheit. Und der Sonnenstaat mit seinem guten König an der Spitze der Ständepyramide, da alle Stände in gesellschaftlicher Harmonie lebten. Und Utopia, das Reich des Thomas Morus, da selbst die Sklaven Fesseln aus Gold trugen, so wenig ward das eitle Metall daselbst geschätzt, sondern höhere Werte galten. Und Jerusalem, in dem die Kreuzritter das Reich Gottes erbauen wollten, mit der Grabeskirche als Mittelpunkt. Und das Reich der Wiedertäufer, die das tausendjährige Reich mit Polygamie als höchstem Ausdruck menschlicher Freudsinnigkeit errichten wollten. Und die Klostergärten, in denen die stillen Brüder in Gedenken an ihre himmlische Geliebte, die rosenhafte Jungfrau wandelten und Frieden lebten. Und die Gemeinschaften böhmischer Brüder und die Herrnhuter, die das Leben der Gerechtigkeit und Gottwohlgefälligkeit auf Erden schon leben wollten in einer kommunistischen Gemeinschaft, da ein Fürst den Mägden die Füße wusch. Und die Sehnsucht der Revolutionäre, die einen gesellschaftlichen Zustand errichten wollten, in dem den Arbeitern die Trauben gewaschen in den Mund wüchsen. Alles von Hoffnung beflügelt, von Sehnsucht nach der Utopie, von leidenschaftlichem Verlangen nach dem Noch-nicht.
Und doch, so spürte es Piet den schönen Schilderungen ab, stand am Ende jeder Utopie der Tod: Eden war versperrt, Atlantis war versunken, Griechenland mit seiner Theokratie des Schönen war nicht mehr, die Klöster wurden von der Pest entleert, die Kreuzritter wurden von den Sarazenen ermordet, die Wiedertäufer von katholischen und protestantischen Armeen entmachtet, die böhmischen Brüder wurden eine vertrocknete Kirche, die Revolution ward von ihren Kindern gefressen. Und selbst, wenn eine Utopie stark und lebensfähig genug gewesen wäre, bestehen zu bleiben, auf den Menschen, der in Utopia lebte, wartete der Tod als unerbittliche, unüberwindliche letzte Grenze. Und die Utopie der Utopien, das himmlische Jerusalem, das war ja der Tod. Nirwana war der Tod. Die Ewigen Jagdgründe war der Tod. Elysium war der Tod. Alle Menschen waren gefangen in der Macht des Todes, dieses Feindes aller menschenfreundlichen Utopie.
Dennoch war der philosophische Gedanke, die Utopie in allem Denken und Träumen zu suchen, und in der Hoffnung zu leben, das Noch-nicht käme noch, es sei eben kein Nie, sondern ein kommendes Noch-nicht, das machte Piet, an der dunklen Grenze des Todes träumerisch vorbeigedacht, doch Hoffnung auf Glück, Hoffnung auf Frieden und ein Leben in schöner, stiller Freude. Die Philosophie war selbst eine Hoffnung, und ihre Grenze übersah Piet Buß vorerst, denn ihre Sehnsucht war zu schön und ihm zu sehr verwandt.
Und in den folgenden Wochen, Ende des Herbstes, beschäftigte er sich viel mit der Literatur und versank ganz in den Büchern. Von der Zeitgeschichte, von den ihn umgebenden Menschen bekam er gar nichts mehr mit, er lebte in den Büchern vergangener Zeiten, und immer älter wurden seine Bücher. Besonders liebte er die Poesie des neunzehnten Jahrhunderts, er las zum ersten Mal die Gedichte an Suleika aus Goethes Westöstlichem Diwan - und liebte Marion dabei. Er las Vergils Erzählung von Äneas und Dido - und liebte Marion dabei. Und schließlich fiel ihm irgendwie Klopstocks Werk in die Hände, und er begann bei jenem Gedicht auf des Meisters geliebte Cidli:
„Denn ach, ich sah dich! trank die Vergessenheit
Der süßen Täuschung mit feurigem
Durste! Cidli, ich sahe
Dich, du Geliebte! dich selbst!
Wie standst du vor mir, Cidli, wie hing mein Herz
An deinem Herzen, Geliebtere,
Als die Liebenden lieben!
O die ich suchet’, und fand!“
Und darin trank er mit feurigem Durste eben jenen Vers von der, die geliebter war, als die Liebenden lieben! Und als er weiter in Klopstocks Werk voranschritt, las er als eine schöne Poesie auch die ersten drei Gesänge des „Messias“, die in jenem Buche mit abgedruckt waren. Ihn bezauberte die Schönheit der Sprache, die bezaubernd liebliche Empfindung, diese Sanftheit der Gestalten, diese Seelenschönheit und Seelenzärtlichkeit. Aber das Wesen des Messias erkannte er nicht. Dennoch mag das Werk unterirdisch in seine Seele geflossen sein und bereitete seinen verblendeten Geist vor.
Auch zu Novalis kehrte er wieder zurück, dessen Ofterdingen er ja schon kannte. Nun las er die „Geistlichen Lieder“, verstand aber ihre christliche Aussage nicht, sah in ihnen nur einen Glauben an das gelobte Land - an eine Utopie, fand darin berückende Verse der Traurigkeit und eine Strophe, die der Dichter an Christus gerichtet hatte, in der aber Piet alles fand, was er Marion zu sagen hatte, und so las er das Geistliche als ein Liebeslied:
„Was wär ich ohne dich gewesen?
Was würd ich ohne dich nicht sein?
Zu Furcht und Ängsten auserlesen,
Ständ ich in weiter Welt allein.
Nichts wüßt ich sicher, was ich liebte,
Die Zukunft wär ein dunkler Schlund;
Und wenn mein Herz sich tief betrübte,
Wem tät ich meine Sorge kund?“
Er machte sich sogar daran, einige dieser Strophen umzudichten in seinem Sinn, als Lieder der Hoffnung, und wo Novalis das himmlische, suchte er das utopische, irdische Paradies. Wer vermag aber zu ermessen, was der Romantiker in Piets Seele bewirkte, welchen Grund er legte? Wie senkte sich folgende Strophe doch in die Seele ein, und wenn sie auch von den folgenden Zeiten übertönt wurde, im stillen wirkte sie weiter und gärte und keimte, bis das Licht von oben auf diesen vom Dichter beackerten Boden fiel und die Blume des Lebens erblühte...
„Da ich so im stillen krankte,
Ewig weint und wegverlangte
Und nur blieb vor Angst und Wahn:
Ward mir plötzlich wie von oben
Weg des Grabes Stein gehoben
Und mein Innres aufgetan.“
Herrlich waren solche Bilder, aber wenn sich nicht die Wahrheit selbst offenbart, dann konnte die Verblendung auch die herrlichsten Verse in einen Irrgarten lügnerischen Glanzes verwandeln, und so erkannte Piet nicht das Erlebnis, welches der Dichter schilderte, so verstand er nicht die ewige Wahrheit darin, so blieb er unerleuchtet und zog die himmlische Poesie zur Erde herab.
Weiter und mächtiger arbeitete der Geist Gottes aber an seiner Seele, als Piet auf die Idee kam, die alte Bibel, dieses literarisch doch sicher interessante Buch hervorzuholen und irgendwo aufzuschlagen. Und da las er im Propheten Hesekiel folgende Verse:
„Und des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, daß diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es. Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, daß ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, daß ich der HERR bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich, und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf, und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden. Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig...“
Immerhin dachte er später noch manchmal über diese seltsame Geschichte nach. Das war ja ein merkwürdiger Mythos, aber von welcher Strömung der Hoffnung durchdrungen hatten Menschen diese Geschichte geschrieben: den Tod zu besiegen! das war ihre Sehnsucht gewesen. Aber daß hier Gottes Geist sich offenbart hatte über die Auferstehung von den Toten, erkannte er nicht. Dennoch: Gottes Wort kehrt niemals ohne Wirkung zurück. Und es hatte ihn der Geist mächtig gezogen, aber aus einem unerforschlichen Ratschluß des Herrn hatte dieser selbst sich noch nicht völlig offenbart, sondern ließ Piet Buß in seiner eigenwilligen Verblendung, die das Himmlische nicht erkannte, und den Himmel auf Erden anderweitig suchte.
In einer der folgenden Nächte hatte Piet einen Traum, da er auf dem Grunde eines Meeres eine Korallenstadt sah, und ein Lächeln schimmerte durch das Meer. Am Tage machte er folgendes Gedicht:
„Ein Mensch erlebte seine letzte Stunde
In jungen Jahren, Blut rann rosenrot
Aus seinem schmalen todesbleichen Munde
Und in derselben Stunde war er tot -
Nein, tot war jener nicht, denn seine Seele
War abgetaucht in einem tiefen Meer
Aus tiefster Nacht - fern schimmerten Juwele,
Und angezogen von dem Glanz ward er
Und kam zum untermeerischen Palast,
Dem ewigen Utopia voll Glast
Und Glanz, das Tor aus rosanen Korallen.
Und mitten saß auf einem Muschelthron
Die schönste Jungfrau, Meermaid Marion.
An ihr fand seine Seele Wohlgefallen.“
Mit diesem Gedicht wollte er Marion besuchen. In dem Augenblick klopfte aber seine Wirtin Beate Hengstendorf an seiner Zimmertür und fragte ihn, ob er nicht, wie er sonst wohl manchmal tat, ihr Baby im Kinderwagen auszuführen Lust habe, sie hätte dringende Geschäfte, und das Kind brauche frische Luft. So schob er denn gerne den Kinderwagen durch den vorweihnachtlichen Abend, dem süßen Baby, das ihn schon liebgewonnen hatte, Volkslieder vorzusingen wie zum Beispiel „Sah ein Knab ein Röslein stehn“ und andere. Schließlich kam er zu dem Haus mit dem Gemälde an der Wand. Er klingelte.
Marion öffnete die Tür. „Ich habe dich schon am Klingeln erkannt, Piet, du klingelst im Walzertakt, so musikalisch kann kein anderer klingeln. Ich bin mißtrauisch beim Klingeln an der Tür, weil ein Dummkopf immer wieder bei mir klingelt und meine Tür belagert, irgendetwas will er von mir, aber das stößt bei mir auf keinerlei Interesse. Komm herein!“ Und damit führte sie ihn in ihr kleines dunkles Zimmer.
Sie saßen bei Kerzenschein auf Kissen, die auf dem Boden lagen, an einem Tischchen, auf den sie Tee gestellt hatte. Das Baby schlief auf seinem Schoß, seliger Friede ruhte auf seinem Angesicht. Marion schaute das Kind lange an. Dann sagte sie: „Ich habe kürzlich das Buch gelesen, von dem du mir einmal so gern erzählst hast, das Tao-te-king von Lao Tse, ein komisches Buch, das meiste unverständlich, zumindest für mich. Was heißt zum Beispiel:
‘Sie sind dauernd und ewig,
Weil sie nicht sich selber leben.
Deshalb können sie ewig leben.’
Aber das Thema des Lebens, auch angesichts des Todes, ist darin doch schön entwickelt. Zum Beispiel gefiel mir die Stelle:
‘Die Welt hat eine Mutter,
Das ist die Mutter der zehntausend Wesen.
Wer seine Mutter fand,
Der hat sich als ihr Kind erkannt.
Hat er sich als ihr Kind gekannt,
Bleibt er stets der Mutter nah,
Im Untergang des Leibes ist er ohne Gefahr.’
Diese Mutter will ich finden, Piet, ich will nicht eher aufhören als bis ich die Mutter der zehntausend Wesen gefunden habe, damit ich im Tode ohne Gefahr bin, denn mich ängstet das Sterben.“
Piet nahm sich das Buch des Chinesen und suchte darin nach seiner Lieblingsstelle, der Ode über die Melancholie, schließlich fand er sie auch (sie war hier in Marions Buch ganz anders übersetzt als in seiner eigenen Ausgabe), und er sagte: „Wie findest du denn diese Stellen:
‘Ach, welche Verwirrung in dieser Welt
Und ohne Ende!
Die Menschen sind strahlend und vergnügt
Wie beim Feiern großer Feste,
Wie beim Besteigen der Frühlingsterrassen.
Ich allein bleibe still und unbewegt
Wie ein Säugling, der noch nicht lächelt,
Ungebunden, unabhängig.’
Siehst du, wie dies Baby hier, ganz still und ruhig, so zu bleiben mitten im verwirrenden Trubel der Welt, das ist mein Verlangen.“
Sie sprachen noch weiter über Lao Tse, aber Piet war nicht mehr ganz bei der Sache, er fühlte, wie ungenügend seine Worte waren, ein Gespräch zu führen mit Marion, wie es seiner Seelenstimmung entsprochen hätte. Die Ruhe des Säuglings fehlte ihm eben ganz. Er wurde von Minute zu Minute unruhiger, irgendetwas ließ ein Gefühl von... Panik in ihm aufkommen. Und erst, als Marion das Thema wechselte, erkannte er den Grund dieses dunklen Gefühls:
„Du, ich werde nächste Woche fortziehen, ich werde Norden und Ostfriesland verlassen. Ich will eine Kunstausbildung machen, das kann ich in Oldenburg. Wir werden uns heute wohl zum letzten Mal gesehen haben.“
Piet erschrak. „Wie? Aber wir können doch trotzdem in Kontakt bleiben! Ich werde vielleicht von Wohnung zu Wohnung ziehen, aber ich gebe dir die Adresse meiner Mutter, darüber kannst du mich immer erreichen. Wir müssen in Verbindung bleiben!“ Er vermochte nicht, die ganze Dringlichkeit, die sich seiner Seele darstellte, ihr auszusagen, denn er wußte, daß sie zu leidenschaftliche Liebeserklärungen an sie immer zurückwies. Darum warb er nur vorsichtig, so vorsichtig, wie es ihm gelang, um weitere Verbindung. Aber sie verstand ihn auch so: er warb um sie, er wollte sie zur Freundin, zur Geliebten, aber sie wollte frei sein. Dennoch nahm sie den Zettel, auf den er die Adresse seiner Mutter geschrieben hatte, an und legte ihn in ihre Brieftasche. Schließlich bat sie ihn zu gehen. Er aber besann sich, daß er ihr sein Sonett noch geben mußte. Sie nahm es, legte es auf den Tisch und sagte: „Ich werde es gleich lesen. Aber nun mußt du gehen. May be, wir sehen uns einmal wieder. Adieu, Piet!“
Traurig, sehr traurig ging er nach Hause. Weihnachten war kein Trost für ihn, das Fest der Freude, das er mit Beate und ihrem süßen Baby verbrachte. Sie schenkte ihm die Neuen Gedichte von Rilke, und er fand als erstes das Gedicht vom Auszug des Verlorenen Sohnes:
„Dies alles auf sich nehmen und vergebens
Vielleicht Gehaltnes fallen lassen, um
Allein zu sterben, wissend nicht warum -
Ist das der Eingang eines neuen Lebens?“
VIERTES KAPITEL
Ein halbes Jahr war vergangen, in dem Piet Buß manchen Spaziergang mit Andreas Schwalbenburg unternommen hatte und das romantische Bild Marion Meisters nach und nach, mehr und mehr verblasste. Dennoch war in jener Zeit bei ihm der Wunsch entstanden, den Wohnort zu wechseln, er hatte sich für Oldenburg entschieden, um dort an der Universität tiefer in das Studium der Literatur einsteigen zu können. Mit der Hilfe seines Freundes Andreas war er umgezogen, hatte sich von diesem verabschiedet und begonnen, sich an der Universität umzusehen.
Dort war er zuerst und besonders angetan von den vielen schönen, jungen Studentinnen, „melische Nymphen“, wie er sie nannte. Am meisten verzaubert war er von drei Freundinnen des ersten Semesters der Germanistik. Er verliebte sich in alle drei gleichzeitig, dementsprechend ernsthaft war auch jenes Gefühl. Er versuchte mit jeder von ihnen Kontakt aufzunehmen, was aber gründlich mißland.
Er lernte die Cafés und Kneipen Oldenburgs kennen, besah sich den Schloßpark und das Schloß, die neoklassizistische Architektur hatte es ihm angetan, es war ihm, als sei er in das platonische Athen versetzt worden. Diese Stimmung ward noch durch seine Literaturstudien gefördert. Er hatte sowohl von der Seite Hölderlins her, als auch von der Seite Vergils her das antike Griechentum entdeckt. Er las nun die „goldene Leyer Apollons“, die Pythischen Oden des Pindar in der orakelhaften Nachdichtung Hölderlins. Er las Geschichtsbücher über die griechische Antike, lernte die olympischen Götter und die Legionen Halbgötter und -göttinnen kennen (nicht persönlich versteht sich, sondern sozusagen nur literarisch).
Antigone war ihm ja bekannt, nun las er auch die anderen Tragödien des Sophokles, aber auch Euripides und Äschylus lernte er in der kommenden Zeit kennen. Am meisten aber berührte ihn Sappho, deren Fragmente so ausgesprochen reizend waren. Er übte sich, das sapphische, aber auch das alkäische Versmaß nachzubilden. Seine ersten unbeholfenen Verse galten einer Nymphe, die er sich aus den schönsten Erscheinungen der Studentenschaft zusammendichtete, also eine Art Pandora oder Pancharis.
In dem matriarchal-feministischen Roman eines deutschen Dichters erfuhr er, daß es einen Poeten der Muse gegeben hätte, der als solcher wohl einzigartig genannt zu werden verdiente, das war der englische Poet Ben Jonson. Also beschäftigte er sich mit Ben Jonson, dessen Oden er auf englisch las und faszinierend fand.
Das alles geschah innerhalb eines Monats, in dem er kaum schlief, sich Oldenburg und die Universität eroberte und die heidnische Literatur in ihren Grundzügen gleichermaßen. Er wohnte in einem alten Haus im Osternburger Stadtteil, in einer Wohngemeinschaft mit zwei verwahrlosten Müßiggängern, beide künstlerisch gesonnen, der eine als Maler sogar recht begabt, wenn auch Piet zu dessen Bilderwelt keinen Zugang gewann. Aber das spielt auch keine Rolle. Entscheidend ist, wer in das vierte, freistehende Zimmer einzog.
Piet kam eines Abends in seine Wohnung, da stand in der Küche ein bildschönes Mädchen („Eine Aphrodite!“ dachte Piet), und es stellte sich heraus, daß sie in das leere Zimmer einziehen würde. Ihr Name war Madelaine. Sie war klein, hatte aber lange schwarze wallende Haare, ein weißes weichgeformtes Gesicht, helle blaue Augen, feucht schimmernd, einen breiten, sinnlichen Mund und die schönsten, ebenmäßigsten weißen Zähne, die sie bei ihrem fröhlichen Lachen zeigte. Sie war aus Paris, wie sie erzählte, nach Oldenburg gekommen. Ihre Mutter sei Pariserin, ihr Vater Norddeutscher polnischer Abstammung, nun, sie habe sich entschieden, in Oldenburg zu studieren, und zwar war ihr Fach die Slawistik.
Am nächsten Morgen war Piet schon verliebt. Er hatte, bezaubernd von der reifen sinnlichen Schönheit Madelaines, in der durchwachten Nacht nur immer ihren Namen geflüstert: Madelaine, Madelaine, und bei jeder Namensnennung der Schönen wurde der Name zauberhafter und die Schöne schöner; und am Morgen, da sie in die Gemeinschaftsküche trat, hielt sie diesem gesteigerten Bilde stand und war von unaussprechlicher Schönheit. Sie trug ein rotes Kleidchen, die Beine und die Arme waren bloß, die Figur war „aphrodisisch“, wie Piet es im Geiste bezeichnete. Sie machte sich gerade das Frühstück, Sesambrot mit Quark und Honig bestrichen, was Piet an das Land von Milch und Honig erinnerte, deren Göttin sie zu sein schien, eine Paradiesnymphe, prall von Leben! Und sie lachte ihn an.
Am Nachmittag kam er schon mit einer Rose in der Hand und ein wenig betrunken in die Wohnung zurück. Er klopfte an ihre Zimmertür und ward hereingebeten. Da reichte er ihr lässig die Rose, sie aber wunderte sich nicht wenig, schien sich jedoch zu freuen. Sie kamen ins Gespräch und stellten fest, daß sie beide eine kommunistische Vergangenheit hatten.
Im Laufe einer Woche kamen sie sich näher und näher, und nun schien Madelaine mehr und mehr Gefallen an Piet zu finden, ja sich in den mageren Jüngling zu verlieben. Jedenfalls kam es zum ersten Kuß, und bei diesem sollte es nicht bleiben. In einem Taumel der Begeisterung dichtete Piet eine sapphische „Ode an Aphrodite“, in der er in der poetischen Diktion der Klassik der Göttin der Liebe dankte für ihr Ebenbild, die von ihr gesandte Frau, die so schön war, daß sie der Göttin selbst den Preis der Schönheit streitig mache. Diese Ode gab er Madelaine, und sie war dementsprechend geschmeichelt.
Sie gingen schon Hand in Hand durch Oldenburg und sprachen über ihr Leben, eine wechselseitige Selbstoffenbarung fand statt, und Piet erzählte von allen Menschen, die in seinem bisherigen Leben ihm wichtig geworden waren (nur von Marion erzählte er nichts, denn die Erinnerung war noch zu frisch und hätte Grund gegeben zur Eifersucht). Madelaine erzählte von den Bekanntschaften, die sie in einem abenteuer- und reiselustigen jungen Leben gemacht hatte, und es atmete alles Freude an sinnlichem Lebensgenuß.
Zu jener Zeit begann sie ihr Studium der Slawistik, und sie absolvierte einen Kurs in russischer Landeskunde mit dem Thema der Entstalinisierung, der sogenannten Tauwetterperiode. Sie forschte in den Büchern über die ungeheuren Verbrechen des bösartigen Diktators, der sich das Väterchen Rußlands nannte und doch nur Rußlands Verderber war, der Mörder der Mönche, er, der selbst ein entlaufener Klosterschüler gewesen war, ein Terrorist in höchsten Staatsehren, einer, der sich für unsterblich hielt und doch dem Tode anheim gefallen war, er, der morden ließ die Menschen, die an seiner Unsterblichkeit zweifelten, ein Handlanger des Todes, der die Huldigung von Kindern empfing und die Mütter in die sibirischen Lager schickte, wo sie bei Kartoffelschalensuppe Schwerstarbeit zu leisten hatten, der Dämon Rußlands, der Christus in den Erniedrigten und Beleidigten leiden ließ, der die Märtyrer kreuzigte, der seine Gesinnungsgenossen selbst, seine Mitmörder, mordete, der Fluch und die Geißel Rußlands, Marionette an Satans Gängelband, der große Verderber, der seinem Bruder im Geiste, dem satanischen Dämon Deutschlands in nichts nachstand an Grausamkeit der Gesinnung und Verworfenheit der Seele.
Mitten im schönsten Hochsommer beschlossen die Beiden, nach Südfrankreich zu reisen. Piet, der kein Französisch sprach, vertraute sich der sprachbegabten Madelaine zu dieser Reise an. Sie packten kleine Täschchen, nahmen zwei Schlafsäcke mit, und trampten eines Morgens mit wenig Geld in der Tasche in den Süden. Sie hatte ein Buch von Solschenizyn bei sich, daß sie studieren wollte, Piet trug die Hymnen Hölderlins und die Oden Ben Jonsons mit sich.
Sie wurden bei Darmstadt von einem Mann mitgenommen, der in einem roten Mercedes nach Monacco fahren wollte, im Roulette sein Glück zu versuchen. Mit einem anderen Wagen, gefahren von einem französischen Libanesen, kamen sie schließlich nach Montpellier, und reisten dann weiter an die Mittelmeerküste.
Dort wanderten sie an den Strand, einen schönen weißen Sandstrand, und schauten auf das Meer, das mächtig rauschte und wogte. Es war ein heißer Hochsommertag, und sie entkleideten sich und gingen im Mittelmeer baden. Piet war berauscht von der Schönheit Madelaines; nie bisher hatte er eine Frau gesehen, die so schön war! Er fühlte sich in die antike Welt versetzt, da Nymphen aus den Wassern auftauchten in einer Schönheit, die so vollkommen war, daß die armen Griechen sie für göttlich hielten. Er schwamm, von den Wogen getragen, an Land zurück und legte sich nahe einem Felsen in den Sand und beobachtete Madelaine, wie sie sich im Wellenspiel ergötzte.
Die Luft flirrte golden, weiße Wölkchen schwebten über den azurblauen, strahlenden Himmel. Berauscht von dem Fest der Sinne, begann Piet zu träumen, oder es überkam ihn eine Halluzination, oder der Fürst des Kosmos gaukelte ihm eine antike Fata Morgana vor; wir können das kaum unterscheiden; jedenfalls hatte Piet die Vision, daß die weiße, schöne Göttin Aphrodite über dem Meere schwebte, den halbgöttlichen Jüngling, den schönen Adonis in den Armen haltend, beide auf weichen Kissen gelagert, und sie lächelten hernieder auf die Sterblinge, ihre Schützlinge (wie sich Piet es deutete) und segneten die berauschende Liebeslust, die die beiden miteinander verband.
Madelaine kam an Land geschwommen, und Piet erzählte ihr von dem Eindruck. Aber Madelaine hielt es nicht mit den Göttern, sie war nicht zuhause in der Mythenwelt wie Piet, der im Kosmos der antiken Literatur lustwandelte. Sie hielt sich an die Erde, an der sie ihre Lust und oft genug auch ihr Weh hatte. Denn manchmal überkam sie plötzlich solch eine weichherzige Traurigkeit, daß die Tränen aus ihren umschatteten Augen strömten wie Kaskadenfall. Das rührte Piet dann immer mächtig am Herzen, und es überschwamm ihn eine Woge des Mitleids und des herzlichen Erbarmens mit der Schönen, die wenige Augenblicke später wieder kindlich lachen konnte.
Sie gingen in den Hafenort wieder zurück, setzte sich in das Café Claire de la lune, wo Madelaine sich in der abendlichen Sommertemperatur in die poetischen Eiswelten des russischen Schriftstellers begab; Piet aber huldigte der Antike, indem er die Oden Ben Jonsons las. Ein Lied dieses Dichters, das ihm besonders gefiel, versuchte er auch nachzudichten:
„O daß dein Glück so schnell vergeht!
Daß ein Süßgenuß
Wie ein Kuß
Nicht auf immerdar besteht!
So schmelzend, köstlich, sanft und süß,
Der Tau auf Rosen - dies
Im Morgenschein -
Ist nicht so fein.
Doch eher als an Mangel zu ersticken,
Sollt sowas mich nochmal beglücken!
Mein Wunsch wär und Genuß,
Zu sterben durch den Kuß!“
Er zeigte Madelaine das Lied des Amorphus, sie lachte und belohnte den Dichter mit dem Lorbeerkranz eines süßen Kusses, der ihn durstiger machte, als er vorher gewesen war, durstig nach dem Wein der Liebe.
Nach einem Tage am Strand fuhren sie per Anhalter nach Avignon, das Piet aus einer Erzählung Petrarcas kannte, der Avignon mit dem Babylon verglichen hatte, das als Sündenpfuhl in der Offenbarung Johannis beschrieben war, ein Babylon, in dem die Kirche gefangen gewesen war.
Was Piet damals noch nicht wußte, war, daß die Kirche eine Legende überlieferte von jener Küste, an der er die Aphrodite hatte lächeln sehen, eine Legende von einer ganz anderen Schönen, nämlich von der Sünderin Maria Magdalena und ihren zwei Freundinnen. Maria Magdalena war eine Sünderin gewesen, aus der Jesus, wie es heißt im Evangelium, sieben Dämonen ausgetrieben hatte. Da das Haus ihrer Seele gekehrt und gereinigt war, suchten die Dämonen mit einer Schar weiterer unreiner Geister, das Haus sich wieder zu erobern und es ärger zu treiben als vorher. Aber Jesus hatte Maria Magdalena schon den Heiligen Geist gegeben, und so war das Haus bewohnt mit dem Geist der Liebe, und da sie voll von Liebe war, floß sie davon über, so daß der Herr von ihr bezeugen konnte, daß sie viel geliebt habe. Und zwar hatte sie sehr geliebt, weil ihr viel vergeben worden war. Sie hatte nämlich ihr Leben vor der Begegnung mit dem Sündelosen in Unreinheit und wilden Leidenschaften verbracht, hatte ein unkeusches, unzüchtiges Leben in ungezügelter Wollust gelebt und die Gebote Gesetz Gottes nicht geachtet. Aber die Gnade hatte sich ihrer erbarmt, sich ihr in Gestalt des Menschensohnes offenbart und sie überführt ihrer Sünde, nicht um sie zu verdammen, sondern sie zu retten durch das Vertrauen, daß sie der Gnade entgegenbrachte, nämlich dem liebreichen Jesus Christus.
Als der Herr am Kreuze zur Sühnung ihrer und der Welt Sünden gestorben war, hatte sie eine unsägliche Trauer in den umschatteten Augen und Wasser strömten aus ihren Augengrotten wie Kaskaden. Aber da sie ging, den toten Leib des Gekreuzigten einzubalsamieren, begegnete ihr der auferstandene Sohn Gottes und sandte sie als Apostelin der Apostel zu den Trauernden, ihnen die Botschaft von der Auferstehung Christi zu verkündigen. Erfüllt von dieser Sendung, an der sie unbeirrt auch da festhielt, wo man ihr keinen Glauben schenkte, fuhr sie nach der Herabkunft des Heiligen Geistes am Pfingsttage mit Maria Kleophä und Maria Jakobä in einem Segelboote über das Mittelmeer, den Galliern das Evangelium von der Erlösung zu bringen.
Sie landete an eben jener Küste, an der Piet mit Madelaine sich nun, Gottes nicht eingedenk, vergnügten, und kündete in der Provence mit Leidenschaft der erlösten Liebe die Freudenbotschaft vom Retter. Auch Martha aus Bethanien war in die Provence gekommen, mit ihr predigte der Jesusjünger Fronto die liebliche Botschaft. Martha starb nach einigen Jahren segensreichen Wirkens nahe dem Wald von Tarrascon. Maria Magdalena aber, als sie ihr nahendes Ende ahnte, fuhr zurück in das judäische Land und begab sich in eine Felsenhöhle, wie die Legende erzählt, um dort fastend und betend ihr Abscheiden zu erwarten.
Sie wußte, daß sie nicht mehr zu sterben brauchte, denn ihr Tod war von Jesus Christus am Kreuz von Golgatha gestorben worden, aber sie sehnte sich nach der Stunde, da sie ihr Zelt verlassen würde, um in die ewige Wohnung zu gehen, die der Herr in der kommenden Welt für sie vorbereitet hatte. Sie sehnte sich weniger nach dem Entkleidetwerden, als vielmehr nach dem Überkleidetwerden, denn sie hoffte und war sich gewiß, daß sie in der Auferstehung des Fleisches einen unverwelklichen Leib bekommen würde von dem Gott der Ewigkeit, einen Leib, der nicht mehr zur Sünde verleiten könnte, denn die Sünde würde nicht mehr sein. In dieser Hoffnung und wachen Bewußtseins betend übergab Maria Magdalena ihren Geist dem Vater, dessen Sohn die Gabe des ewigen Lebens war.
Spätere Jahre fanden diese Legende zum Trost für alle, die in sündig-wollüstigem Leben und im Kontakte mit unreinen Geistern gottlos gelebt hatten; denn es war eine Hoffnung vorhanden, daß war die Reinigung durch den Gekreuzigten und die selige Hoffnung auf den unverwelklich schönen Leib des ewigen Paradieses, eines Gefäßes der reinen, himmlischen, gottwohlgefälligen Wollust.
Von Avignon reisten sie weiter, mit einem geschwätzigen angetrunkenen Alten, in ein Tal an der Ardeche. Sie kamen am Abend auf einem Campingplatz an und mieteten sich für wenig Geld einen kleinen Wohnwagen. Die Landschaft war so überaus herrlich, Piet war überwältigt, er meinte, dem klaren, funkelnden Sternenhimmel dankbar sein zu müssen für diese reiche irdische Wonne, daß er fast ein wenig fromm zum Firmament hinaufsah: es mußte doch der Segen von oben kommen!
Am Morgen nahmen sie im schönsten Sonnenschein vor dem Wohnwagen ihr Frühstück ein, belebenden Café au lait, Weißbrot mit Honig. Dann gingen sie zur Ardeche hinunter. Sie gingen einen Weg an einer bewachsenen Steinmauer entlang, Weinstöcke standen am Wege, Vögel flogen durch die Luft, und Piet fühlte sie immer noch versetzt nach Arkadien: Hier hätten einst die Prozessionen des Weingottes stattgefunden mit den schönsten Bacchantinnen; und dieser Gedanke stimmte ihn so rauschhaft euphorisch, daß er Madelaine an beiden Händen ergriff und mit ihr einen Reigentanz tanzte, laut lachend. Dann kühlten sie sich im klaren Wasser der Ardeche ab. Sie schwammen an der Stelle, wo sich das Wasser wie in einem Teich sammelte, vor einer hohen kalkweißen Felsenwand, das Wasser war grün, die Leiber weiß, der Himmel blau, die Vögel bunt, die Sonne golden; alles wie ein provencalisches Gemälde, prächtigste Schönheit der Erde!
Am Nachmittag gingen sie durch die Weinberge spazieren, bis sie schließlich zur Grotte Magdalenien kamen. Eine dunkle Bekanntschaft aus Kindheitstagen mit der Person der heiligen Sünderin dämmerte in seinem Geiste auf, aber sie ward verdunkelt von den Gedanken an antike Festlichkeiten.
Als der Abend kam, setzte sich Piet neben Madelaine vor den Wohnwagen, neben die Weinstöcke, die da in Reihen standen, und genoß ein Glas tiefdunklen Rotwein. Madelaine hatte ein weißes Röckchen an und ein rosanes, feines Hemdchen, was sehr gut passte zu ihren weißen Wangen, die oft von einem plötzlichen Rosa überflammt wurden. Ihre Augen funkelten und schimmerten. Er erzählte ihr von Dionysos und seinen Feiern. Bald wurde sie müde und zog sich zum Schlafen zurück. Er griff zum Jonson-Buch und las in der Dämmerung die harmonischen Lieder und Oden. Manches Glas Wein trank er, und immer schöner sangen die Zikaden, die Stille der Nacht durchzirpend. Ein Vers versetzte ihn, da sein Geist durch die Vergangenheit schweifte, plötzlich in Unruhe:
„Ich werde dich nicht ruhen lassen,
Bevor nicht dein Idol ward glasklar:
Rasch, sag, wer deine Liebe sein soll!“
Er dachte dabei an Marion, und das romantische Feuer des vergangenen Jahres tauchte wieder in ihm auf, gleichzeitig aber beschämte ihn das Gefühl, denn er fühlte doch, daß Madelaine ihn hingebungsvoll liebte, und wenn er an sie dachte, wie ergriff ihn ein zärtliches Mitgefühl für ihre weiche, kindliche Seele. In dieser Nacht war die Sinnenlust weit fort von ihm, und er ward nur erfüllt von der traurigen Seele eines kleinen Kindes, das Madelaine hieß, von einer treuen Seele, die ihm vertraute und die er so unheimlich liebhatte. Mit gemischten Gefühlen begab er sich in den Wohnwagen, sah Madelaine so friedlich schlummern, daß ihn ein Gefühl der Liebe ergriff, sie vorsichtig auf die weiche Wange küssend, legte er sich und schlief ein.
Am folgenden Abend, als es eben zu dämmern begann, spazierten Piet und Madelaine an der Ardeche antlang, über die Kieselsteine. Irgendwo in der Ferne brannte ein Feuer, und Piet legte diesem Feuer eine mythische Bedeutung zu: es mußten am Ende der Nacht die schönsten Bacchustänze der Mänaden um das Feuer des Geistes tanzen. Sie wanderten schweigend, und so konnte Piet seinen Träumen nachhängen. Er meinte, die Götter lebten noch, und sie lebten in diesem Tal, sie hatten hier ihr Hellas oder Arkadien, und sie suchten nur die Verehrer, die sich nach dem Alten sehnten, nach dem schönen Zustand, da Menschen von Nymphen umgeben waren, da die Götter sich zu den Menschen neigten und unter ihnen wandelten, da die Göttin der Liebe sich sterbliche Menschen wählte zu Geliebten, da sie dem Prinzen Paris, weil er ihr den Apfel des Lobes zuerkannte, die schönste Frau Griechenlands gegeben, die schöne Helena (und diese ging doch nun an seiner Seite)!
Bald setzten sie sich an das Flußufer und lauschten dem leisen Rauschen des Wassers. Es war Nacht geworden, und die Milchstraße floß weiß und schimmernd eben über dem felsigen Hügel auf der anderen Seite des Flusses. Dieser Felsenhügel war beglänzt von dem diamantenen Tau der Sterne, dieser Schar von vergöttlichten Heroen und Mädchen, die der allmächtige Zeus an das Firmament versetzt hatte, wie der Mythos erzählte. O lebendige Sterne, gießet euren Segen auf die Erde aus! dachte Piet sich seinen heidnischen Hymnus.
Tatsächlich schienen die Halbgötter in weißlichem Glanz auf den Berg zu treten und dort zu lustwandeln. Er sah, mit seinen empfindlichen Nerven, einen lichtgrünen Schleier wehen über den Berg, eine Bewegung von göttlicher Kraft, hellseherisch sah er die Illuminationen der Finsternis, das Gaukelspiel des Kosmokratoren, der sich als Engel des Lichts verstellte und erschien als die Göttin des Berges.
Und da Piet immer tiefer hineinstarrte in diese dämonischen Erscheinungen der unsichtbaren Welt, sie bestaunte und erregt von der Auswahl seiner Augen die Götter begrüßte, ward sein verblendeter Geist weiter getäuscht, und dieser ließ vor ihm die Nymphe dieses Tales, die sanfte Echo erscheinen. Piet sah eine Hütte in der Geisterwelt erscheinen am Hange des Hügels, und die Tür der Hütte öffnete sich, da sah er im Innern der Hütte jene Nymphe, die in weißem wallendem Gewand an einem Tische saß. Ihre langen Locken waren gebunden von einem glänzenden Stirnband. Sie war ganz aus schimmerndem Lichte. Sie saß am Tisch und legte sich Karten, mit denen der Hellseher auch schon vertraut geworden war.
Und so sprach er sie in seinem verblendeten Geiste an: „Nymphe des Tales, selige Echo, wenn ich dich so heißen darf! Welche Weisheit hast du mir zu künden?“
Und sie trat heraus aus ihrer Hütte, stand am Hange des Hügels und sah zu ihm herüber. Ihr Gesicht war von zauberhafter Schönheit, die Augen schwarzes Glänzens voll. Sie bezauberte ihn mit ihrer Erscheinung, da hörte er, verliebt in das Geistwesen, ihr leises, sanftes Flüstern: „Ich war ein Mensch und lebte in diesem Tal. Eines frühen Todes starb ich und hatte noch manches Geschäft auf der Erde zu erledigen, ungesühnte Schuld, die ich sühnen wollte, hielt mich gebannt an dieses Tal. Durch die Gnade der Götter durfte ich, meine Schuld zu sühnen, als Abgeschiedene in diesem Tale leben und suchenden Sterblingen begegnen, ihre Führerin im Weltall zu werden.“
„Du sprichst“, sagte Piet zur Dämonin, „von den Göttern. Heute erst sprach ich mit Madelaine, die du hier neben mir siehst, über die Götter. Sie meinte, die Götter existierten nur in meiner Einbildung. Sie glaubt nicht an die Götter. Was ist die Wahrheit über die Götter?“
Und die weiße Dämonin gab zur Antwort: „Die Götter sind in dir, in dir...“ und wie ein Echo verhallte ihr Wort. Sie begab sich wieder in die Hütte, die Hütte aus Licht verdämmerte und verschwand in der Nacht. Nun war er in den Irrgarten geraten, in dem er sich immer tiefer verwirrte, dessen Gänge alle auf die Mitte zuführten, wo das Ungeheuer lauerte, und aus dem es nur einen einzigen Ausweg gibt: die Führung des Heiligen Geistes! Aber immer tiefer ziehen die verlockenden dämonischen Schönheiten in den Zaubergarten, bis man von der verbotenen giftigen Blume des Bösen nascht und Satan anbetet. Davor bewahre dich Gott der Herr, du irrender Geist!
Er war so bezaubert von dieser dämonischen Illumination, daß er eine Hymne über die Nymphe Echo schrieb, eine Hymne im Stile Hölderlins, dessen Hymne „Patmos“ er zu jener Zeit las, deren Sehnen und Streben nach der göttlichen Wahrheit ihm verborgen blieb; denn wie konnte er das Geheimnis des Gottmenschen verstehen?
„...und es sahe der achtsame Mann
Das Angesicht des Gottes genau,
Da, beim Geheimnisse des Weinstocks, sie
Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmahls,
Und in der großen Seele, ruhigahnend, den Tod
Aussprach der Herr und die letzte Liebe...“
Das blieb Piet verborgen, und dennoch war es dem Geiste ein geringes, einen weiteren zarten Keim des Lichts vorbereitend in die Seele des Irrenden, Verirrten zu legen und ihn vorzubereiten auf den großen Tag der Offenbarung.
Bald fuhren Piet und Madelaine von der Ardeche und ihren Weinbergen wieder fort, in den Norden, bis nach Berlin, wo sie in Kreuzberg in die leere Wohnung einer Freundin Madelaines zogen. Sie spazierten manchmal durch die türkischen Straßen, bestaunten die herrlichen Perserteppiche, die großen Wasserpfeifen der Orientalen in den Schaufenstern, aßen manchmal das türkische Lammfleisch mit Salat im weißen Brot, hörten den Straßenmusikanten zu, sahen die Bettler durch die Straßen streichen, Drogenabhängige, manche Gruppen von Anarchisten auf den Marktplätzen herumlungern. All das war aufregend genug.
In der Wohnung aber, auf dem Balkon im Schatten vor der Sommerhitze liegend, forschte Madelaine in ihren russischen Büchern und Piet in einer ägyptischen Mythologie, wovon er der keineswegs sonderlich interessierten Freundin erzählte:
„Isis, die Königin Ägyptens, wird dargestellt als eine Göttin besonderen Edelmutes und sanfter Seele, sie wird ganz mit dem sanften Monde verglichen. Manche Statue stellt sie dar als eine Göttin-Madonna, auf den Knien sitzt der göttliche Knabe Horus, der der letzte Gott Ägyptens war. Er war es, der den Typhon, den Götterfeind, gefangen nahm. Der Gott gab seiner Mutter einen Kuhkopf, dessen Hörner von den Ägyptern mit den Hörnern des Mondes verglichen werden. Als aber der Gott Osiris vom Götterfeind zerrissen worden war und seine zerfetzten Glieder in den Nil geworfen, wanderte Isis in Trauerkleidung durch ganz Ägypten, bis hinauf nach Byblos, ihren Gott zu suchen. Schließlich fand sie alle Glieder und balsamierte seinen Leib. Osiris aber war der Gott der Totenwelt geworden, der Richter der Toten. Das ist ausführlichst dargestellt im Ägyptischen Totenbuch. Osiris thront auf seinem Richterstuhl, umgeben von den Schöffen seines Gerichtes, die auf Thronen sitzen. Die toten Seelen, die mit Gebeten durch die Unterwelt fahrend bis vor des Gottes Thron gelangt sind, werden von ihm nach ihren Werken gerichtet. Ihre guten Taten werden auf eine Schale, ihre bösen Taten auf eine andere Schale gelegt, die Waage wird gehalten von der Göttin der Wahrheit, die ein sehr feines Empfinden hat (ich muß bei ihr doch immer an dich denken, Madelaine, denn auch du hast ein feines Empfinden). Die Begnadeten kommen auf die ewigen Felder, wo sie sich dem Landbau hingeben können. In uralten Zeiten kamen nur die Könige auf die Felder des Lebens, aber nach einer Reform der Religion konnten Menschen aller Stände diese Felder des Lebens erreichen.“
Nach diesem Eintauchen in den heidnischen Mythos Mizraims zogen die Beiden wieder durch Berlin, und sie spazierten durch das inzwischen geöffnete Brandenburger Tor in den Osten Berlins, der nicht mehr unter der sozialistischen Herrschaft stand, denn die Einheit der beiden deutschen Lande war vollzogen worden. Sie besahen sich die Weltuhr auf dem Alexanderplatz. Zu sozialistischen Zeiten war die Stadt Jerusalem mit ihrer Weltzeit nicht angegeben, denn es herrschte Feindschaft des Kommunismus mit Israel, nun aber war von den Demokraten Jerusalem wieder eingetragen worden.
Sie spazierten durch den Osten Berlins, und in einer Buchhandlung kaufte Piet einen „Hyperion“ für Madelaine, er gab es ihr als Bekenntnisschrift, sie solle es lesen. Vielleicht hoffte er, sie würde Diotima, vielleicht würde sie dieselbe humanistische Begeisterung für das Griechentum ergreifen? Sie las es, und es gefiel ihr besonders das Loblied auf die Kinder.
Madelaine ging am Nachmittag eine Freundin in Spandau besuchen und ließ Piet allein auf dem Balkon zurück. Er blätterte in seinem geliebten „Hyperion“. Da traf er auf eine Stelle, die sein Gewissen erregte. Hyperion grübelte über seine Situation und fühlte schamhaft seine unheilige Lage. Er verglich sich mit einem Liebenden, den, wenn seine Herrin zurückkommt, sie findet mit einer Dirne zusammen. Und Piet errötete. Er erinnerte sich, daß er, als er nach Oldenburg gekommen war, gehört hatte, daß Marion Meister nach Italien zur Apfelernte gereist sei. Wenn sie nun wiederkäme und fände ihn, der ihr doch Treue und Liebe versprochen hatte, zumindest im Stillen seiner Seele, fände ihn mit einer Frau, mit der er das Fest der Sinne feierte? Er schämte sich der Sinnlichkeit. Die Gnosis mit ihrer Leibfeindlichkeit hatte schon Spuren in seiner Seele zurückgelassen. Er genoß zwar die schönste, sommerliche Sinnlichkeit, die weibliche Schönheit, das Fest der Sexualität, und dennoch schien ihm etwas daran nicht rein zu sein, dem Geist zu widerstreiten.
Und hatte nicht Marion oder seine Liebe zu ihr ihn so nah an den reinen Christus geführt? Und nun war er zu den hundsköpfigen Göttern der Ägypter gekommen!
In seiner Seele stritten sich die Skrupel mit dem Genuß, der Leib mit seinen natürlichen Anrechten auf der einen Seite mit dem Streben des Geistes nach dem Lichte auf der andern Seite. In jener Stunde dachte Piet an Diotima, wie sie so edel, so tugendhaft war, so rein und unschuldig. Wo war denn Tugend in seinem Leben? War nicht Tugend ein Spottwort in seiner Welt geworden? Hatte er nicht die Feier der Sexualität vergöttlicht und sie Aphrodite genannt? Waren doch die Priesterinnen der Aphrodite damals im antiken Griechenlande Dirnen gewesen, stadtbekannte Dirnen, die sich ihren Freiern willenlos überließen und dies einen Dienst an der Gottheit nannten? Mußte Piet nicht um der Reinheit willen von aller Wollust lassen und in Askese seinen Geist zu heiligen suchen?
Was würde Marion zu seinem Leben sagen? Wäre sie nicht zutiefst enttäuscht, sie, die so rein wie eine Rose war, gebadet im Blut, und die mit Dornen bewehrt war, allzu freche Freier abzuwehren? Aber wo war denn Marion? Warum hatte sie Oldenburg in Richtung Italien verlassen, wo sie doch wissen mußte, daß er ihr nachreisen würde, um in Oldenburg die Beziehung fortzusetzen? Hatte sie nicht ihn schmählich verraten? Und lebte sie vielleicht in diesem Augenblick in ungehemmtem Sinnengenuß mit einem braungebrannten Italiener?
War das Leben einem nicht gegeben, um es zu feiern, um es zu genießen, waren nicht die Sinne gegeben, der Seele Wollust und Wonne zuzuführen? War nicht die Schönheit der Frauen die schönste Schönheit der ganzen schönen Schöpfung? Und sollte man achtlos an dieser Schönheit vorübergehen? War nicht die Schönheit einer Frau vollkommen, wenn sie keine Kleider der Mode mehr trug, sondern in dem Evakostüme vor dem Manne stand? War sie dann nicht so, wie Gott sie geschaffen hatte? Und was war Aphrodite anderes, als die Verherrlichung eines bloßen Weibes?
Und war nicht Madelaine die Schönste von allen? Und war sie nicht so zärtlich? War nicht auch ihre Seele so ungeheuer zärtlich? Weinte sie nicht oft die empfindsamsten Tränen? Die troffen dann auf ihre vor Scham errötenden weißen Wangen, ein Anblick, der ihre empfindsame Seele offenbar machte! Und da dachte er an ihre großen feuchten Augen, die manchmal so verloren schauten, seine Seele zärtlich bewegten. Und er schaute im Geiste in diese Augen und schaute auf den Grund der Seele, da sah er eine abgrundtiefe Traurigkeit. Hatte sie nicht ein Kind im Mutterschoße verloren, war vielleicht daran schuldig geworden? (Schaute dieses Kind nun schwebend in den lichten Ätherweiten auf seine Mutter und ihren skrupulösen Liebhaber, konnte er dem himmlischen Kinde diese bösen Gedanken antun?) Und war sie nicht, wie er aus ihren dunklen Erzählungen vermutete, in ihrer Kindheit als ein hübsches Mädchen, vielleicht frühreif am Körper, von einem bösen Onkel angetastet worden? Welche Erniedrigungen und Beleidigungen hatte sie ertragen müssen, welche Einsamkeiten, welchen Mangel an Liebe! War sie nicht in ihrer frühsten Kindheit in einer Atmosphäre des Streites aufgewachsen und hatte die Harmonie der Liebe vermissen müssen? Und war eine Streunerin in ihrer Jugend gewesen, immer auf der Suche nach Anerkennung und einem abenteuerlich erfüllten Leben, dennoch verloren und heimatlos wie ein Obdachloser? Und war sie nicht schmählich verraten worden von ihrer ersten Freundin, die sie mit der ganzen Hingabe eines liebeshungrigen Menschen geliebt hatte, im Stich gelassen an den dunklen Wassern der Seine in einer großen labyrinthischen Stadt? Und hatte nicht ihr erster Freund sie verlassen, weil er zu seiner ersten Liebe zurückgekehrt war (und nun sollte Piet dasselbe tun wollen - wie hartherzig und gemein war dieser Gedanke)! Ach, sie war ja ein Kind auf dem Grunde ihrer Seele, ein einsames, trauriges Kind, das in einem dunklen kleinen Raume hockte und auf die Morgenröte wahrer Liebe hoffte, wahrer, inniger, treuer, seelenzärtlicher Liebe! Und war ihr nicht die Hoffnung der Religion, die jedes Kind trösten mußte, schon in ihrer Kindheit vorenthalten worden? Suchte sie nicht auch, ohne es zu wissen, nach dem göttlichen Licht, nach der Offenbarung göttlicher Liebe, wie er, wie Piet? O sie war liebenswert! Sie war vollkommen! Sie war ein Meisterwerk der Natur, der Seele der Natur, die Natur hatte sie vollkommen geschaffen, oder Gott, aber Mutter Erde hatte sie stiefmütterlich behandelt und ihr viele Wunden geschlagen!
Als er eben so dachte, kam Madelaine von ihrem Besuch zurück. Sie lachte hell, als sie hereintrat. Sie hatte Gemüse eingekauft und Nudeln und wollte ein Essen kochen. Piet war überwältigt von Zärtlichkeit, überschwemmt von Mitleid (obwohl sie lachte, sah er in ihr ein unendlich trauriges Kind)! Und er liebte sie für ihre mütterliche Fürsorge, ihre weibliche Umsicht, und sie genossen ein herrliches Mahl im Spätsommerabend auf dem Balkon, und vom Rotwein bezaubert, erkannte er die Weichheit ihrer Züge, die Schönheit ihrer Haare, die schwarz und lang hinunterwallten, den offenen Schimmer ihrer Augen, die ihn anlächelten, und die Honigmelone des Mundes mit ihren Elfenbeinzähnen, ein pralles reifes Lachen lachend, und die Fülle ihrer Brüste, und die Linie ihres Leibes, und die kleinen Füße (an denen es sie immer so fror).
Und er stand ganz in der Flamme der Begeisterung für die Seele und den Körper Madelaines. Und kein Gedanke an irgendwelche Götter oder anderen Frauen schwirrte durch seinen Sinn, als er, in die Umarmung versunken, ruhte.
FÜNFTES KAPITEL
Es war Winter, und draußen, vor dem Küchenfenster der Oldenburger Wohngemeinschaft, stürmte der Winterwind durch die dichtverhangene Nacht. Es war gegen neun Uhr, und Piet setzte sich eine Kanne Kaffee auf, denn er wollte diese Nacht noch wachen, um seinen dichterischen Träumen nachzuhängen. Er saß allein in der Küche, auf den Kissen, die um einen flachen Tisch am Boden lagen. Er legte eine Schallplatte auf, da erklang der Trauermarsch des Frederic Chopin, und die Töne tropften in des Dichters Seele. Da ward sein Gemüt aufgerührt, und Gedanken quollen aus seiner Seele hervor in bunten Bildern, wie Zaubermärchen. Er dachte an Marion.
Von Marion Meisters Eltern hatte er ihre neue Anschrift bekommen, sie wohnte im Teuteburger Walde, er hatte auch ihre Telefonnummer bekommen. Da er allein war, ward das Zauberbild einer Rose mächtig in ihm, sah ihn an mit der Glut der Liebe, ein Paar blaue Augen blickten aus der purpurroten Gestalt, Augen, in denen der Himmel lächelte. Da griff er, zitternd vor Bangen, zum Telefon und wählte die Nummer seiner Dame.
„Marion Meister!“
„Ja, hier... ist Piet, Piet Buß... Ich wollte einmal hören, wie es dir geht?“
„Oh, Piet? Du, es paßt im Augenblick nicht so gut, ich liege gerade in der Badewanne. Du kannst ja später noch einmal anrufen.“
„Ja, gut... In einer halben Stunde?“
„Ja, bis dann also.“
Seine Hände zitterten, seine Kniee waren weich, sein Herz klopfte ihm bis zum Halse. (Oh, sie war in der Badewanne!) Er hatte ihre Stimme gehört! Welche Stimme! Wie ein Traum! Und er durfte in einer halben Stunde mit ihr sprechen! Wie vergeht doch die Zeit so langsam, erst drei Minuten, seit ich aufgelegt habe. Kannst du dich nicht schneller bewegen, du Sekundenzeiger? Noch keine weitere Minute voll?
Er drehte die Schallplatte um, da hörte er Schumanns Wiener Karneval, und er ward aufgeregter noch von der Musik, als er schon aufgeregt war. Er bewegte sich unruhig in der Küche hin und her, wie ein Panther im Käfig. Die Zeit war der Käfig, und der Raum, der ihn von der Gegenwart der immer noch Geliebten trennte.
Er griff, um sich abzulenken, zu Madelaines Puschkin-Buch, aus dem sie am Nachmittag vorgelesen hatte. Schöne Tatjana! Schönes Ideal der Reinheit! Wie erscheint vor dir der dich Liebende wie ein Geck, wie ein mondäner Dandy, wie ein eitler Narr! Aber du bist schön, schön an deiner träumerischen Seele, du Jungfrau aus Schnee, du Rose ohne Dornen!
Und er blätterte weiter in dem Buch, und da fand er jenes Gedicht, daß er schon einmal gelesen hatte, das Lied an Anna Kern, das ihn nun mächtig an der Seele hatte:
„O Stunde seliger Vereinung,
Wo du erschienst mit holdem Gruß,
Gleich einer flüchtigen Erscheinung,
Der reinsten Schönheit Genius!
In hoffnungslosen Sehnsuchtsqualen,
In dieses Lebens Wogenprall,
Sah ich dein Engelsauge strahlen
Und hörte deiner Stimme Schall.
Es schwanden Jahre. Meine Qualen
Begrub des Lebens Wogenschwall,
Und deiner Engelsaugen Strahlen
Vergaß ich, deiner Stimme Schall!
Verbannt, in düsterm dumpfen Sehnen
Floß träg und kalt dahin mein Blut -
Ach, ohne Gottheit, Leben, Tränen,
Begeisterung und Liebesglut!
Da schlug die Stunde der Vereinung,
Und du erschienst mit holdem Gruß,
Gleich einer flüchtigen Erscheinung,
Der reinsten Schönheit Genius.
Nun schlägt mein Herz in trunknem Sehnen,
Und feurig schießt dahin mein Blut -
Mich rufen Gottheit, Leben, Tränen,
Begeisterung und Liebesglut.“
Von diesem Liede war er noch entflammter, noch erregter, und noch zitternder sah er dem Vergang der halben Stunde entgegen. Schließlich war es soweit. Er rief erneut an. „Marion? Hier ist Piet. Hast du nun etwas Zeit für mich? Wie geht es dir?“
„Oh, mir geht es gut. Und dir?“
„Ich wohne hier in einer Wohngemeinschaft, mit... Nun, wir sind ein bunter Haufen, einige Frauen sind eingezogen, wir wollen aufs Land ziehen. Ich befragte das I Ging, ob ich mitgehen solle, weil...
„I Ging? Ich dachte, das heißt I Jing? Damit beschäftigst du dich?
„Ich befrug das Orakel mit fünfzig Schafgarbestengelchen, und weißt du, was mir für Gedanken kamen?“
„Nun?“
„Ich dachte zuerst an Adam, den Sohn der Erde, man sagt doch, er sei der erste Mann gewesen. Aber nachdem ich alle fünfzig Hälmchen abgezählt hatte, dachte ich an Christus, den himmlischen.“
„Du, ich wünsche dir alles Gute auf dem Lande, ich selbst wohne hier auch sehr schön in der Natur. Also, dann alles Gute!“
Und er war viel zu aufgeregt, um das Gespräch noch fortzusetzen, verabschiedete sich, und stellte sich bebend vor das nachtschwarze Fenster und dachte: O Marion!... Und in jener Nacht schrieb er ein verworrenes Gedicht, das von Adam sprach, und dann von der Natur, und dann von Marion und dem himmlischen Christus und von seiner Liebe...
Es waren zwei Frauen, Freundinnen Madelaines aus ihrer Jugend, in die Wohnung eingezogen, und mit diesen wollte Piet nun (er hatte die Weisung erhalten) aufs Land in Ostfriesland ziehen. Die erste dieser Freundinnen hieß Cornelia, war blond, schminkte sich meist den Mund rot, war Tochter katholischer Eltern; die andere hieß Ulrike, braungelockt, stämmig, und war eine Anhängerin des Heidentums. Für Piet war Cornelia eine Autorität, denn als Tochter katholischer Eltern war sie doch vielleicht auch nah am Christentum mit seiner Reinheit und seinem Geist.
Eines Wintertages fuhren die Frauen mit Piet nach Ostfriesland und wurden vorstellig bei einem verrückten Mann, der allein auf einem großen Bauernhof wohnte. Piet ging, da er den Verrückten kannte und nicht gleich am ersten Tage sehen wollte, allein im nahen Wald spazieren. Der frostige Wind umpfiff ihn, die Kiefern rauschten, die Dämmerung brach herein und füllte den Kiefernwald mit einem merkwürdig zwielichtigen Licht. Piet war zerrissen und aufgewühlt, wie der Wald vom Sturm. In seiner Seele erklang ein wildes Orgelspiel der Erde, er hatte den Realitätsbezug verloren und hing nun an dem Traumbild der Muse, die ihm nahezu erschien inmitten der herumgeworfenen Kiefern, da dichtete er ein Waldsonett:
„O schwarze Kiefern ihr und alte Föhren,
Vom Sturm gebeugt! Ich hör des Sturmes Rauschen
Und muß darin der Muse Stimme lauschen:
O Dichter, eine Liebe mußt du ehren!
Sie wohnte einst an aufgewühlten Meeren
In einem marmorweißen Märchenturme.
Und nun erscheint sie mir in diesem Sturme,
Und ich mag ihrer Zaubermacht nicht wehren.
Ich wandle durch die dunklen Waldesgründe,
Zu schwer beladen mit der Sinne Sünde,
Und wüster ist in meinem Herz die Wildnis:
Da wütet es und schwillt es an, das Toben
Des stürmenden Verlangens - doch von oben
Erscheint mir gnadenreich Ihr Anmutbildnis!“
Wieder in Oldenburg, im Osternburger Stadtteil, saßen die Frauen mit Piet beim Abendbrot. Madelaine setzte eben den Tee auf, stand am Herd beim Wassertopf und lachte ihr schönstes Lachen. Erhellt von ihrem freundlichen hellen Lachen lebte Piet in totaler Gegenwart, und die Gegenwart hieß Madelaine! Ihre Schönheit berührte sein Herz, und er genoß den Abend mit den munter plaudernden Frauen. Erst als diese sich alle in ihre Zimmer begaben, Madelaine zu ihren Studien der Slawistik sich an den Schreibtisch begab, begann für den Dichter wieder eine einsame Nacht.
Und da die Einsamkeit heraufkroch wie ein Gespenst in einem schwarzen Mantel, da wurden seine Nerven zitternder, seine Sinne empfindlicher, und es schien ihm, als käme ein Geist - der Geist Tatjanas! - unter der Tür, über der Schwelle, als eisiger Wind hereingepfiffen. „Hoffmann’scher Wahnsinn!...“ murmelte er, aber der Gedanke war von so bezwingender Zauberei, daß er ihm nicht widerstehen konnte. Wie, wenn nun Tatjana vor ihm stünde, in den reinen Schnee ihrer Jungfräulichkeit gehüllt, sie, Anna Kern, der reinen Schönheit Ideal, in diamantener Klarheit, weiß und rein, unschuldig - und ihn sah, wie er im Dunkel saß, verwirrt an den Sinnen, an seiner Seele zerrissen zwischen Geisterwelt und Sinnengenuß - da packte ihn die Scham, und ein Gefühl quoll in ihm auf, Reue zu üben, Buße zu tun und zu beten.
Er ging in die Nacht hinaus und wanderte durch die Osternburger Straßen, ziellos, sprachlos, denn mit wem hätte er reden sollen? wem seine Zerrissenheit klagen? zu welcher Gottheit beten? Ohne Trost in seiner Verlorenheit irrte Piet durch die dunkle Nacht. Das kalte Licht der wenigen Straßenlaternen ersetzte den Mondschein. Es steigerte seine Verlorenheit. Seine Wege führten am Judenfriedhof vorbei, dessen hohe, geheimnisvolle, efeubewachsene Mauern ihn anzogen. Er kletterte über das Tor, voller Scheu, die Ruhe der Toten nicht zu stören - es waren Juden!
Zwischen den Gräbern, auf die von der Straße her ein mattes Licht fiel, zwischen den steinernen Gräbern mit den hebräischen Lettern stand eine Bank, auf die er sich setzte. Nahe war eine weiße Kapelle, die er für eine katholische Kapelle hielt, denn einige Häuser weiter befand sich die katholische Kirche. Es war eine kleine weiße Kapelle des Todes, mütterlich gewölbt, mit einer hohen Eichenpforte, die - ihm schien es zumindest so - sich öffnete, und eine Frau erschien. War das die Muse oder die Madonna oder Marions Geist? Sie trug ein rosenfarbenes Kleid und einen dunkelblauen Umhang, das Haupt war verschleiert. Aber ohne etwas zu sagen, verschwand die Erscheinung wieder.
Wortlos, stumm betete Piet, ohne zu wissen zu wem, aus Verzweiflung, aus Hilflosigkeit, betete zu der Gottheit dieser Toten, dieser Juden, die alle den Geruch der schwersten Leiden an sich hatten... Und ohne Frieden erhob er sich nach einer Weile wieder, ging noch einige Zeit durch die Nacht, voller Unruhe, und ward erst von der sich endlich einstellenden Müdigkeit und einem traumlosen Schlaf erlöst.
Sylvester kam. Piet schied sich immer mehr von den des Tages lebenden Mitmenschen, lebte in der Nacht und ihrem gespenstischen Reich, verführbar, versuchbar... Er las intensiv (wie ein Christ in seiner Bibel liest) in dem „Poem ohne Held“ der guten Anna Achmatowa. Das regte seine Phantasie mächtig an. Dieses orakelhafte Geraune aus einer Zeit, die etwas Zeitloses hatte, diese Gestalten, die etwas Gestaltloses hatten, die Nächte, die die Ahnung einer dunklen Ewigkeit im Schoße trugen...
Oh! Wer war jener Galan aus dem Norden? War es nicht er selbst, war er nicht der Dandy, den Puschkin und Byron hatten auftreten lassen? Ein eitler Weltmensch war er! Und konnte er bestehen, wenn die dunkle Muse mit dem schwarzen Schal ihm zum Gericht das Gesöff der Neujahrsnacht reichte, den giftigen Kristall im Kelch?
Oh, wer hat diesen Kelch so bitter gemacht, daß der Stern Wermut hineingefallen schien? Heilige Kerzen in einem Tempel der Muse oder der Schönen Dame flammten, vor der strengen Ikone der reinen Jungfrau.
Venedig war nebenan mit seinen Gondeln, die schwarzen Särgen glichen, eine einzige Rose blühte rot auf der Gondel Colombines - oder war es Donna Anna? Donna Anna, das war doch... ja, das war sie! Oder war sie die Zauberin Psyche?
Warum schickt er keinen Schwan zu mir? fragte die Muse, ja, Piet, warum sendest du keinen Schwan zu ihr? Sie wartet!
O das verbrannte Manuskript, die verbrannte Heckenrose! Sterben, sterben, sterben, das ist die Lösung aller Fragen, die Antwort auf alle zwielichtigen Rätsel, unterzugehen in der heiligen Nacht, vor der Ikone, betend...
Und Don Juan - das tat weh! War er nicht aufgetreten wie ein Don Juan, hatte er nicht - gemordet die Traurige, die im Klostergarten weinte um den Verstorbenen - gemordet sie mit seinem Verlangen? Und wie sollte er, der Frevler und Übertreter aller Sittengesetze, sich verantworten vor dem Gericht der Muttergottes? Die blickte ernst von ihrer Ikone mit Marions Augen. Und doch war Mütterchen Erde die Heimat Madelaines... O diese beiden!
Er müsste auch im Staatsgefängnis sitzen und leiden die Leiden eines Sohnes! Und dann würde die Siebente Symphonie erklingen! Und die Heckenrose würde wieder blühen! Und der Schwan würde schwimmen! Und Venedig wäre nicht mehr fern! Und Don Juan und der jüngere Galan aus dem Norden würden sterben, verkleidet als Werstpfähle erfrieren im sibirischen Schnee, und auftauchen würde... ja, wer?
Und wie sollte einer eine Zuflucht vor solchen Gedanken finden, der das Gebet und seinen himmlischen Frieden nicht kennt? Und wie sollte einer Heilung an der verwirrten, zerrissenen Seele kennen, der den Heiligen nicht kennt, den Heiler, den Heiland, den russischen? Und wie sollte einer aus seiner Reue und Buße auftauchen als Erneuerter, der die Vergebung nicht kennt und das vergebende Blut? Und wie sollte einer Sicherheit haben vor der Versuchung durch die astralen Geister, wenn er den Geist der Wahrheit nicht erkannt hat?
O wehe, wehe, wehe dem Verlorenen in seiner ewigen Einsamkeit!
Aber Gottes zeitliche Gnade führte Piet auch an diesem aufblühenden Morgen, nach dem Streit des Geistes in der Nacht, zu seinem Schlaf und zur Erneuerung seiner Seele durch die Ruhe der Traumlosigkeit (er hatte ja im Wachen hinreichend sich zusammengeträumt).
Im neuen Jahr ward Madelaine krank, eine Grippe ergriff sie und legte sie ins Bett. In ihrem großen, leeren, weißen Zimmer befand sich ein Winkel mit einem großen Bett, unter mehreren breiten, aufgeplusterten Bettdecken in zartestem Rosa lag die Kranke, nur ihr schwarzes Köpfchen schaute hervor, das weiße Gesicht mit den fiebrig roten Wangen und fiebrig glühenden Augen.
Piets Herz ward, so wie Madelaine Körper von der Krankheit, von Barmherzigkeit ergriffen. Tagelang sorgte er nur um ihr Wohlbefinden. Kochte ihr Suppe, machte ihr Kräutertee, las ihr stundenlang aus Doktor Juri Schiwago vor. Gemeinsam schwärmten sie von Rußland und träumten davon, eines Tages selbst dieses schöne Land zu besuchen. Nicht das Rußland des Kommunismus war der Traum, sondern das Rußland der einfachen Menschen, der armen Bauern mit dem reichen Glauben, das Rußland Dostojewskis und Tolstois, die weiten verschneiten Steppen, Mütterchen schwarze Erde, die Hütten mit Müttern, welche Tee im Samowar kochten, das „Gottland“ Rilkes. Und nun die Wirren der Revolution, der gemeine Pöbel, der Phrasen dreschend mit Gewalt das Land durchdrang! Und die beleidigten und erniedrigten Seelen...
Und Tonja und Lara! O wie lag Tonja krank, mit einem Fieber, wie es die Helden Dostojewskis öfter haben, und einem vergeistigten Blick, von der Krankheit vergeistigt. Und nun ergriff Juri Schiwago eine Barmherzigkeit, wie sie der dichtende Arzt nie bisher gekannt hatte, für Tonja. Er pflegte sie, als wäre sie seine eigene Großmutter. Er pflegte sie mit dem ganzen Einsatz, den er im Kriege, im Lazarett an der Front gelernt hatte, wo er - Lara kennen gelernt hatte. Aber in diesen Stunden dachte er nicht an Lara. Erst als er Tonja aus einem alten russischen Romane vorlas, indem von einer seltsamen Frau die Rede war... von einer Frau, die nur in den Träumen des Dichters vorkam, während hier, zum Erbarmen, des Arztes Ehefrau auf dem Lager lag, dem Krankenlager, das keinen Gedanken an Sinnenlust aufkommen ließ, um so stärker aber wurden die Gedanken mitleidiger Liebe, erbarmender Liebe.
Und wie liebte Madelaine doch auch Lara... Und welch ein Thema die Revolution! Welche Hoffnungen lagen doch darin begründet, Hoffnungen auf die Morgendämmerung der Menschlichkeit! Und in welcher Niedrigkeit ging sie zugrunde, in welcher Unmenschlichkeit! Wie waren die propagandistischen, agitatorischen Phrasendrescher Feinde der Liebe Schiwagos zu... Tonja, zu... Lara...
Und dennoch hatte der Krieg, die Revolution und Konterrevolution sie zusammengeführt. Mitten in der Geschichte war eine zeitlose Romanze aufgeblüht, als wie im sibirischen Schnee, in der Steppe mitten eine einsame Rose blühte. Und hatten nicht auch Madelaine und Piet sich gefunden, da sie über den Kommunismus sprachen, ihre gemeinsamen Wurzeln erkannt (verdorbene Wurzeln)?
Wie erbarmungswürdig war doch Tonja, die zarte, sanfte, gute Seele, daß Juri Schiwago seine Liebe Lara zuwandte! Ja, warum eigentlich? Nur, weil sie in der Ferne war, während die Ehefrau so nahe war? Oder hatte Juri Schiwago ein Herz für Lara bekommen, als er ihre Geschichte kennen lernte, die Geschichte einer Vergewaltigung? War seine Liebe eigentlich Barmherzigkeit und Mitleid? Wie leicht ist es doch, ein Traumbild zu lieben! Oder aber, wie leicht geschieht es, daß einer in seiner Ehe an der Liebe vorbeilebt? Wer eigentlich war vom Schicksal dem Schiwago bestimmt? Und Madelaine sagte: Lara war seine wahre Liebe. Aber Tonja hing an ihm mit einer gewaltigen, herzergreifenden, kindlichen, traurigen Liebe! Hartherziger Juri Schiwago, wenn du diese Liebe nicht zu erwidern wußtest!
Und schließlich die Gedichte über die heilige Sünderin Magdalena, und über Christus, diese russische Eisenbahn, der die ganzen Wagen voller Seelen in die Ewigkeit zieht, Christus in Gethsemane, da er „betrübt war bis zum Tode“... - -
Eines Abends gab es eine gesellige Feier in dem Zimmer Cornelias, die einige Freunde und Freundinnen eingeladen hatte. Es standen Weinflaschen auf dem Boden, Salate waren bereitet, Marihuana ging herum, und Piet verlor die Realität. Er sah eine der Freundinnen Cornelias still in der Ecke sitzen und aufmerksam den Reden eines Mannes zuhören. Ihre Haare wurden braun wie Kastanien, lockig, ihre Augen blau, fast grün, ihre Kleidung ganz und gar phantastisch - sie war eine Abgesandte aus der Welt der Muse, sie war eine Stellvertreterin seiner Herrin an diesem Ort, ihr galt seine Verehrung an diesem Abend.
Cornelia trat lachend zu Piet und sagte: „Na, Poet? Magst du uns nicht etwas aus deinen Gedichten vorlesen?“
„Das mag ich.“
„Dann setz dich auf mein Bett, das Mückennetz wird dich verschleiern, und so wirst du reden wie...“
„... wie Merlin aus seiner Grube, in die ihn seine geliebte Fee gebannt.“
Und so ging Piet heraus in sein Zimmer, wühlte nervös in seinen Papieren und suchte einige Gedichte heraus, zwischen denen er sich nicht entscheiden konnte. Sollte er ein Loblied auf die wunderbare Schönheit voller Liebreiz und Verlockung vorlesen? Aber da war ja jene Stellvertreterin, ein reines Mädchen, eine sanfte schöne Seele, ihr mußte er gefallen, aus ihren Händen wollte er den Lorbeer auf sein Haupt empfangen. Darum wählte er eines seiner Waldsonette. Mit diesem bewaffnet, trat er wieder in Cornelias Zimmer, gab ihr einen Wink und verschwand hinter dem weißen Schleier des Mückennetzes. Cornelia rief in die Runde, sie mögen alle nun stille sein, denn es gäbe heute Abend eine Dichterlesung. Stille kehrte ein, vermehrt von ein wenig Flüstern und Kichern. Piet begann leise: „In ungemeiner und geheimer...“ und wurde unterbrochen: „Lauter“ riefen einige. So fasste er Mut und rezitierte unpathetisch:
„In ungemeiner und geheimer Weise
Soll meine Leier wahrer Liebe tönen.
Im stillen Walde tanzen all die Schönen
Im silberweißen Mondenscheine leise,
Sie tanzen anmutvolle Zauberkreise,
Die alle Trank von goldnem Mondwein frönen.
Manch einer möchte sie mit Efeu krönen.
Jäh aber glänzt von licht-kristallnem Eise
Die Königin der Schönheit voller Reinheit.
Die Erde liegt in taumeltrunkner Kleinheit
Gedemütigt zu ihren bloßen Füßen.
Sie kam, um den Poeten zu erheben,
Fortan wird er durch seine Lieder leben,
Die alle seine milde Muse grüßen.“
Die jungen Menschen applaudierten. Piet lauschte atemlos dem Applaus. Er versuchte, durch den Schleier zu erkennen, ob die Abgesandte applaudierte, aber ihm schien, sie säße als einzige schweigend und bewegungslos im Winkel und sönne den Versen nach. Er war trunken von Poesie und dem Geheimnis darin, er war verzaubert vom Schleier und von der Droge. Da schob Cornelia das Mückennetz zur Seite und sagte: „Das hat mir wohl gefallen.“ Und Piet sah - jenes stille Mädchen neben Madelaine sitzen und mit ihr lachen. Und da sah Piet die lachende Madelaine als eine Begnadete, ja, so wie der Papst die Kaiser eingesetzt, so hatte jenes geheimnisvolle Mädchen aus der anderen Welt ihre Liebe Madelaine zugewandt; und darum - in treuem Gehorsam - wandte sich Piety Liebe wieder der schönen Madelaine zu. Und an jenem Abend genoß er ihre sanfte weibliche Nähe mit vollen Zügen.
Und im Februar des neuen Jahres zog Piet, um nachzudenken über seine innere Zerrissenheit, wieder nach Norden, zu seinem Freunde Andreas Schwalbenburg, der ein Zimmer frei hatte. Piet setzte sich an den Schreibtisch und schrieb einen Brief an Marion, wo er sie um Rat fragte, als sei sie nicht beteiligt, als sei sie seine Meisterin, vielleicht in der Hoffnung, zu der sie ihm keinen Anlaß gegeben, sie würde sich zu ihm bekennen, vielleicht in der Hoffnung, sie wüßte ein rettendes, erlösendes Wort zu sprechen, war sie doch sein Abgott...
Er starb in der Stadt Norden: Ich meine, man kann hier nicht leben, man kann hier nur sterben... Denn innerlich war er so von der Krankheit der Zerrissenheit und des unklaren Gewissens geplagt, daß ihm der Mut zu freudigem Leben geschwunden war. Er lag einsam darnieder und grübelte und grübelte, nährte seinen Geist weiter mit der Poesie der Verzweiflung und Todeslust und kam sich vor wie ein Kranker, dem der nahe Tod gewiß ist. Er sah sich bleich, mit blauen Lippen und starren Händen auf das Krankenlager geworfen. Er meinte, es gäbe nur eine Rettung für ihn, nur einen Weg, wieder ins Leben zu kehren, und das sei ein Eingreifen seiner Schönen Dame, seiner Traumfrau. So vegetierte er vor sich hin, von Tag zu Tag schwächer werdend.
Da trat eines Tages Magdelaine in sein Zimmer. Sie begrüßte ihn mit der reinsten Freundlichkeit, Herzlichkeit, Wärme und Zuneigung, daß er einen schwachen Lichtstreif Leben am Horizont sah. Er wollte gerne aufgeben, wollte gerne auf die beharrlich schweigende Traumfrau Verzicht leisten, wollte nicht länger in Agonie sein Leben allzu früh beenden. Madelaine war wie das Leben selbst, blühend, schön, lachend, kindlich weinend und schnell getröstet, küssend, umarmend, sinnlich. Er ließ sich stumm in ihren Armen trösten, aber auf ihre Fragen, was mit ihm sei, schwieg er finster.
Vermutlich hatte Madelaine seine innerliche Abwesenheit gespürt, er wurde jedenfalls eifersüchtig auf einen Burschen, der auf dem ostfriesischen Bauernhof verkehrt hatte, und den sie nun besuchte. Die Eifersucht erregte seine Lebensgeister krankhaft. Er versuchte, Madelaine um jeden Preis zurückzugewinnen, war sie doch Alles, was er hatte, schien sie ihm doch die einzige Bindung an das Leben zu sein, seine weinende Trösterin, die ihn dadurch tröstete, daß er sich ihrer erbarmen durfte, wenn sie weinte. Es gab Verletzungen, die er ihr zufügte, die sie weinen machten, die sie aber in ihrer kindlichen Seele schnell vergab und vergaß; davon war er so gerührt, daß sein Herz von Dankbarkeit überfloß.
Sie lebten einige Wochen zusammen in dem kleinen Zimmer, und es war eine innige Nähe und Vertrautheit, wie sie lange schon nicht mehr dagewesen war. Es war ihm, als sei es eine Zeit des Abschieds, denn er wartete nur auf das Kommen der Traumfrau, der Idealen; und dennoch war es eine Zeit leidenschaftlichen Intimseins zweier hilfloser Seelen, die Liebe suchten in einem erbärmlichen Leben, die Nähe und Geborgenheit, Wärme und Vertrautheit suchten.
Da Piet nicht aus der innern Zerrissenheit herauskam, war er manchmal nervös und reagierte gereizt auf die kleinen Launen Madelaines. Die Verletzungen, die er ihr dadurch zufügte, gingen alle unter in dem großen, weiten Meer ihrer Treue und Liebe. Er war überwältigt von ihrer warmen Zuneigung, innigsten Herzlichkeit. Er fühlte sich so geliebt, und kam sich dabei so schäbig und verräterisch vor, daß es ihn in der Tiefe seiner Seele abgrundtief quälte. Selbst im Sturm der Leidenschaft, reitend auf den Feuerrossen, war seine Seele schizophren.
Darum vertraute er sich eines Nachts, da Madelaine schon schlief, dem Freunde Andreas an. Sie saßen bei einer Flasche Wein und hörten Musik: „It ain’t me, you’re looking for, babe“, tönte aus den Lautsprechern zu weichen Gitarrenlauten. Andreas hörte sich den Roman des Freundes an, war aber schon ein wenig betrunken, und fing bald von seiner Liebe zu sprechen an.
„Erinnerst du dich an Britta? Britta aus Jena, die ich im Herbst des Mauerfalls kennen lernte? Ja? Nun, ich wurde, nachdem ihr Mann Arthur gekommen war, Hausfreund der beiden. Ich diskutierte mit Arthur bei vielen Flaschen billigem Rotwein über Nietzsche und das Germanentum, aber eigentlich war ich wegen Britta da. Ihre kastanienbraunen Augen, ihre schlank-grazile Gestalt, ihre kurzen schwarzen Haare, ihr sanftes, manchmal ironisches Wesen, ihre Belesenheit, ihre Spontanität, all das gefiel mir gut, von Tag zu Tag besser, und ich ward in sie verliebt. Die Verliebtheit kam über mich, als ich eines Nachts vor lauter an sie denken nicht schlafen konnte und durch die Nacht spazierte. Der bleiche Mondschein machte die Nacht zu einem weichen Dämmer, einige taufeuchte Blumen sammelte ich und legte sie in der ersten Morgenröte anonym vor ihre Haustür. Später gestand ich ihr, daß der Strauß von mir sei, sie lächelte und sagte, sie liebe Wildblumen. Sie schien mich zu mögen. Aber dann geschah ein Unglück, das uns auseinanderreißen sollte: Arthur hatte in der Zeit des Sozialismus sich von der Staatssicherheit fangen lassen und zum Agenten ausbilden, nun waren seine Papiere aus den Geheimarchiven zutage getreten, er wurde erpresst. Zerrüttet vom vielen Alkohol, wurde er überängstlich. Es entwickelten sich Wahnvorstellungen bei ihm, ein Wahn, der ihn so weit trieb, daß er mit seinem Wagen in Ostberlin gegen einen Betonpfeiler fuhr, ob absichtlich oder unabsichtlich ist nicht mehr zu ergründen gewesen. Britta war sehr unglücklich, und ich konnte ihr in jener Zeit, erfasst von einer übernatürlichen Selbstlosigkeit, eine tröstende Hilfe sein. Schließlich aber geriet auch ihr Leben in Unordnung, sie fühlte sich ohne Arthur heimatlos in Norden, schloß sich einem internationalen Projekt an und reiste nach Brasilien in den Urwald zur Erforschung der Indianerkulturen. Seit sie fort ist, wird ihr Bild in meiner Seele von Nacht zu Nacht lebendiger, sie wird schöner und schöner, ja gewinnt eine überirdische Schönheit. Ich bin mit den stählernen Ketten der Träume an sie gekettet. Manchmal erbarmt sie sich meiner - sie weiß, daß ich sie liebe - und schreibt mir einen Gruß aus Brasilien, dann aus Mexiko, dann aus Kanada, dann aus Rußland; sie ist eine Heimatlose geworden. Und ich, der Seßhafteste aller Menschen warte hier, in häufig trunkner Melancholie und hoffe, ohne zu hoffen, daß sie eines Tages zu mir kommt und mich wach küsst aus diesen Träumen süßer Wehmut und tiefen Schmerzes.“ Andreas nahm einen tiefen Schluck vom Rotwein, der süß und schwer war.
„Darum sind wir wohl Freunde, weil wir ein verwandtes Schicksal haben? Deine Geschichte von Britta traf den Nerv meiner Krise. Eine unerwiderte Liebe, eine ferne Frau, eine Ideale, die in den Träumen erscheint wie ein Engel - das ist auch mein Los. Ich will von dir lernen, so treu zu sein. Ich will Verzicht leisten auf alles Glück der Sinne, auf alle liebende Gegenwart und treu wie du der Geliebten entgegenharren!“
„Wer ist denn die Frau deiner Träume?“
„Marion...“
„Nun, und diese - Marion? Nun, sie macht dir keine Hoffnungen? Nein? Das ist doch aber etwas anderes als bei mir, wo Britta mir jede Woche eine Karte mit einem Vers aus irgendeinem Liebesgedicht oder philosophischen Sprüchen schreibt. Und diese Madelaine, die ist doch überaus hübsch! Ja, wenn ich solch ein Mädchen haben könnte! Man will doch auch einmal die Freuden der Erde genießen! Nein, da häng du deinen Träumen nicht länger an und vergiß die... wie hieß sie gleich?“
„Ach... Verstehst auch du mich nicht? Ich kann nicht vergessen! In meinen Träumen ist sie so lebendig, lebendiger als alle Wirklichkeit des Tages um mich her! Ich bin willenlos ausgeliefert ihrer Epiphanie! Am Dreikönigstag, in der Nacht soll man ja prophetisch träumen, erschien sie mir. Ich nahm Abschied von Madelaine und ihren Freundinnen und verschwand in einem schwarzen Wald, aus dem ich heraus in ein helles mittelalterliches Städtchen kam. Ein Zwerg fasste meine Hand und führte mich durch die romantischen Gässchen bis vor ihre Haustür. Da sie öffnete, schien mich der Mond selbst anzustrahlen. Sie führte mich in schwindelerregendem Tempo eine Wendeltreppe hinauf in ein großes langes Zimmer, dessen Wände aus Spiegeln waren. In der Mitte stand ein kleines Lebensbäumchen, um das wir uns setzten und durch die Blume miteinander sprachen, ich weiß nicht was, aber Worte, die tief in den Gründen meiner Seele ruhen wie eingesenkte Samen, und ihre Frucht ist Liebe, die mich auch am Tage mit gespenstischem Magnetismus verfolgt.“
„Jaja, die Frauen... Na, was wollen wir nun für Musik hören? White bird in a golden cage?“ Und in jener Nacht betranken sie sich, und voller Vergessen taumelte Piet ins Bett, neben die Schlafende.
Am folgenden Morgen fuhr Madelaine nach Oldenburg, und Piet blieb in Norden. Er ging den Mittag über in der Stadt spazieren, kaufte sich ein paar Bücher im Antiquariat, Rilkes „Malte“ darunter, und kam am frühen Nachmittag wieder in seines Freundes Wohnung. Der empfing ihn mit einem vielsagenden Lächeln: „Post ist für dich gekommen.“ Piet nahm eine Postkarte in Empfang, schaute, von wem sie war, sie war von Marion Meister! Er bekam heftiges Herzklopfen, ging in sein Zimmer und betrachtete zuerst die Gestaltung der Karte; er traute sich noch nicht, den Text zu lesen. Es war eine selbstgefertigte Postkarte mit einem marmorierten bunten Motiv von weichen fließenden Formen. O die Künstlerin! dachte er, genauso weich und fließend, phantastisch gefärbt ist ihre Seele, ein einziger Traum, der nicht von dieser Welt ist. Dann drehte er die Karte um und besah sich die Schrift, steil nach links geneigt, eine Schrift von entwickelter Persönlichkeit, anders als die üblichen runden weiblichen Schriften, ein asketischer Zug lag in der Schrift, etwas Steilflammendes von der Art der Zypressen. Schließlich wagte er, den Text zu lesen:
„Lieber Piet! Danke für deinen Brief. Aber du redest in Wahrheit gar nicht mit mir, dazu kennst du mich zuwenig. Du redest mit einem Bild, das du dir von mir gemacht hast. Ich aber bin nicht deine Fee. Viele Grüße, Marion.“
Er bebte! Er hielt es in dem Zimmer nicht mehr aus, er ging hinaus und streifte, die Karte in der Jackentasche, durch die Stadt, durch die Wiesen vor der Stadt, bis die Sonne rot ward, der Himmel bläulichviolett, die Wolken purpurgolden, alles in Feuer und Flamme zu stehen schien, wie seine Seele. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Seine Fee - sie sei nicht seine Fee - die lebendige Erinnerung - nur ein Bild - seine hoffnungslose Hoffnung zugrundegerichtet - und dennoch so schön - voller Phantasie - und sich ihm entziehend - so rein und erhaben über alles Verlangen - und unerreichbar - das ist zu schwer - das kann ich nicht mehr tragen - es zerreißt mich - ich greife nach den Sternen und falle ins Bodenlose - ich sehne mich nach dem weichesten Mondschein - ich kann nicht von der Luft leben - ich kann nicht eine Fee lieben - die doch keine sein will - wohin woll ich mich wenden? wie soll ich leben? wie soll ichs ertragen? wo ist Hilfe, wo eine Quelle der Kraft, wo ein Stern der Hoffnung, wo ein Licht des Lebens, wo eine belebende Liebe, die das Leben schön und golden macht?
„Weg du Traum, so gold du bist!
Hier auch Lieb und Leben ist!“
sagte er sich verzweifelt mit einem Dichterwort. Er warf all seine Gedanken auf Madelaine, er hielt es nicht mehr aus zu warten, bis sie wiederkäme, er eilte plötzlich von Hoffnung beflügelt wieder zu der Wohnung und da - saß Madelaine im Zimmer, zurück von ihrem Tagesausflug nach Oldenburg, mit einem so entzückend süßen Lächeln, so lebendig! so voller kindlicher Schönheit! so naiv und rein! so nah und real! so von Liebe erfüllt! so liebenswert!
Er liebte sie an jenem Abend mit der ganzen Kraft eines aus der Verzweiflung Aufgetauchten, mit der ganzen Lebensbegier eines Mannes, der schon vor dem Standgericht gestanden hatte, vor dem Exekutionskommando, dann aber begnadigt worden war, und da trat das Leben zu ihm, das Licht, die Hoffnung, die Liebe, und Madelaine mit einem Plan: Sie wollte mit ihm eine Reise unternehmen, in den Süden, nach Fontaine Bleau. Und in freudiger Aufbruchsstimmung packte Piet seine Tasche, verabschiedete sich von Andreas am Morgen, und zusammen fuhren die Beiden in einer Erneuerung ihrer Liebesbeziehung nach Frankreich. Sie sollten sich in diesem Land des Genusses ein Jahr lang aufhalten, einen Sommer davon in der Einsamkeit der Pyrenäen mit einem hundertjährigen baskischen Hirten. Dort erfuhr Piet, daß der Namenstag Madelaines sein Geburtstag war, dort suchte er, seinem Schutzengel zu begegnen, dort las er das „Marienleben“ Rainer Maria Rilkes. Sie waren gebettet in zärtliche Liebe und Schönheit des Lebens. Und er träumte nicht von jener, von der er zuviel geträumt.
SECHSTES KAPITEL
„Und wie konnte man zwei zugleich lieben? Mit zwei verschiedenen Lieben etwa? Das war doch interessant... Der arme Idiot! Was sollte nun aus ihm werden?“ las Piet in dem Romane Dostojewskis, und das Herz ward ihm berührt. Da war er ja wieder, der Gedanke an... und es war ja auch kein Wunder, hatte er doch in der Nacht von ihr geträumt, wie schon mehrere Male in diesem Frühling. Er hatte sie in ihrer Wohnung besucht, im Traum, und sie hatte auf ihren Freund gewiesen, den er deutlich vor sich sah: kurzgeschorene braune Haare, einen Dreitagebart im kantigen Gesicht. Aber aus ihrem Gesicht hatte er Liebe gelesen, weiche, mondhafte Liebe. Und als er erwachte, kam Madelaine zu ihm.
Die Wohngemeinschaft war aufgelöst worden vom Vermieter. Piet hatte ein kleines Zimmer bei einem vierzigjährigen Studenten gefunden, Madelaine war zu ihrer Mutter gezogen, die ebenfalls in Oldenburg wohnte. Nun kam sie bei ihm vorbei, mit Cornelia, sie wollten im Garten hinter dem Hause arbeiten. Madelaine mußte aber zuerst noch ein wenig studieren, setzte sich in Piets Zimmer, er ging mit Cornelia in den Garten. Er hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt mit Gläsern, die von außen undurchdringlich waren, denn er fürchtete, an seinen Augen könnte etwas erkannt werden, ein scheuer Blick könnte ihn verraten, ein zerstreutes Schauen. „Ach wie gut, daß niemand weiß...“ murmelte er die Zauberworte des Märchens, als er im Garten das Unkraut jätete. Cornelias munteres Schwatzen lenkte ihn ab.
Als Cornelia einkaufen fuhr zu einem Obstessen, trat der Vermieter zu Piet. Der Mann hatte langes dünnes, etwas schmieriges schwarzes Haar, einen vollen schwarzen Bart und dunkelbraune Augen, aus denen es oft schräg blitzte. Sein Name war Detlef. Er grinste Piet an: „Was willst du mit den Weibern? Siehst du nicht, wie sie dich zum Narren halten? Sie lenken dich vom höheren Streben ab. Beschäftige dich mit der okkulten Philosophie, das ist die einzige Möglichkeit, aus Scheiße Gold zu machen. Diese Welt der Sinne ist doch nichts als Maya, Blendwerk, Gaukelspiel, du bist aber ganz und gar darin gefangen. Du mußt den Schleier der Maya durchschauen und ins Wesen der Welt schauen.“
Der Mann war unheimlich, dennoch nährte sein Wort die Skrupel, die Piet in der Seele gärten. Er wollte gerade erwidern, als Cornelia wiederkam mit einer großen Tasche voll frischen Obstes. Madelaine kam aus dem Zimmer, der Vermieter ging wieder in seine dunkle Stube, die Frauen aber saßen mit Piet im Frühlingsgras, in der warmen Sonne, an einem weißen Tuch, auf dem die schönsten Früchte lagen. Sie speisten die herrlichen Dinge mit großem Genuß. Piet beobachtete Madelaine, wie sie den Kopf zurücklehnte, die langen Haare ihr wallend hinunterfielen, sie den Mund mit den schönen Zähnen lachend aufsperrte und sich eine Traube mit Weinbeeren in den Mund hing. Wenn das Maya war, dann Lob der Maya, das war schon pures Gold, der Dreck war mit dem verdreckten Detlef in die Wohnung zurückgekehrt.
Er hatte die Träume wieder vergessen. Dennoch brauchte nur irgendwo ein mehrdeutiger Satz in einem literarischen Werk aufzutauchen, eine geheimnisvolle Andeutung, eine ideale Gestalt, von einem Traum die Rede zu sein oder ähnliches, schon war der Verlorene wieder verunsichert. Er las in jener Zeit den „Idioten“, und die Szene, da der arme Fürst Myschkin zwischen Aglaja Iwanowna und Natasja Filippowna stand, sich aus Mitleid mit der Unglücklichen sich der hinreißenden Schönheit zuwandte und für immer die Liebe der schönen Aglaja verlor, empfand er als eine der tragischsten Situationen der Weltliteratur. „Aglaja, Freundin meiner Gefühle“, fiel ihm eine Zeile Rilkes ein. Natürlich, Aglaja hatte eine spitze Zunge und viel Spott, aber sie hatte eine Art von Licht und Reinheit um sich, das man dem Idioten sein Glück mit ihr wünschte. Aber da war auch Natasja Filippowna, vom ersten Anblick bezaubernd schön, verletzt in ihrer Mädchenblüte, eine Seele zum Erbarmen. Und Lew Nikolajewitsch liebte sie beide. Nein, vielleicht liebte er auch keine von beiden. Er war jedenfalls Schuld an allem Unglück, ja, er war schuldig!
Und dennoch: war nicht der Fürst Myschkin eine reine Seele? War er nicht die Verkörperung der Tugend, die selbst in lasterhafter Gesellschaft Bestand hat? Ja, der Fürst Myschkin war voller Liebe, Liebe zu der Spötterin, in der er das Kind erkannte, Liebe zur verrufenen Halbweltdame, in welcher er die Leidende sah, voller Liebe, manchmal zorniger Liebe, zu dem Schmeichler und zu dem Lügner, zu dem Verrückten und zum Erbschleicher, voller Liebe zu alten Schrulligen und zum Feigling von General. Er war voller Begeisterung für das Schöne, das wahre Schöne, das in den Seelen liegt, angetan mit einem Zug von Leiden auf der armen russischen Erde, und meinte, die Schönheit würde die Welt erlösen - und welche Schönheit in dem Bild vom entstellten, von unsagbaren Todesleiden entstellten Christus im Grabe!
Piet sah den Fürst Myschkin mit der reinen Seele eines hellsichtigen Kindes, mit himmelblauen Augen vor sich wandeln, von allen verlacht, aber unbeirrt gutmütig, von allen verspottet, aber alle liebend... Und dieser Schatten des russischen Christus ging vor Piet, für einen Augenblick seine eingeborene Sehnsucht nach Gott befriedigend, bis auch dieser Schatten schließlich in dem ungeheuern Lichte verschwand... bis dahin aber war der Fürst ein Werstpfahl auf dem Wege zu Christus.
Dennoch war der Idiot nicht stark genug, da er Mensch war und nichts als solcher, Piet vor den Geistern zu bewahren. Er hatte die orakelhaften Verse Marina Zwetajewas gelesen. Da war Liebe zur Ferne, Liebe zum Geist, Liebe zur Reinheit. Was scherte sie die Ehe des Angebeteten, was scherte sie, daß ihre Liebe nicht erwidert wurde, liebte sie doch in die Ferne, liebte sie doch die Idee, einen Heroen, einen Theseus, einen Ritter Roland, einen Vogelbeerbaum. Und Piet ergründete die Seele der rätselhaften Dichterin und berauschte sich an ihrem Namen: „Marina bin ich!“
Als er eines frühen Abends spazieren ging, kam er zu einem kleinen stillen Teich, auf welchem Seerosen schwammen. Der Teich war umstanden von einem Erlengehölz. Er setzte sich an den Teich und las die Verse Marinas, wie einen Liebesbrief las er sie, es war ihm, als spräche sie unmittelbar zu ihm, als wüßte sie von den Geheimnissen seiner Seele, als ratschlüge sie ihm, und ihr Rat war ein Maskenspiel mit doppeltem Boden, Zaubertinte, freie Gedanken. Und wenn sie sang: „Ich liebe dich!“ dann galt das ihm, denn sie waren sich von der Seele her verwandt, beide hatten das Erbteil Melancholie, beide glühten für die reine Liebe. Was machte es, daß sie tot war? Lieben Tote nicht mehr? Sind sie nicht Geister einer unsichtbaren Welt geworden? Ist sie nicht bei den Heiligen, bei den Dichtern in Elysium, in den Zwischenwelten der Anthroposophen?
Und war es nun, daß seine erhitzte, überreizte Phantasie aus dem Abgrund seiner Seele sich eine Halluzination heraufbeschwor, oder daß eine Dienerin des Todes ihm erschien - er sah sie, Marina! Sie stand in einem hellvioletten langen Gewand, ein hellblaues Schultertuch umgeworfen, mit langen dunkelblonden Locken, in denen ein wunderbarer Glanz aufschimmerte, am anderen Ufer; sie war aus Licht, sie erschien in der Aura der Geisterwelt. Und Piet befand sich mit einemmal in einem Geisterreich, da Liebe vom Tod nicht mehr überwältigt wurde, da Geistesverwandte über den Jordan hinweg sich die Hände reichen können, da Sympathie der Seele die Grenzen der Materie überwand, da der materielle Mensch hellsichtig geworden war und eine ideale Heilige aus dem Pantheon der Poesie anbetete - eine Dämonin wahrscheinlich.
Das Bild verschwand wieder, das bunte Licht verfloß, entschwand in die unsichtbare Welt, aus der es gekommen war. Piet war verzaubert, er wankte durch das Erlengehölz, nur halb zuhause in der Realität, denn eine surreale Wirklichkeit hatte ihn begnadet. Wem aber sollte er solches sagen? Das Übersinnliche lag der sinnlichen Madelaine ganz fern. Und auch der katholischen Cornelia konnte er wohl nichts davon sagen, sie war nicht ernst und tief genug; und schließlich war es auch mit einem Geheimnis verbunden, daß er hüten mußte wie Rumpelstilzchen das Geheimnis seines Namens: denn Marina - das war Marion.
Und weiter stritten die unsichtbaren Mächte um Piet Buß. Während das Licht ihn auf die Seite der Wahrheit ziehen wollte, wollte die Finsternis ihn ziehen in die Halbwelt aus Lug und Schein, in den Irrgarten zum Tode. Die Finsternis, da sie seine Sehnsucht nach dem Lichten, Reinen kannte, verstellte sich als ein Engel des Lichts und legte ihm den Gedanken der Veredelung des Geistes vor: werde rein und trete ein in die reine Welt des Geistes, da du dem Weltgeist begegnest. Aber dieser Engel des Satan war noch immer der größeren Gewalt des Allmächtigen unterworfen, und so wandte die Allmacht das Böse zum Guten, widerwillig mußte Mephistopheles den Faust zu seiner Stunde der Heimkehr führen, der Heimkehr zu den Marien und seligen Knaben und Seraphen und der Ewigen Liebe...
„Erkenntnis übersinnlicher Welten“ war ein Thema, das Piet brennend interessierte, und so las er eine anthroposophische Schrift eines okkulten Doktoren über diese Frage. Es könnten Zustände eintreten bei einem, der in die übersinnliche Welt eintritt, die von prophanen Ärzten als Schizophrenie gedeutet würden; dann sei der Hellsichtige aber wahrscheinlich seinem höheren Ich begegnet.
Vom gleichen Autor fand der irrend Suchende eine andere Schrift über die ägyptischen Mysterien, für die er sich ja auch schon interessiert hatte. Vielleicht war hier das Geheimnis des Todes zu entschlüsseln. Es war doch der Tod noch ein Rätsel, eine gewaltige dunkle Macht, die überwunden sein wollte. Der Gedanke, daß ein hundeköpfiger Götze durch die Totenwelt führe, war ja sicher nicht wörtlich zu nehmen? Die Geheimnisse des Lebens, das den Tod überwindet, lagen in der ewigen Wiederkehr oder der Reinkarnation? Nur daß jenes Buch die heidnischen Mysterien mit einem gnostischen Christentum verglichen, das selbst gewiß nichts anderes als heidnisch war.
Hierüber führte der Weg zu einem dritten Buch jenes okkulten Philosophen, welcher die Geschichte Christi neugnostisch deutete. Wenn das nicht Offenbarungen einer Geistesmacht waren, dann wäre es Schwachsinn gewesen: Zwei Jesusknaben, in dem einen die Wesenheit des Buddha mit seiner Güte, in dem andern die Wesenheit des Zarathustra mit der Weisheit. Vertauschung der beiden Knaben im Alter von zwölf Jahren durch die Eltern, die auf beiden Seiten Josef und Maria hießen. Zusammenfluß der beiden Persönlichkeiten in einen einzigen Jesusknaben, Tod des andern Knaben. Gang dieses „Jesus“ an den Jordan, mitten zwischen dem Dämon des Fleisches und dem Dämon des Geistes hindurch, als der „Christus-Sonnengeist“ sich in den „Jesus“ ergießt, diesen aber im Garten Gethsemane als nackter Jüngling verläßt, so daß der Christus nicht gekreuzigt wurde. Dennoch ergoß sich die Sonnenkraft in die Erdaura, diese zu veredeln, daß sie wieder zur Sonne zurückkehre, aus deren Schoß sie sich dereinst gelöst.
War das die Wahrheit über Christus?
Es war Ostern. Madelaine, Piet, Cornelia und Ulrike fuhren aufs Land zu einer befreundeten Wohngemeinschaft, die auf einem Bauernhof lebte. Am Ostersamstag saßen sie abends um ein großes Osterfeuer, trommelten, tranken, rauchten schwatzten. Piet hatte aber ernstere Gedanken. Er hatte ein kleines mittelalterliches Schauspiel gedichtet von den drei Marien, die zum Grabe des Christus kommen. Es waren Gespräche der drei Marien über den Tod. Sie überlegten, wie nun, da der Christus tot sei, der Tod zu überwinden sei. Sie hatten keine Antwort, aber ihre Sehnsucht blieb.
Piet, der schüchtern war, hatte die Bewohner des Bauernhauses noch nicht kennen gelernt, da horchte er plötzlich auf, als eine der Bewohnerinnen „Marion“ gerufen ward. Sie, sie war also da! Es war eine Frau ihres Namens zugegen, ihr Name war anwesend. Er horchte auf jede Äußerung jenes Namens, besah sich die Züge jenes Namens genau, sie waren mild und lind-fraulich, sanft und schön. Die Haare waren braun und lang, wie die Haare der drei Marien braun gewesen sein mußten. Ihre Augen spiegelten den Widerschein des Osterfeuers. Madelaine und Cornelia lachten und sprachen über den Fruchtbarkeitskult. Piet aber dachte an den Tod, an Marion, an die drei Marien, an den toten Christus - bis er, vom vielen Wein müde, neben dem Feuer einschlief.
Am Ostersonntag ging er den Vormittag über in die Scheune, er hatte Sehnsucht, allein zu sein und über den toten Christus nachzudenken. Er hatte Sehnsucht, ein wenig Stille um sich und in sich zu finden, er wollte Poesie genießen und Schönheit des Wortes. Er hatte das „Geistliche Jahr“ der Droste-Hülshoff in seiner Hand, setzte sich auf einen Strohballen und las. Die Schwermut in den Versen bewegte ihn tief, das ernste Leiden, die tiefen Gedanken, wenn er auch nicht alles verstand, so drangen die Lieder doch tief in seine Seele. Er las das Lied zum Ostersonntag:
„O jauchze, Welt, du hast ihn wieder,
Sein Himmel hielt ihn nicht zurück!
O jauchzet, jauchzet, singet Lieder!
Was dunkelst du, mein sel’ger Blick?“
Ihn berührten Worte wie das vom Geheimnis voller Schmerz, das vom Freisein vom Tode, das vom Zerrissensein des Leibes, das von den Todesqualen, das von der Seligkeit in Ewigkeit und der ewigen Vollkommenheit.
„Und sind nicht aller Menschen Seelen
Vor ihm nur eines Mundes Hauch
Und ganz befleckt von Schmach und Fehlen,
Wie ein getrübter dunkler Rauch?“
Er empfand in seiner Seele mit ihrem Makel von Wollust und Lüge, Wahn und Untreue, daß die Worte von Schmach, Fehlen, Sünde trafen. Aber:
„Ich soll mich freun an diesem Tage:
Ich freue mich, mein Jesu Christ!
Und wenn im Aug’ ich Tränen trage,
Du weißt doch, daß es Freude ist.“
Woher hatte sie denn diese Freude, diese Freude selbst unter Tränen? Was war das für ein Glaube, der selbst den Schmerz so besingt, daß er Lob ist? Was war das für eine befreite reine Seele, die sich doch zuvor des Moders der Sünde angeklagt hatte?
Voller Gedanken ging er zum Mittagessen. Am Nachmittag nahm ihn Madelaine an der Hand, lachte ihn an wie ein österliches Lachen des Lebens und zog ihn zu den andern Freunden, die alle zusammen einen Osterspaziergang durch die Natur machen wollten. Piet lauschte dem muntern Schwatzen und Lachen der Frauen, dem hochmütigen Reden der Männer, aber war selbst still. Leise löste er seine Hand aus der kleinen Hand seiner lieben Freundin und verlangsamte seinen Schritt. Die andern gingen unbeirrt weiter, bemerkten nicht, daß er ein wenig zurückblieb. Er redete mit sich selbst.
„So ein Glaube, wie die Droste ihn hat, der ist groß! So einen Glauben zu haben, das muß stark machen, das muß die Seele verschönen und ihr ein Gefühl von Freiheit geben. So eine Freude, daß Christus lebe - lebt er? - daß gibt Hoffnung angesichts des Todes. Aber mir, mir fehlt denn doch dieser Glaube. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Aber wie gerne würd ichs doch glauben. Wie gerne würd ich doch an Gott glauben! Das müßte einem doch Halt geben in den schwarzen Wirbelstürmen des Lebens!“
Und da wagte er ein Gebet. „O Gott, wenn es dich gibt, dann schenk mir einen Glauben, wie die Annette ihn hatte!“ Es war so schön in der Natur, so eine Herrlichkeit lag auf der Schöpfung, ein großer milder Glanz lag auf den österlichen Blättern, ein seliger Frieden atmete durch all das Buchen- und Lindengrün. Er meinte, Gott habe ihn angerührt und ihm einen Augenblick der Seligkeit geschenkt. Froh beflügelte er seine Schritte, holte die andern ein, ging an der Seite Madelaines, nahm wieder ihre Hand und sah ihr zärtlich in die Augen. Wie lieb hatte er seine kleine Freundin!
Im Spätsommer fuhren sie nach Polen. Sie fuhren per Anhalter nach Berlin, wo sie in einen Zug einstiegen, der nach Krakau fuhr. Im Zug drängelten sich Frauen und junge Burschen, alte Großmütter saßen dichtgedrängt in den Abteilen, einige von ihnen mit Hühnern auf dem Schoß, ein lautes Lärmen und Treiben. Draußen ging die Sonne unter, ein flammendes Rot überzog den Himmel, der über einer weiten sattgrünen Landschaft lag. In Krakau verbrachten sie die Nacht wachend im Bahnhofssaal, das heißt, Piet wachte, Madelaine schlief auf einer weichen Decke ein zwei Stunden. Dann fuhren sie am Mittag weiter mit dem Bus, der ebenfalls vollgestopft war bis obenhin. Im hinteren Teil des Busses drängelten sich wilde Jugendliche mit Gitarren und dreckigen Reisetaschen, die Mädchen leichtbekleidet, mit Bierflaschen bewaffnet, laut singend.
Schließlich kamen sie am Fuße eines weiten Hügels an, wo sich viele Jugendliche aus verschiedenen Ländern sammelten, die alle zu dem Zeltlager wollten. Es war eine Veranstaltung von internationalen Umweltschützern. In jenen grünen Hügeln an dem Flusse San sollte eine Industrieanlage gebaut werden, aus Protest dagegen fand dieses Camp statt. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen marschierten einen staubigen, steinigen Weg den Hügel hinan. Sie waren alle sehr fröhlich und lärmend. Piet trug den großen Rucksack, das Zelt und die Decken von Madelaine, denn sie brauchte immer viele Decken, vielleicht, weil sie zu früh geboren war und die Wärme des Mutterschoßes im neunten Monat nun die Nächte nachholen mußte, dieser Gedanke jedenfalls erfüllte Piet mit fast väterlicher Zärtlichkeit, weshalb er ihn gerne dachte.
Da sie beide schweres Gewicht trugen und ansonsten auch nicht vom dynamischen Geschlecht waren, blieben sie hinter den Andern zurück, die feiernd voranstürmten zum Zeltplatz. Bald hatten sie die bunte Meute ganz aus den Augen verloren, hörten sie dann auch nicht mehr. Als sie zu einer Weggabelung kamen, wußten sie nicht, welcher der Wege zum Camp führte, entschieden sich für einen, völlig willkürlich, und gingen und gingen. Es dunkelte der Abend herein. Nach einer Wanderung von etwa einer Stunde den schmalen Wanderweg entlang, kamen sie zu einer großen, sich weithin ausdehnenden Wiese. Die Abenddämmerung hüllte das tiefe gesunde Grün in einen blaugrauen Schleier ein, aus dem wie Mädchenaugen die bunten Blumen hervorblickten. Wunderbare Gerüche zogen wie Bienenschwärme durch die Landschaft. Im Hintergrund ruhten die tiefen Wälder, in denen noch Bären und Wölfe zuhause sein sollten. Ein einsamer Adler kreiste in der dunkelnden Luft.
Es kam ihnen ein kleiner Trupp von Wanderern entgegen, Jugendliche, die denselben Weg versucht hatten und nun berichteten, daß der Weg an einer Waldschlucht ende. Sie müssten also umkehren. Gemeinsam zogen sie nun alle den Weg, den sie gekommen waren, gingen wieder eine Stunde, wurden müde, fühlten sich erschöpft vom Gepäck, wurden durstig (das Wasser war ausgegangen) und hungrig. Aber da hörten sie aus der Ferne leise Stimmen und etwas wie Lagerfeuerfunken waren zu sehen. Schließlich kamen sie um Mitternacht am Lagerplatz an. Auf einer feuchten Wiese, neben dem Brennesselfeld stellten sie ihr kleines Zelt auf. Nebenan hatten die Leute vom Nachbarzelt ein kleines Lagerfeuer gemacht und grillten in der Glut Kartoffeln. Davon bekamen sie etwas ab und einen Schluck billigen Weines.
Sie schauten sich noch auf dem Hauptplatz um, da wo das große Lagerfeuer brannte. Um das Feuer saßen, gehüllt in Wolldecken, Mädchen und Männer, einige spielten australische Blasinstrumente, anderen trommelten, wieder andere tanzten auf der Wiese, manche lagen schmusend ineinander verknäult und küssten sich. Ermattet von der Anreise zogen sich Piet und Madelaine ins Zelt zurück und erholten sich im Schlaf.
Als die Sonne aufging, lachte die grüne Natur und der silberblaue Fluß, in dem sich Piet wusch. Es gab einen Kioskstand, an dem man Nahrungsmittel und Getränke kaufen konnte, so kam ein einfaches Frühstück zustande. Als Piet dann spazieren ging, das Lager zu erkunden, bewegte er sich neugierig und doch einsam durch die Menschenmenge, die sich da tummelte, ging einen Weg, der sich in die Einsamkeit verlor, er wollte aber den Umfang des Lagers ergründen. Plötzlich sprangen vom Boden einige Kreaturen auf, nackte Menschen, ganz mit dem Uferschlamm beschmiert, schamlose Erdmenschen, die sein Empfinden beleidigten. Lachend umtanzten sie ihn, die Frauen schüttelten ihre Brüste, die Männer ihre Genitalien, und lachend sprangen sie davon, ließen Piet erschrocken und entsetzt zurück. Sodom und Gomorrha!
Da erinnerte er sich seines Traumes der zurückliegenden Nacht. Er war von den wilden Trommeln in den Schlaf begleitet worden und vom Lustgeschreie der Tanzenden um die Feuer. Mag sein, daß das seine Phantasie beschäftigt hatte. Im Traume erinnerte er sich des Buches über den indischen Mythos. Plötzlich war ihm Schiva, der Gott des Tanzes erschienen in einem Götzenbild, daß aus einer phallusartigen Steinsäule bestand. Diese stand in der ganzen dämonischen Macht zügelloser Wollust vor dem Träumenden, der steinerne Phallus öffnete sich und ein Dämon trat heraus, ein Schatten in einem blitzartigen Licht. Er war über und über behängt mit Menschengebeinen, um den Hals trug er eine Kette, an der ein Totenschädel hing, in seinen Haaren wanden sich ekelhafte Schlangen, er lachte ein wildes Lachen und fing dann an zu tanzen. Schließlich löste er sich, höhnisch lachend, in glühendem Nichts auf.
Piet verscheuchte die Erinnerung an den sinnlich-finsteren Traum, in dem er seine Augen wach und aufmerksam auf die Natur richtete. Die zarten silbernen Birken mit den lichtgrünen Schleiern von feinem Laub besänftigten seine Seele. Er ging noch einige Zeit spazieren, setzte sich dann irgendwo ins Gras und holte sich sein Buch aus der Tasche, ein Buch mit Gedichten Ben Jonsons. Die Rede von honour and virtue tat seiner Seele gut. Ihn erstaunte ein Gedicht des Poeten, den er für einen Erzheiden gehalten hatte, über den Namen der Virgin Mary.
Am Abend schlenderten Madelaine und Piet über das Zeltlager, da waren sie nicht wenig überrascht, daß sie einen Bekannten aus Oldenburg trafen, von dem sie nicht gewußt hatten, daß er auch hier war. Dieser junge Mann, im übrigen ausgesprochen schmutzig, war ein Anhänger des Hinduismus und Buddhismus, beides. Er saß mit einem jungen Inder im Gras und spielte Gitarre. Madelaine und Piet setzten sich dazu und tranken mit ihnen Wein. Sie unterhielten sich auf englisch, denn der Inder, Vish mit Namen, sprach ansonsten keine europäische Sprache, und indisch konnte ja keiner von ihnen sprechen.
„He, young guy, what’s your name?“
„My name ist Vish.“
„Vish, nach Vischnu.“
„Bist du Hinduist?“
„Ich glaube an Krishna, ja.“
Madelaine fragte, unvermittelt: „Glaubst du, daß es Drachen gibt?“
Vish lächelte: „Ach, wenn man nicht glauben kann, daß man aus Gras Milch melken kann, dann kann man auch nicht glauben, daß es Drachen gibt.“ Für Piet war es klar, es hatte Drachen gegeben, der Mythos und selbst die Bibel sprachen davon. Aber Madelaine, unreligiös, zweifelte daran. Daß Krishna selbst ein Engel des Drachen war, wußten aber keiner der Versammelten. Für Piet schien es, als sei Krishna eine Art indischer Christus.
Am folgenden Tag, am Nachmittag zog sich Piet ins Zelt zurück, nahm seine Bibel hervor und begann zu lesen. Die Beschäftigung mit dem anthroposophischen Christusverständnis hatte ihn neugierig gemacht, nach dem „Fünften Evangelium“ die vier Evangelien der Bibel zu lesen. Er hatte seine alte Bibel hervorgekramt, in die er schon lange nicht mehr geschaut hatte. Auch die geistlichen Lieder der Droste und die Reden des Fürsten Myschkin hatten ihn mehr und mehr neugierig gemacht. So hatte er sich vorgenommen, einmal im Neuen Testament zu lesen; darum hatte er die Bibel mit nach Polen genommen. Er schlug die Bibel auf und las weiter. Er war inzwischen im Lukas-Evangelium angekommen. Noch hatte ihn die Bibel nicht angesprochen, aber er hatte große Sympathie gewonnen für den Jesus der Bibel, wenn ihm auch sehr vieles völlig unverständlich war. Aber er war es ja gewohnt, Rätselhaftes zu lesen, dazu hatte er sich lang genug mit geheimnisvollen Poesien, heidnischen Orakeln und seltsamen Mythen beschäftigt, als daß ihn die Geheimnishaftigkeit des Neuen Testaments abschrecken könnte. Nein, er vermutete in diesem Buche eine hohe Weisheit, ein Geheimnis, etwas Göttliches, einen gewaltigen Mythos.
Nun las er: „Er aber sprach zu ihnen: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Seht, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und Macht über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch schaden. Doch darüber freut euch nicht, daß euch die Geister untertan sind. Freut euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind. Zu der Stunde freute sich Jesus im heiligen Geist und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater, so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater. Und niemand weiß, wer der Sohn ist, als nur der Vater, noch, wer der Vater ist, als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.“
Besonders gefiel ihm die Stelle von den Unmündigen. Auch an anderer Stelle hatte doch Jesus von Unmündigen, Säuglingen, Kindern gesprochen, aus deren Mund sich Gott ein Lob bereitet hat. Das stimmte so herrlich zu den Theorien seiner bewunderten Lehrer Hölderlin und Dostojewski, die auch das Lob der Kinder gesungen hatten, ja auch Goethe doch in seinem Werther. Es war etwas Herrliches mit den Kindern! Diese Reinheit und Unschuld in Kinderaugen - ach, wenn er doch ebenso rein wäre wie ein Kind, aber er war nicht so rein und unschuldig wie ein Kind.
Er las weiter, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter las er mit Erinnerungen an seine Kindheit, da ihm eine alte Frau einmal dies Gleichnis erzählt hatte. Gerade als er das Gleichnis zuende gelesen hatte, kam jener deutsche Buddhist herein, der hinduistische Schmutzfink. Er streckte seine wirren, ungewaschenen langen Locken durch den Zelteingang, sah Piet groß an, sah auf das Buch. Piet hob die Bibel, um ihm zu zeigen, was er lese, und wollte gerade sagen, daß er gern noch ungestört ein wenig weiterlesen würde, es sei sehr interessant, da sagte der Mann entschlossen und mit zynischem Ernst: „Don’t read the Book!“ und verschwand.
Piet ließ sich nicht beirren, dies Buch war ihm doch schon so lieb geworden, es standen so schöne Geschichten darin, von denen einige ihn an die Kindheit erinnerten, an den Religionsunterricht in der Schule. Außerdem war es ja das Buch des Geheimnisses, von orakelhafter Rätselhaftigkeit manchmal, voller einfältiger oder abgründiger Weisheit, schön geschrieben, einfach und tief, voller Mystik und Ahnungen von Gott. Und es war ein Buch über Christus. Wie kann man sich nur für Christus nicht interessieren, der doch so groß und rein gewesen war? Man mußte, mußte sich einfach einmal in seinem Leben ernsthaft mit Christus beschäftigen! Wer das nicht tat, war ein Narr!
Und so las er weiter: „Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Martha, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.
Mit Gedanken an diesen Abschnitt ging Piet spazieren. Er setzte sich in der einsam-stillen Natur (nur Vögel sangen, aber schön) an den Fluß, lauschte seinem weichen Rauschen und ließ den Namen Maria in seinem Geiste kreisen. Wie schön war es doch von Maria, sich nicht um das Prophane zu kümmern, um das Geschäft des Tages, um die Genüsse der Sinne, sondern still zu lauschen, zu Füßen eines Gottes zu sitzen und Weisheit aufzusaugen! O Maria, Maria, wie gut hast du gehandelt, wie weise, wie heilig! Und Martha, wie traurig stand es um sie, daß sie nichts als das Tagesgeschäft der Dinge kannte und von keinem göttlichen Geheimnis nichts wissen wollte. Martha bekam sicher früh graue Haare, aber Maria, Maria, die blieb immer schön wie eine Rose!
Er erhob sich von seinem Uferplatz und ging weiter in den Wald hinein. Er liebte diese tiefe Stille des Waldes, die von dem süßen Sang der Vögel vergoldet wurde und vom leisen Plätschern des an dieser Stelle flach über Kiesel hinrieselnden Flusses versilbert. An einer Stelle setzte er sich, im Rücken den dichten Laubwald, an den Fluß und begann zu träumen. Von der Maria aus Bethanien kam er in seinen Träumen zu Marion Meister, welche wie ein Geist seinen Geist bewegte. Er stellte sich vor, daß sie auf der anderen Seite des Flusses erscheine, wie eine Fee. Sie erschien verherrlicht an Schönheit, von einer lichten Reinheit, wie eine Rose, wie eine Märchenblume. Sie war nun in weiter Ferne, und er hätte sie gerne in Gedanken beschworen. Vielleicht hatten Gedanken ja Macht und konnten erreichen, daß sie in diesem Augenblick auch an ihn dachte. Und er nahm sein Notizbuch aus der Hosentasche und einen Schreiber und dichtete eine Beschwörung an das ferne Ideal:
„Beschwören will ich dich mit der Beschwörung,
Die in der Macht des liebenden Poeten
Und von der Liebe kündenden Propheten
Seit alten Zeiten ruht. Zu deiner Ehrung
Und deines Anmutruhmes holder Mehrung
Will ich dich singen wie die Winde wehten
Um die Marien, die zu Christus beten:
Vergib mir alle lüsterne Betörung!
Erscheine mir, du reine Fee der Feeen,
Laß mich der Augen Blaue Blumen sehen,
Beweis daß du an deinen Dichter denkest!
O senke du in die versuchten Zeiten
Deine jungfräulichen Barmherzigkeiten,
Daß du mir also Gottes Liebe schenkest!“
Und nachdem er dieses Gedicht in sein Notizbuch geschrieben hatte, vergaß er solche Gedanken wieder, wandte sich wieder dem Zeltplatz zu, tauchte in den Trubel, genoß die Fülle des Menschenlebens, freute sich an den schönen Augen Madelaines, die sich zärtlich an ihn hing, suchte ihre kleine weiche weiße Hand zu fassen und zu streichen, wie es ein Vater seiner Tochter tut, und hörte ihr dann zu, wie sie trommelte mit vollkommenem Rhythmusgefühl. Dann zog sie aber mit einer Gruppe wilder Heiden los, um zu einem Trommel-Workshop zu gehen, während Piet beim Zelt blieb und der Gitarrenspielerin vom Nachbarzelte zuhörte.
Da trat ein junges Mädchen zu ihm vor das Zelt, eine Zigeunerin mit langen schwarzen Haaren, einem leichten roten Bikini auf der braunen Haut und einer Schärpe aus weißer Seide. Und sie sprach ihn an:
„Was gibst du mir, wenn ich dir ein Lied vorsinge?“ Er machte einen ironischen Vorschlag, den sie ernst nahm, und darum begann sie, das Liedchen vorzusingen:
„Trauriger Pierrot,
Wo ist Colombine?
War doch eine so
Süße Honigbiene!
Zauberer kam einst,
Daß er Liebchen stehle!
Du Pierrot nun weinst
Um die schöne Seele!
Doch zu guter Stund
Wirst du sie befreien!
Sie auf ihren Mund
Küssen und sie freien!
Werdet in dem Saal
Wahrer Liebe reigen,
Tänze ohne Zahl
Sieben Himmeln zeigen!“
Piet übersetzte das Lied aus dem Englischen und sang es Madelaine oftmals vor, die es lernte und mit ihrer süßen naiven Stimme sang, was im Herzen ihres Freundes eine traurige Wehmut und einen süßen Schmerz erregte. Möge sie doch seine Colombine sein! War sie doch seine Wandergefährtin! War sie es doch, mit der der arme Poet sein Wanderleben führte! Trug sie doch ein rotes Höschen und ein grünes Hemdchen so närrisch bunt und schön! Hatte sie doch so eine Taubengestalt, war sie doch sein girrendes gurrendes Täubchen, so zart, und so weiß im Gesicht, wenn nicht hübsche Röte auf ihren weichen Wangen blühte. War sie nicht ein Geschenk Gottes an ihn? Konnte man sich nicht an Gott erfreuen, indem man sich an seinem hübschen Liebchen erfreute? Gott war doch die Liebe!?
SIEBENTES KAPITEL
Sieben Tage im September verbrachte Piet Buß bei seiner Großmutter Paula Müller im ostfriesischen Marienhafe. Sie saßen zusammen in der kleinen Küche und aßen Abendbrot. Die Großmutter tat sich Diätmarmelade auf das Weißbrot, legte eine Scheibe Schwarzbrot darauf und schnitt es sich zurecht in kleine Happen. Dann schenkte sie schwarzen Tee in die Tassen, in denen schon Kandisstücke lagen und ließ ein Wölkchen Sahne hinein. Nach dem Abendbrot bereitete sie sich ihre Dosis Medizin. Sie sprachen über der Großmutter Kindheit, der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die sie auf der Nordseeinsel Baltrum verbracht hatte. Dazu holte sie eine Chronik Baltrums aus ihrem Wohnzimmerschrank und zeigte Piet die alten Zeichnungen und Fotos aus der alten Zeit.
Piet nahm jenes Buch mit in das Gästezimmer und blätterte darin. In der alten Zeit war Baltrum noch nicht vollgebaut mit großen Hotels, sondern einfache kleine Fischerhäuschen standen auf der Insel, im West- und im Ostdorf. Er erinnerte sich an seine eigene Kindheit, die er ebenfalls zu weiten Strecken auf der kleinen Insel verbracht hatte, die man „das Dornröschen der Nordsee“ nannte, weil es so verschlafen war und weil es dort so viele Heckenrosen gab. Er erinnerte sich an die Teestube der Großmutter, an deren Kamin Kacheln angebracht waren mit biblischen Motiven: Hirtinnen, Könige, der Heiland...
Als sie am folgenden Nachmittag in der Wohnstube den Nachmittagstee einnahmen, sprach die Großmutter von dem Friedhof auf Baltrum, dessen Tor nun aufgegangen sei. Piet verstand nicht, was das in der Wirklichkeit des Tages zu bedeuten habe, aber was es im Geheimnis des Geistes bedeute, verstand er recht wohl: Sie hatte Ahnungen eines baldigen Todes... Dazu sprach sie von einer alten Schulfreundin, die in Dornum lebte (Dornum, Geburtsort Marions...) und die in langen Leiden dahinstarb, sie hätte erst kürzlich gesagt: „Nun mag ich auch bald nicht mehr. Von mir aus könnt es jetzt zuendegehn.“ Und auch Paula Müller war lebenssatt. Sie hatte zwei Weltkriege erlebt, die Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft, den Alkoholismus ihres tyrannischen Mannes, den Selbstmord ihrer ältesten Tochter, die Mühsal der täglichen Arbeit, der sie sich fleißig immer gestellt hatte. Sie hatte ihrem Mann den Tee ans Bett gebracht, als er Bürgermeister im Dritten Reich gewesen, und sie hatte ihn begraben, als er mit sechzig Jahren starb. Dreißig Jahre hatte sie als Witwe gelebt, viele Enkelkinder großwerden sehn, von denen sie Piet besonders liebgewonnen hatte, obwohl sie seine kommunistischen Anschauungen nie gemocht hatte: Pfui! hatte sie dazu gesagt.
Nun erhob sie sich aus ihrem Ohrensessel, der an der großen Fensterscheibe zu Garten und Straße stand, begab sich zu einem kleinen Schränkchen, wo sie ihre Bibel aufbewahrte, die sie zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatte, und holte ein kleines Traktat hervor, das sie vom Pastoren bekommen hatte: „Hier, Piet, magst du das wohl lesen?“ Es war ein Traktat mit dem Bilde eines Hirten und einer Schafherde, und auf der anderen Seite stand der Psalm 23 abgedruckt: „Der Herr ist mein Hirte...“ Piet las den Psalm und ward angerührt von dem Vers: „Und ob ich schon wandere durchs finstere Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir...“
Sie spielte das Dame-Brettspiel. Paula Müller bekam die weißen Steine, Piet die schwarzen. Im Laufe der Zeit gelang es der Großmutter, zur anderen Seite vorzudringen, wo ihr siegreicher weißer Stein von einem anderen Stein gekrönt wurde zur Dame. Sie sollte das Spiel gewinnen.
Am Abend, nach dem Abendbrot, schaltete sie das Radio ein. Es wurde über die Tomate berichtet, man heiße sie in Frankreich Paradiesäpfel. Für Piet war diese Tatsache mit einem bitteren Beigeschmack verbunden. Waren nicht Paradiesäpfel im besten Falle eine süße Sünde, eher noch etwas Bitteres, was einen abirren ließ vom Weg des Geistes? Der ganze Zwiespalt seiner Seele, der Zwiespalt zwischen Leib und Geist, Lust und Ideal, Welt und Traum, die Zerrissenheit zwischen der Liebe zur einen und der Liebe zur andern Frau tauchten in ihm auf. Er sah sehr unglücklich aus.
„Was ist mit dir?“ fragte ihn die Großmutter.
„Ach, laß, es ist besser, ich rede nicht darüber.“
„Wie du willst, mein Junge.“
Er war sich gewiß (wenn es auch nicht sicher war), daß seine Großmutter ihn zur Reinheit des Geistes geraten hätte, zu seinem Traum, aber er fürchtete, jene verlassen zu müssen, die er so zärtlich liebhatte. Darum schwieg er. Als die Großmutter schlafen ging, saß er allein im Wohnzimmer und las in den Klageliedern Jeremias. Das traf sein ganzes Elend und Unglück der Seele, den Jammer seines Herzens:
„Ich bin der Mann, der Elend sehen muß durch die Rute des Grimmes Gottes. Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht. Er hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag ... Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben ... Er hat mich mit Bitterkeit gesättigt und mit Wermut getränkt. Er hat mich auf Kiesel beißen lassen und drückte mich nieder in die Asche. Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen.“
Als er sich nach sieben Tagen von seiner Großmutter verabschiedete, sagte sie: „Mir ist so oft schwindelig, mit mir ists bald aus.“ Und dabei lächelte sie. Er nahm sie herzlichst in die Arme und drückte sie, küsste ihre zarten weichen Wangen und sagte: „Ich komme noch einmal wieder.“ Und sie sagte: „Wenn ich dann noch hier bin...“ Er hatte sie so unbeschreiblich lieb, so ohne jeden Zweifel, so über alle Maßen, daß ihm Tränen kamen bei dem Gedanken, sie zu verlieren. Und er hätte sie gerne gesegnet, aber er wußte nicht, wie man segnete.
Als Piet wieder in seiner Zimmerwohnung war, dachte er daran, wie seine Großmutter ihn einmal gefragte hatte: „Bist du einer von Jesus?“ und er damals Nein gesagt hatte. Wenn sie doch für ihn beten würde! Ach, hätte er sie nur gebeten, für ihn zu beten, daß seine Seele Frieden fände! Und er dachte an Paula Müllers himmelblaue lichte Augen, die so liebevoll auf ihn schauten und solchen Frieden ausstrahlten und solche Sanftmut und Güte.
Aber in der Nacht, da träumte er, daß ihr schwindelig würde, und er fürchtete um sie, er fürchtete sich selbst vor dem Tode, der schwarzen Ungewißheit, dem Abgrund, dem Nichts, der ewigen Nacht - und er fürchtete sich für sie, er fürchtete sich so sehr, daß er aus seinem Traum erwachte und ein Gebet sprach:
„Gott! O Gott, wenn es dich gibt, wenn du wirklich bist, dann hilf du Oma in dieser Stunde! Rette sie vor dem Tode! Ich wünsche mir so sehr von dir, daß du ihr Sterben in Schönheit vollendest!“ Und er setzte nach kurzem Nachdenken „Amen“ dazu. Aber seine Angst um sie schwand dennoch nicht, sie trieb ihn noch manchesmal zu hilflosen, fragenden Gebeten, die mehr einem Stammeln und Seufzen glichen als einem klaren Beten im Geiste. Aber auch das Stottern und Weinen, das Suchen und Ringen sieht und hört Gott im Himmel und bewegt alle Herzensregungen seiner sterblichen Menschen in seinem Herzen. Und, wer weiß und wer kennt den geheimnisvollen Ratschluß Gottes, vielleicht hatte Gott in seiner Weisheit gerade zu diesen Tagen und Nächten eine solche Angst um seine Großmutter der Seele Piets geschickt, auf daß er das Beten übe, das Flehen zu Gott. Denn Gott wollte ihn zu sich ziehen. Und wunderbare Gnade und Gerechtigkeit waltete über dem ewigen Schicksal Paula Müllers, und nichts würde Gott je geschehen lassen, was seiner heiligen Liebe widersprechen müsste.
Piet vergrub sich in seiner Wohnung. Vor der Glastür zum Balkon ging heftiger Novemberregen nieder, vom Sturm durch die Lüfte getrieben. In der Wohnung saß Piet im Dunkel, daß nur von einer Kerze erleuchtet wurde, auf dem Fußboden und versuchte, sich in Poesie zu versenken. Gedanken an seine Kindheit tauchten auf, Gedanken an die ersten Diebstähle, an die ersten Lügen, Gedanken an seine Jugend, Gedanken an Frauen, an Marion, an Madelaine, Gedanken über Liebe und Tod, alles orientierungslos, haltlos, fragend und suchend.
Am liebsten las er zu jener Zeit in der Bibel, denn irgendetwas zog ihn zu jenem Buch, irgendetwas gefiel ihn an diesen vollmächtigen Worten des heiligen Geistes. Er las im Johannes-Evangelium, wie Jesus der Samariterin am Brunnen begegnete. Was sollte das nun wieder heißen, er könnte ihr Wasser des Lebens geben, das ins ewige Leben quölle? Aber dann eine Szene, die wie ein Blitz in seine Seele einschlug, wie ein Feuersturm:
„Jesus spricht zu ihr: Geh hin, rufe deinen Mann und komm wieder her! Die Frau antwortete und sprach zu ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Du hast recht geantwortet: Ich habe keinen Mann. Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann; das hast du recht gesagt. Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist.“
Wie ging es ihm durch die Seele, daß auch er eine Frau hatte, die nicht seine Frau war, weder innerlich noch äußerlich, und daß er auch schon „fünf Frauen“ gehabt hat, von denen keine seine Frau gewesen war. Wahrlich, Jesus hatte recht, daß er ihn so ansprach, und es war doch eine Rede trefflich genau in den Zwiespalt seiner Seele hinein! Das war in der Tat ein prophetisches Buch! Vor diesem Jesus blieb nichts unverborgen, er sprach ja genau in diesem Augenblick zu Piet und mahnte ihn, seine Unruhe und Zweifel endlich zu klären, die Frage zu entscheiden, sich der Skrupel und Lügen zu entledigen. Hatte doch auch aus den Paulusbriefen Piet eine Rede von einer reinen, lauteren Ehe gelesen. Und wie weit war er entfernt von einer reinen Liebe ohne Zweifel, ohne Trug und Heuchelei, mit festem Treuebund, mit ungeteilter Hingabe, mit völliger Offenheit, mit einer Entscheidung für eine Alleinige!
Da hatte in diesem Augenblick der heilige Geist Christi den suchenden Leser von seiner Unreinheit, seiner - Sünde überführt. Piet schämte sich bis in die Tiefen seiner Seele seiner Unlauterkeit. Wenn Jesus doch jetzt vor ihm stünde und zu ihm spräche: Ich will, sei rein!
Noch bat er den unsichtbaren Herrn nicht um Vergebung, noch sprach er nicht mit Jesus Christus, und jenes Erlebnis tat er für einige Zeit zur Seite, was nicht bedeutete, daß es nicht in den Tiefen seines Herzens weiter in ihm wirkte und arbeitete bis zum völligen Einbringen der Ernte.
Im Dezember, in den langen Nächten tiefster Dunkelheit, saß er nächtelang in seinem Wohnzimmer und beschäftigte sich mit Nachdichtungen aus dem Englischen. Er hatte das Verspoem „The Eve of Sanct Agnes“ von John Keats gefunden und versuchte sich daran. Er änderte den Namen von Madeline zu Marion und dichtete die schönsten Stellen nach:
„Laßt uns die silberhellen Lustbarkeiten
Der reichgeschmückten Schemen, trunknen Menschen
Und Festgepränge alter Sagenzeiten
Am Abend vor Sankt Agnes fernewünschen!
Der junge Porphyro im Mondenscheine
Ruft alle Heilgen, Männer an und Frauen,
Er möchte finden seine schöne Eine,
Um Marion verehrend anzuschauen!
Angelika, du liebe Alte! sage,
Wo meine liebe Marion jetzt lebt,
Sag mirs beim Webstuhl vom Sankt-Agnes-Tage,
Wo fromme Schwesternschaft die Wolle webt!
Angelika sprach so: Die Herrin lieb,
Du laß sie schlafen, träumen, beten, dann
Daß sie allein mit ihren Engeln blieb,
Fern, fern von jedem frevelhaften Mann.
Angelika mit silberfarbnen Löckchen
Sprach: Willst du eine Kirchhofkreatur
Erschrecken, die schon hört das Totenglöckchen
Und betet stets für deine Seele nur?
Und Marion erflehte Himmelshuld
Und faltete die Hände um das Kreuz -
Gleich einer heilgen Jungfrau an Geduld
Und wie ein reiner Engel voller Reiz.
O Marion! o süße Träumerin!
O Silberschrein, zu dir flieh ich vorm Plunder
Der Irrfahrt, der ich armer Pilger bin,
Gerettet durch die Liebe und ein Wunder!“
Und ganz versponnen und versonnen lebte Piet in seiner religiösen Schein- und Traumwelt, in der seine Liebe ein Gebet war, seine traumhaft Geliebte sein Abgott, seine Großmutter seine Führerin zur Liebe. Und am folgenden Tage kam Madelaine vorbei auf ein Glas Zypernwein. Und in der folgenden Nacht dichtete Piet die Elegie von Ben Jonson nach, die er auf den Tod seiner Muse gedichtet hatte. Und er beschäftigte sich mit diesem wahrhaft heiligen Gedicht, in Gedanken bei seiner Großmutter seiend.
Und Ben Jonson lobte die irdischen, frommen Tugenden seiner Muse. Und er schilderte, wie sie herrlich aus dem Reden mit Gott wieder hervorkam. Und er lobte ihren Glauben an den Sohn Gottes, der eher Sohn Gottes als Menschensohn war, der ICH BIN, der richten wird die Lebenden und die Toten. Dieser, Jesus Christus, wird ihr geben, nach ihrem Glauben, nach ihren Glaubenswerken ihre Rettung und Seligkeit. Er wird sie führen in das himmlische Jerusalem, wo es Manna für den Geschmack gibt, Engel für das Auge, Harfen für das Ohr, Lämmer für das Tasten, Rosen für das Riechen. Und wo der alleinige Gott das Licht sein wird für alle Heiligen, unter ihnen die Muse des Dichters, die seliggepriesene.
Und hier erfuhr Piet einen Glauben, der stärker war als der Tod, der mit seinen Waffen aus Licht hindurchfuhr durch die Nacht des Todes, hindurch in eine Welt, nach der er stete Sehnsucht gehabt hatte. Und er begehrte dieses Reich - für seine Großmutter, der all sein Jenseitsdenken in diesen Stunden galt. Und seine Nachdichtung dieses frommen Poems war ihm eine Weihehandlung, eine Art Gebet, ein poetischer Gottesdienst, eine Seelenmesse für die scheidende Großmutter. Und er schämte sich für die Verwirrung seines Geistes, daß er diese heilige Elegie nicht so würdig nachdichten konnte, wie sie es verdiente.
Und eines frühen Abends holte Piet die kleine Madelaine bei ihrer Mutter ab, dann gingen sie spazieren. Sie gingen durch die leeren, stillen Straßen, bis sie in einen Wald kamen. Es ward dunkel, und Stille füllte das große romantische Geheimnis des Waldes. Die Bäume atmeten blauen Frieden, die Tiere zogen sich schweigend in die Dunkelheit zurück. Der große silberne Vollmond zog über den grünschwarzen Bäumen herauf, nah und mütterlich stand das Gestirn der Nacht am Firmament, von einem silbernen Hof umgeben, von ein wenig Grün wie mit Grünspan angetan. Dies Silbergrün floß durch die Dunkelheit des Waldes und verzauberte die Natur. Piet hielt Madelaine an der Hand und sie schwiegen.
Leise rief eine Eule aus der Dunkelheit, und bei diesem feinen Ruf durchdrang es Piet mit Gedanken des Todes. Das bewirkte der Aberglaube, der den Ruf der Eule mit der Ankündigung eines Todes in Verbindung brachte. Und also dachte Piet an seine geliebte Großmutter, deren Zeit zu sterben herangekommen war, wie er ahnte. Und schwere, trauerschwarze Gedanken legten sich auf seine Seele, und nur die feine feminine Seelenzärtlichkeit Madelaines war ihm ein linder Trost in jener Stunde.
Als er am folgenden Tage sie wieder abholen wollte aus dem Hause ihrer Mutter, kam aus der danebenliegenden Kirche eine alte Frau mit einer jüngeren Frau heraus, und Piet hörte die alte Frau zu der jüngeren sagen: „Ich denke so oft an den Tod in letzter Zeit“. Und es schien ihm eine Ankündigung seiner eigenen Großmutter zu sein, denn diese alte Frau war wohl weniger ein Individuum, als vielmehr ein Symbol, die Großmutter an sich, es war ein Orakel, gelesen aus der Menschenwelt. Und Piet ging allein nach Hause, zog sich in sein Zimmer zurück und sehnte sich danach, seine Großmutter noch einmal zu besuchen.
Da kam sein Vermieter Detlef ihm auf sein Zimmer und sprach: „Ich will morgen Abend nach Greetsiel fahren, ich habe da Erbangelegenheiten zu erledigen. Da meine Brüder mit mir zerstritten sind, bräuchte ich einen Beistand, einen Menschen, der mit mir ist, vielleicht als Zeugen. Willst du mich begleiten?“
Und Piet sah darin eine Fügung, denn er konnte gut und gelegen von Greetsiel weiterfahren nach Marienhafe und seine Großmutter besuchen. Also willigte er ein. Am folgenden Tage fuhren sie darum mit dem Wagen Detlefs nach Greetsiel, verbrachten einen streitlustigen Tag in Greetsiel. Am späten Nachmittag wollte Piet sich dann von Detlef verabschieden, um nach Marienhafe zu fahren. Der aber sprach: „Buß, mir ist ziemlich übel, und ich getraue mich nicht recht, allein mit dem Wagen wieder nach Oldenburg zu fahren. Ich bräuchte jemanden, der neben mir im Wagen sitzt und mich wachhält, mich ablenkt von meiner Übelkeit und womöglich im Notfall Hilfe holen kann.“
Das kam Piet gar nicht gelegen, aber im selben Augenblick, da er die Bitte Detlefs zurückweisen wollte, kam ihm ein Bibelwort, ein Jesuswort in den Sinn, nämlich daß ein Mensch, wenn er gebeten würde, mit einem andern Menschen eine Meile zu gehen, er mit diesem zwei Meilen gehen solle. Darum folgte Piet dem Ratschlag Christi, wie er ihn verstand, und fuhr mit Detlef nach Oldenburg zurück. Er wollte dann wenigstens am kommenden Wochenende allein nach Marienhafe fahren. Ohne Komplikationen kamen sie nach Oldenburg zurück.
Piet legte sich schlafen und schlief ruhig, bis ihn am folgenden Morgen sein Vermieter weckte: „Buß, deine Mutter hat angerufen. Deine Großmutter ist gestorben.“
Der Enkel war geschockt. Es hatte also tatsächlich soweit kommen sollen. Sie, die er über allen Menschen liebte, war nun nicht mehr. In seiner Verzweiflung, die in ihm heraufzustürzen begann, griff er nach der Bibel, die neben seinem Bett lag, schlug sie irgendwo auf und las das erste Wort, das ihm vor die Augen kam:
„Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn das Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit. Wenn aber das Verwesliche anziehen wird die Unverweslichkeit und dies Sterbliche anziehen wird die Unsterblichkeit, dann wird erfüllt werden das Wort, das geschrieben steht: Der Tod ist verschlungen vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“
Was auch Theologen über jene Stelle auslegen mögen, es war dem Ertrinkenden ein Strohhalm, der ihn herauszog aus dem schwarzen Meer der Verzweiflung, ein göttlicher, starker Strohhalm, der ihn an das Licht des Lebens heraufzog, daß er tapfer wandelte in den Tag hinein, glaubend, daß seine Großmutter auferstehen würde. Es würde der Tag der Auferstehung kommen!
Dann rief Piet seine Mutter an, die zu ihm sagte, die Großmutter sei ja nun „erlöst“ von ihrem Sterbeleiden, da sie keinen mehr erkannt habe und - wer weiß was - in ihren letzten Gedanken - -
Und Piet machte sich auf, aus dem Haus zu gehen, denn er hielt es nun in den vier Wänden unterm Dach nicht mehr aus. Er ging in eine friesische Teestube, die irgendwo in Oldenburgs Innenstadt war, und setzte sich vor ein Kännchen Ostfriesentee, ein Trauermahl. Am Nebentisch saß ein altes Ehepaar, und die Frau sprach von Annette Droste-Hülshoff, und die Gedanken an die gläubige Frau waren Piet ein Trost, ja es schien ihm wieder - noch lebte er in übersinnlicher Geisterwelt - ein Vermächtnis seiner Großmutter, daß Piet sich dem Geistlichen Jahr der Droste zuwenden solle. Damit verbrachte er denn auch den Rest des Tages. Am folgenden Tage würde er nach Marienhafe fahren, der Großmutter „die letzte Ehre zu erweisen“, wie seine Mutter sich ausgedrückt hatte.
Das Haus Paula Müllers, der Großmutter, lag klein und verwaist in seinem Gärtchen. Die Räume waren leer und wie von einem verwehenden Schatten durchweht. Alles war von unheimlicher Stille, wie voller Fragen, Rätsel und Geheimnisse, die der Tod mit sich bringt. Das Gästezimmer, in dem Piet sonst immer übernachtete, war ihm diesen Abend vor der Beerdigung ein Geisterzimmer, ein Raum, in dem die Verwaistheit und die Sehnsucht nach dem Hinterhereilen zuhause waren. Er saß allein in dem wenig erleuchteten Raum und wartete auf den Schlaf.
Aus dem kleinen Schränkchen mit einigen Büchern nahm er ein Heftchen, das „Mutter Eva“ hieß, es war die Lebensbeschreibung der pietistischen Diakonin Eva Thiele-Winkler. Er las darin das Zeugnis einer glaubensstarken Frau, deren Leben aus Nächstenliebe bestanden hatte. Ein Wort berührte ihn besonders, es war die Bemerkung der Mutter Eva, daß eine Formulierung in den Psalmen sie jahrelang begleitet, das öfter wiederkehrende „Aber du, Herr...“ Und hier vertraute Piet sich diesem Herrn an: Die Oma war gestorben - aber du, Herr, wirst sie auferstehen lassen. Das Haus war leer und einsam - aber du, Herr, hast dies Heft hier mir in meine Hände gelangen lassen. Beim Herrn war Hoffnung, Leben, Gemeinschaft.
Der dämmerhaft erleuchtete Raum war erfüllt vom blauen Rauch der vielen Zigaretten, die Piet rauchte, aus Nervosität rauchte. Und in einem Augenblick, den er nie vergessen sollte, spürte er die Gegenwart des Geistes - zum ersten Mal, die lebendige Gegenwart des lebendigen Geistes. Und er dachte in jenem Augenblick noch: Daß du nicht verschmähst, in dieses Zimmer zu kommen, da ich den Raum so mit Zigarrettenrauch vergiftet habe, ich bins nicht wert, daß du kommst, und - -
In dem selben Augenblick warf er sich auf den Boden, das Angesicht auf den Boden pressend, und der Geist, der ihm begegnet war, der lebendige, heilige Geist, zog in sein Herz ein! Denn aus diesem flossen Worte, die vom Geiste selbst stammten, reine, erhabene Anbetung Gottes!
„Großer, ewiger Gott! Du bist der Gott des Lebens, der Gott der Hoffnung, der Gott, der ist! Du bist die Liebe, voller Weisheit, ein unergründliches Geheimnis! Du bist heilig und gerecht, voller Sanftmut und Demut! Gott der Wahrheit, Seiender, aufopferungsvoller Gott! Du bist der Vater im Himmel, du bist Jesus Christus, der Herr, du bist der lebendige Geist, der mir begegnete! Lob sei dir, Preis sei dir, Anbetung sei dir!“ Piet unterwarf sich mit dem ganzen Sein diesem seienden Gott, der ihn gefangen nahm in das Reich der Freiheit, Gott, der dem, der im Finstern des Todesschatten gesessen hatte, ein großes Licht hatte aufgehen lassen, Gott, der ihn in Besitz genommen hatte und sich zugleich dem Menschenherzen hingegeben hatte, in die Wohnung des Herzens einziehend, diese Wohnung reinigend und weihend zum Tempel des heiligen Geistes, der da anbetete Gott, der da Christus den Herrn nannte! Leben, ewiges Leben war da, Sieg über den Tod, Hoffnung auf herrlichstes Licht, Glaube an Christus, Liebe zum heiligen Vater im Himmel!
Mit einem neuen Geiste las Piet in der Bibel, mit dem lebendigen heiligen Geist im Herzen schlug er die Heilige Schrift auf und las: „Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Und in dieser Nacht, da er nicht schlief, ward er eine neue Kreatur, mit einem neuen Herzen, ward er ein Kind Gottes.
Am folgenden Morgen ging der neue Mensch in die Kapelle, wo die Totenfeier gehalten wurde. Alle schluchzten bitterlich über den Verlust der Geliebten. Das Orgelspiel erklang, und die Gemeinde sang das Lied, das Paula Müller sich zu ihrer eigenen Beerdigung gewünscht hatte: Großer Gott, wir loben dich... Und dies war das einzige Erbe, das Piet von seiner Großmutter empfangen wollte in diesem Augenblick, das geistliche Vermächtnis, und er beschloß, von diesem Tage an, ja, von der Nacht des Sankt-Agnes-Tages an, Gott zum Lobe zu sein.
Drei Monate vergingen, in denen Piet die Bibel erforschte. Er begann beim Buche Genesis mit neuem Sinn zu lesen. Dennoch darf ein Umstand nicht unerwähnt bleiben, der für die folgenden Vorgänge zum Verständnis notwendig ist: Er hatte nicht erkannt die Notwendigkeit, Buße zu tun, seine Schuld zu Jesus zu bringen und um Vergebung und Reinigung zu bitten. Zwar hatte Gott ihm in Seiner unermeßlichen Größe und Gnade einen neuen Geist gegeben, den heiligen, und ihn damit für immer in das Reich des ewigen Lichtes gerufen, aber Piet bewahrte sich die Schuld des Aberglaubens. Noch hatte er die Offenbarung in ihrer Fülle nicht ergriffen, und wie sollte dies einem Säugling im Glauben auch gelingen, und so hielt er fest an manchen seiner bisherigen religiösen Denkgewohnheiten.
Aber um zum Thema zurückzukommen: die Gedanken an Marion Meister wurden übermächtig. Alles im Wort Gottes schien ihm von reiner, heiliger Liebe zu sprechen, von Tugend, Keuschheit, Jungfräulichkeit, Ehe. Eine wilde Liaison, Sinnlichkeit ohne Tugendbund schien ihm Sünde zu sein. Und so befragte er die Bibel, nach der Gewohnheit, ein Orakel zu befragen, wie er diesen Zwiespalt zwischen seinen zwei Lieben lösen sollte.
Er ging zu Madelaine, rief sie aus dem Haus ihrer Mutter, schlug in der Abenddämmerung vor dem Haus der Tante die Bibel auf, und fand die Stelle, da Paulus „an Zypern vorbei“ fuhr, und mit den Assoziationsketten, mit denen man einem Orakel begegnen kann, dachte Piet sich: Zypern -Aphrodite - Madelaine - daran vorbei...
Sie gingen spazieren durch die abendlich einsame Stadt. Piet stammelte, er müsse ihr etwas eröffnen, wußte aber selbst nicht, wie er es vollbringen sollte. Madelaine war ahnungslos, daß er die Zeit ihrer Verbindung über die Geheimnisse seiner Träume gehütet hatte. Er eröffnete ihr beim Schloß, auf dem Marktplatz, der leer war, daß er sich von ihr trennen würde. Sie war entsetzt, erniedrigt und beleidigt, weinte und schrie und schlug ihn erzweifelt mit den Fäusten auf die Brust. Er versuchte, ihr gütlich zuzureden, aber sie wollte in ihrer Verletztheit von dieser Gütlichkeit nichts wissen. Unter heißen Tränen stürmte sie davon. Piet tat es im Herzen weh, sie, die er doch so zärtlich wie ein Vater bis zuletzt gehütet hatte, so verletzt zu haben, aber es schien ihm eine zwingende Notwendigkeit gewesen zu sein. Er kniete bei einem großen marmornen Kelch, neben dem Schloß, nieder und schlug sein Bibelorakel auf, da fand er die Stelle, da Ruth zu Naemi spricht, ihr Gott sei auch der ihre, wohin sie gehe, dahin wollte sie folgen; und Piet erinnerte sich daran, daß es das kirchliche Eheversprechen war, und so war er, noch betrübt über die leidenschaftliche Szene der Schmerzen, voller österlicher Hoffnung, die Ehefrau zu finden, die seine Träume sich erdichtet und ersehnt hatten, die reine, heilige, ideale Jungfrau, eben Ruth.
ACHTES KAPITEL
„Liebe Marion!
Lange haben wir nichts mehr voneinander gehört oder gelesen. Nun denke ich von Herzen an dich und möchte erkunden, wie es dir ergangen ist in der Welt. Ich habe manche Stürme aus Feuer und Licht nun hinter mir und lebe wie in einer neuen Welt. Da würde ich gern mit dir in dieser neuen Welt leben, als wäre ich Amerika und du die Jungfrau von Guadeloupe, als wär ich auf Atlantis gelandet und du als Klito und Herrin der seligen Insel würdest mir entgegenwandeln. Wie aber lebst du im Teutoburger Wald, Thusnelda? Schreibe mir und erzähle mir aus deinem Leben und von der Befindlichkeit deines Herzens, sei mir gnädig und erbarme dich über meine Sehnsucht nach lieber Kunde von einem geliebten Menschen! Ich habe die Welt Gottes entdeckt und erforsche alle ihre drei Ufer mit großer Neugier, ihre Strände mit den Goldkörnern schönster Worte, ihre Wälder mit den erhabensten Leidensbäumen und den herrlichsten Jubelbäumen. In dieser Welt scheint mir eine Jungfrau von reinem Glanze notwendig, denn die Welt soll, wie Fürst Myschkin sagte, durch Schönheit erlöst werden. An deine Schönheit denk ich schwärmerisch oft und gern, deine phantastische Erscheinung wie aus einem Märchen oder einem italienischen Zirkus. Im Land der Juden bist du Ruth, du wandelst durchs Getreide und bist treu der alten Großmutter Naemi. Wenn ich aber Boas sein dürfte - das wag ich nicht zu denken, und doch ists meine hoffnungslose Hoffnung, mein bewußtloser Traum, meine surreale Idee und so weiter. Wenn ich dich nur einmal sehen und von Angesicht zu Angesicht dir gegenüber dich sprechen dürfte! Wenn ich einmal wieder nach so vielen Feuerblicken meiner Träume in dein mondhelles reines Auge schauen dürfte und versinken in dem See deiner Seele, wo auf dem Grunde der herrlichste Palast mir zu schlummern scheint, in dem sich das Pantheon der Heiligen befindet, die alle mit dir verwandt sind, vor allem aber die lammwollwebende Sankt Agnes... Laß dich nicht verwirren von meinem Gestammel und schreib mir recht liebe, lichte Worte aus deinem reinen Herzen! Für immer dein - Piet.“
„Lieber Piet!
Herzlichen Dank für deinen Brief, wenn er auch ein wenig kraus und wirr herüberkam, aber ich lese einige Erschütterungen daraus ab, Stürme des Herzens. Was aber habe ich nun damit zu tun? Aber das find ich bewundernswert, wie treu du an dem bleibst, woran dein Herze hängt! Du begehrst, ich möge aus meinem Leben schreiben. Nun, ich war in Italien und fand daselbst das irdische Paradies auf Erden mitten in dieser Zeit. Es war so wunderschön in den Apfelgärten, und wenn man abends vor dem Sonnenuntergang ein Glas des schönsten Rotweins trank, wenn das Meer so grünblau an die Ufer rollte, wenn die Berge sich so majestätisch erhoben, wenn in den Städten die Meisterwerke der alten und der neuen Welt zusammen einen Tempel der Kunst errichteten, die Fischer dann die Netze flickten und die Fische auf dem Feuer brieten, oder andere brieten Maronen, welche sehr wohlschmeckend sind, und Gaukler ziehen durch die Straßen, bunte Vagabunden. Fromme Märchen leben da überall, wie auch die Trümmer des Mythos noch auf das Goldene Zeitalter verweisen. Und hat man doch die Statue des Jupiter eingeschmolzen und eine Statue des Petrus draus gemacht. Und in den Wäldern meint man Einhörner zu fangen, die aber nur von einer Jungfrau gefangen werden können. Ich stellte mich in die Stille des Waldes und stieß einen Schrei aus, als wäre ich neugeboren, und atmete ein den Duft der Freiheit. Nun im Teutoburger Walde lebe ich sehr schön, die Wälder und Hügel ringsum im schönen Heiligenkirchen. Ich habe einen lieben Freund gefunden, er heißt Hartmut und ich liebe ihn. Die Kunst beschäftigt mich sehr, und ich male die stillen Winkel meiner Seele, wo Kerzen brennen, Paradiesvögel fliegen und die Träume die Tempel bevölkern mit allerlei wundersamen Wanderern und Einsiedlerinnen. Und weiter bin ich auf der Suche nach Gott und frage, wie sein Name ist... Ja, das wäre schön, wenn wir uns einmal sehen könnten und sprechen von Angesicht zu Angesicht, wenn ich auch nicht verstehe, wen oder was du in meinen Augen suchst. Bis dahin also, alles Liebe - Marion.“
Lieber Piet! hatte sie geschrieben, und mit Alles Liebe! geschlossen - das bewegte sein Herz, als wenn eine Nachtigall im nächtlichen Sturm umhergewirbelt würde, das war ihm wie eine Feuersbrunst, die eine Stadt zernichtet, auffrißt und gen Himmel trägt in lodernden rauchenden Flammen. Voll von Phantasien und Hoffnungen, Sehnsüchten und Ängsten ging er in die Natur, an der Mutter Brust Frieden zu finden, in den stillen Hainen Ruhe zu suchen. Er saß in jenen Wochen um Ostern oft in den Hainen um Oldenburg, da die Vögel ungestört singen, brüten, fliegen, die Bäume sich darbieten zu Sitzen und Ausguckplätzen, da die Rosengehege Idyllen zauberten, der Himmel seinen ganzen Frieden ausschüttete, die Wolken von Oldenburg bis nach Heiligenkirchen flogen - und so weit reichte Gottes Gnade doch auch! In diesen Naturzaubergärten schrieb er einen Brief nach dem andern, mehr verworrene Gedanken, vieldeutige Antworten auf die verborgenen Fragen, die er in ihren schönen Brief hineingelesen hatte, Erwiderungen auf die Aufforderungen, die er sich träumte, rätselhafte Gedichte.
„Liebste Marion!
Wie der Name Gottes ist? Jesus Christus, meine ich. - Du, ich sitze hier auf einem alten, umgestürzten Baum; so ist auch meine alte Welt umgestürzt, und nun wächst hier das erste junge Moos, das doch uralt ist, aus den Vorzeiten stammt, älter als der älteste Baum, und das Moos bist du. Rosa Blüten, weiß angehaucht, blühen auf dem Moos, so rein und zart. Kalmus wächst am Fuße des moosbewachsenen Baumes, und Kalmus ist mein Sternzeichen. Du bist sicher am Tage Mariä Himmelfahrt geboren? Ich meine mich zu erinnern.
Der Vogel fliegt so wie ein Flügelpfeil
In jene Wälder, die mir Heimat sind.
Da ruht wie eine Jungfrau mir das Heil,
In ihren Locken spielt der linde Wind.
Und Wolken wallen weiß und lächeln, weil
Sankt Agnes ihre weißen Fäden spinnt.
Der Baum des alten Lebens stürzte steil,
Nun wächst der Vorzeit Moosblum licht und lind.
Ich bin nicht einsam, denn in der Natur
Mir lebt und webt der Geist, der Liebe Spur.
Der weiße Falter schwebt und säuselt - con
Amore - von der Blüte feinem Duft,
Von deren Süße ist erfüllt die Luft,
Wie ich erfüllt von dir, o Marion.
Das wird doch herrlich sein, wie die Wiederauffindung des Paradieses, wenn wir uns sehen. Das wird sein, als wenn die Sonne stehen bleibt und Millionen Jahre in einem Augenblick vergehn. Gott möge dich segnen! Piet.“
Die Sehnsucht, Marion zu sehen, wurde in Piet so übermächtig, und da er auch keinen Brief mehr als Antwort auf seine fliegenden Zettel erhielt, dachte er sich, sie wolle ihn selbst sehen, zumindest war es so, daß er sie sehen - mußte. Darum schnürte er am Tage Corpus Christi seinen Reisebeutel, die Bibel darin, und fuhr per Anhalter in den Teutoburger Wald. Er kam an einem Ort vorbei, der Werther hieß, der ihn an den unglücklichen Liebenden Goethes erinnerte, der mit ganzer Hingabe bis an den freiwillig gewählten Tod die Vergebene liebte. Die Häuser waren weiß, mit roten Dächern, wie er sich Italien vorstellte. Die Wälder waren dunkel von lauter Fichten, Orte, in denen einst Armin der Cherusker gekämpft für die Freiheit Deutschlands gegen Rom, mit seiner Huldin Thusnelden an der Seite.
Er kam im Orte Heiligenkirchen an, als es Abend war. Er ging die Hauptstraße, an welcher Marion Meister ihr Haus hatte, da senkte sich die Dämmerung hernieder aus den Himmeln, mit einem flammenden Rot himmlischer Liebe - Feuerflammen sind Deine Diener, Winde Deine Boten - und Lüftchen säuselten, und Vögel sangen ermuntert in den Abend hinein. Piet fand das Haus, in welchem Marion wohnen mußte, er fand auch die Tür mit dem Namensschild - zwei Namen - und klingelte, aber niemand öffnete. Darum setzte er sich vor das Haus und wartete. Der Abend füllte mit seiner Friedfertigkeit sein Herz, wo der Frieden mit der liebenden Unruhe heftig stritt, dieses Feuer und Stürmen wühlte ihn auf, und dennoch war er in Ruhe gebettet und in Gottvertrauen. Er wußte, Gott sah ihn hier, und er betrachtete seinen Weg durch all die Irrungen und Wirrungen als Gottes Führung, wie der Herr Israel aus ägyptischer Gefangenschaft geführt hatte, das Volk geleitet hatte durch eine Feuersäule des Nachts - und am Himmel glühte ja die Feuersäule - und eine Wolkensäule des Tags, bis sie in das Gelobte Land kamen - war hier nicht das gelobte Land? die erhabene weite Natur umher, die schweigenden tiefen Wälder, die glühenden Untergänge und der sanfte Frieden des Himmels danach...
In diese Betrachtung tönte eine Stimme herein, der eine andere Stimme Antwort gab. Piet schaute sich um und sah eine Gestalt in einem wehenden weißen Gewande um die Ecke kommen, gefolgt von einer zweiten Gestalt in schwarzen Kleidern. „Du?... Piet?“ Es war Marion, die da in weißem Kleid wie eine Braut herbeigeschwebt kam, herbeigeflossen wie eine Erscheinung aus fließendem Lichte der Gottheit. Sie stand vor ihm, schöner als erwartet, noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte! Schön schimmerten ihre Augen wie zwei Monde durch die Nacht, ihr Kleid leuchtete wie das Sternbild der Jungfrau, ihre braunen Locken flossen auf die Schultern, das Gesicht war weiß, der Mund lächelte erstaunt: „Ja, was machst du denn hier, wo kommst du denn her?“
„Ich mußte dich einfach sehen!“
„Ja... und nun? Wo willst du übernachten? - Hartmut, hier ist der Piet, sag mal, kann der bei uns übernachten?“
„Ganz bestimmt nicht!“ schlug Hartmut donnernd die Tür zu. Marion blieb vor der Tür stehen und umarmte Piet: „Wie schön, daß du hier bist, das ist ja wie ein kleines Wunder. Aber wo willst du nun hin?“
„Ich sah da einen kleinen Park, in dem kann ich ja übernachten.“
„Nein, nein, da weiß ich etwas Besseres. Es gibt hier ganz in der Nähe einen Hügel, auf dem ich selber oft und gerne sitze und träume und in die Landschaft schaue, da kannst du ungestörter schlafen. Du gehst also die nächste Straße links, dann hinauf und beim Brunnen rechts, dann nach hundert, zweihundert Metern liegt rechts eine Wiese, auf der eine Gruppe von Buchen und Eichen steht, da kannst du dann ja schlafen. Wir können uns dann morgen sehen. Ich komme um fünf Uhr aus der Baumschule, dann können wir uns dort beim Park treffen. Hast du was zu essen? Nein? Gut, ich mach dir noch ein Brot, warte.“ Und damit ging sie hinein, kam nach kurzer Zeit wieder heraus und reichte Piet zwei Scheiben Brot mit Kümmelkäse. Er aß eins wie ein Gnadenbrot, denn morgen würde er sterben...
Zum Abschied nahm sie ihn noch einmal in die Arme, er schmolz vor Seligkeit, glühte vor Glückseligkeit - einen Bruchteil eines Augenblicks, dann stand er allein in der Nacht auf der leeren Straße und ging voller Gedanken und Erwartungen an den kommenden Tag den Hügel hinauf zum angegebenen Platz.
In der Nacht war weit die Wiese des Hügels, bis zu den sie umgebenden Wäldern Teutoburgs. Die funkelnden Sterne erleuchteten schwächer als der helle Mondschein mit diesem zusammen den Plan. In der Eiche oder in der Buche rauschte eine Taube, schlug mit den Flügeln, rauschte aus der Laubkrone heraus und flog in stillem Fluge über Piet hinweg, sich im Geheimnis der Nacht verlierend. Dieser sah ihr nach, träumte ihr nach, bis sein Blick am himmlischen Gestirn der Jungfrau hängen blieb, und er wünschte, sein Blick würde von den Spiegeln der Sterne gespiegelt und fiele segnend auf die Ruhe Marions.
Er lehnte sich an die mütterliche Buche, die zur väterlichen Eiche geneigt war, und träumte von Abraham, der ja auch zu den Sternen mit ihrer Unzähligkeit geschaut hatte: so unendlich sollte der Segen sein, der über die Völker aus seinem Samen und Sproß käme. Und Piet gedachte der Verheißung, die Gott dem geliebten Abraham gegeben hatte, eine Verheißung vom verheißenen Lande war dem Patriarchen gegeben, und Piet - wenig kundig, daß man Gottes Verheißung an Israel nicht zu einer persönlichen Verheißung an Corpus Christi zu Heiligenkirchen machen konnte - bezog die Verheißung: Dies Land will ich dir geben! auf sich, und freute sich, daß Gott ihm dieses schöne Land geben wolle, diese teutonische Friedensidylle, in welcher die Huldin Thusnelda lebte, er würd ihr Arminius sein, und gemeinsam huldeten sie Allvater.
Im Gebüsch bei den Bäumen raschelte irgendein Tier, das Piet Buß’ Phantasie zu einem goldenen Märchen anregte. Irgendwelche sprechenden Tiere oder guten Zwerge wollten ihn darauf aufmerksam machen, daß an eben dieser Stelle ein Schatz vergraben läge. Dies war ein Zauberhain, vom Mondlicht verzaubert, und hier läge der Schatz, der sich vermehrt hatte dadurch, daß Marion an dieser Stelle einen schönen Traum geträumt hatte. Und nun war Piet berufen, unter Führung eines weißen Zwerges, diesen Schatz zu heben. Ja, sicher hatte Marion den Schatz in Hoffnung vergraben, daß der Bettelprinz und Wanderpoet nur käme, endlich das verwunschene Gold zu erlösen und einen Palast daraus zu bauen, in welchem Thusnelda über die Wälder mit ihren grausamen Bären herrschen könnte.
Piet träumte weiter vor sich hin, bis sich seine Träume in den Irrgarten der Müdigkeit verloren, und mit letzter Besinnung der Seele überantwortete er seine Seele dem Herrn Jesus, da schlief er friedlich ein.
Am folgenden Morgen, die Sonne stand schon golden über dem grünen Hügelhain, erwachte Piet von einem Brunstschrei, den er nicht deuten konnte. Er kam aus der Ferne. Verwirrt von diesem unbekannten Geröhre schlug er seine Augen auf und sah ein junges, scheues, zartfeines Reh vor ihm stehen und ihn anschauen. Aus der Ferne hatte ein junger Hirsch gebrüllt nach der feinen Erscheinung und rotbraunen Schönheit, diese ließ sich aber aus ihrem holden Traum nicht wecken, sondern vermehrte den Frieden der Natur, den Frieden des güldenen Morgens. Sie war eine Träumerin, an die der Brunstschrei männlicher Leidenschaft nicht reichen konnte, denn sie lebte in einer Zauber- und Wunderwelt holden Friedens der Seele, Reinheit und Keuschheit. Und wie anmutig war das braune Rehlein, das Schwesterchen Reh verzauberte Piet die Seele, und wie ein Träumer begann er seinen Morgen, wie ein Träumer eines hoffnungsfrohen Traumes, vom lichten Gold der Sonne durchglänzt, von den weiten grünen Wäldern voller Leben, zuhause bei Mutter Buche mit der heiligen Taube. Piet dankte seinem Gott für all die wundersame Schönheit, es war ihm, als wär er in Elysium oder Avalon.
Er ging vom Hügelhain fort, hinunter in den Ort, wo er sich bei einem Geschäft eine Handvoll Äpfel kaufte und eine Flasche Mineralwasser. Dann spazierte Piet erkundend durch Heiligenkirchen, bis er zum Fuße einer Treppe kam, einer schmalen Steige, die an einem steilen Hang hinaufgebaut war. Er stieg die Treppe hinauf, als wär er ein Engel und beträte die Himmelsleiter. Oben allerdings erwartete ihn nicht der Herr, sondern ein Gartenlokal, das noch nicht geöffnet war. Er setzte sich auf einen Stuhl und las im Zweiten Teil des „Faust“.
Die Liebeserkenntnis des Pater Profundus, der die allmächtige, schöpferische, hütende Liebe besang, ließ ihn an den lebendigen Gott denken, der den Teutoburger Wald geschaffen, diese Höhe, Marion vor allem! Bei dem Gedanken an Marion wurde Piet zu einem Pater Ecstaticus, er jubelte bei dem Gedanken an die Schöne bis an die glühende Sonne heran, verging vor wartender Ungeduld und verbrannte vor der glühenden Sonne der Liebe zu Staub und Asche und sank auf den harten Boden der Realität, die zu hart ihm zu ertragen war (es gab einen andern!), und so flüchtete er sich in die reine einsame Betrachtung der Holdseligkeit Marions, der Jungfrau seiner Träume, der er nun würde begegnen dürfen, wenn der Tag sich seinem Ende zuneigte. Er sann über die Rosenhaftigkeit ihrer Erscheinung, über das Lichte ihres Gewandes - schneeweißes Linnen - wie ein Doktor Marianus, auf einsamer Hügelhöhe. Gewiß war er von Engeln umgeben, die für ihn sorgen würden im Auftrag des allmächtigen, liebenden Vaters, seine Hüter und Schutzschilde, schwebend aus unsichtbarem Licht, gütig und weise: und so „hat an ihm die Liebe gar / von oben teilgenommen“. Und wieder versenkte er sich in den Lobgesang des Doktor Marianus, der von der Unberührbaren sang, zu der die leicht Verführbaren traulich kommen. Dieser Gedanke, an die Betörbarkeit durch die Gelüste, ließ ihn einen Augenblick an die griechische Helena denken, die man die schönste Frau Griechenlands nannte und die das ganze Heidentum im Gefolge hatte. Aber hier war Reue am Werk, er wurde zum „Büßer“, und zum Lohn und zu Seligkeit erschien die verklärte erste Liebe, mit den heiligen Marien, zum Lobe der heiligen Jungfrau, die ihn hinanzog zum mystischen Chore - und weiter wollte Piet sinnen, vom mystischen Chore ein neues Lied ersinnen von der Innigkeit des liebenden Gottes, den er liebte... da ertönte von unten, von der Straße her ein lautes Hupkonzert. Er stand auf, schaute die Treppe hinunter zur Straße und sah einige Wagen durch Heiligenkirchen rollen, allen voran ein weißer Mercedes, mit schönsten Blumen geschmückt, ein Hochzeitswagen. War nicht alles Symbol? War hier nicht eine mystische Hochzeit im Gange? Und wer ward vermählt? Der Minnesänger mit der Jungfrau?
Piet ging von seiner Höhe wieder herunter und begab sich auf die Straße, der er folgte aus dem Ort heraus. Am Wegesrande blühten die schönsten roten Rosen. Ein Seitenweg führte in ein lichtes Laubwäldchen, durch das er wandelte bis zu einem stillen verträumten Teich, der voller Schweigen und Besinnung unterm Himmel ruhte, als ein hingebungsvoller Spiegel. Piet versank in Träumen, ihm ging seine ganze Lebens- und Liebesgeschichte durch den Sinn. Lauter Schande und Unreinheit hatte ihm die Seele befleckt. Nun wollte er ein neues Leben leben, reine Liebe leben, an Tugend nicht mehr mit dem Feuer der Scham nur denken müssen, keine Doppelbödigkeit in Traum und Dasein wollte er mehr dulden, wollte sein Innerstes offenbaren: die Liebe zu Marion Meister, die er zu seiner Ehefrau begehrte, seiner Liebesgefährtin in kindlicher, himmlischer Unschuld.
Als der Nachmittag herbeikam, ging er zurück und wartete drei lange, lange Stunden bei jenem Park, bei dem er sich mit Marion verabredet hatte. Aber sie kam und kam nicht. Er war voller Unruhe und unselig-seliger Ungeduld. Sehr nervös trat er alle Augenblicke auf die weitläufige Straße, Ausschau zu halten nach einem weißen Kleid.
Schließlich kam sie heran, ihm schien schwebend, wie ein Licht, wie ein weißer Schleier, dann von unsagbarer Schönheit vor ihm stehend sah sie ihm in die Augen: „Ich habe gezögert zu kommen, denn ich bin unruhig über dein Kommen“, sagte sie, und ihre Augen schauten so sanft und liebreich, daß er ihr von Herzen vergab. „Was wollen wir nun anfangen mit der Zeit? Ich meine, wenn du magst, könnten wir zu den Externsteinen fahren, das sind Steine aus uralter Zeit, zugleich eine Passionsstätte.“ Er willigte gerne ein; er hätte in alles eingewilligt, was sie ihm vorgeschlagen hätte, außer in eine Trennung; nun aber ging es zu einer Passionsstätte!
Sie kamen nach einer Fahrt in ihrem Wagen am Rande eines Waldes an, den sie auf einem schmalen Waldweg durchquerten. „Ich habe geträumt“, sagte Marion voller Begeisterung, „daß wir in einem Keller waren bei einem Zauberer, der uns gemeinsam aus einem heiligen Kessel goldene Flut trinken ließ. Ich wußte im selben Augenblick, daß wir uns schon Millionen Jahre lang kennen, zutiefst die Seelen einander offenbar.“
„Und ich hab so oft von dir geträumt, ich träumte vorher, daß ich hierher käme, ein Zwerg führte mich zu deinem Haus. Ich liebte dich mehr und mehr nach jedem Traum, den ich von dir träumte, und es waren zahllose, die alle im Geheimnis meiner Seele vor sich gingen.“
Sie kamen auf eine Wiese, in der Ferne erhoben sich fünf Felsenmale, dahinter schimmerte ein See. Es war wie in einer abgeschlossenen Welt, wie in einem Märchen, wie in einem Zauberland der Liebe, da sie nun gemeinsam gingen; und Piet griff nach Marions feingliedriger Hand, und sie fasste für kurz auch seine Hand, ließ sie dann aber wieder entgleiten. Sie sprachen von den vergangenen Jahren, und Piet sprach wie ein Büßer, der eine Vergangenheit vor dem Gericht der Reinheit zu büßen hat, und erflehte von ihren Augen und ihrem Mund ein freundliches Vergeben. Nun standen sie vor den Externsteinen.
„Welche Treppe sollen wir hinaufgehen?“ fragte sie, und ihm schien es eine Prüfung zu sein, ob er sich als Führer eigne.
„Diesen, den ersten, da links“, schlug er vor, mit Festigkeit in der Stimme, obwohl er sich unsicher war und nur wünschte, es möge der richtige Weg sein. Sie stiegen die Stufen hinauf, aber am Ende kamen sie zu einer verschlossenen Pforte.
„Also zurück“, sagte sie, „und die nächste Treppe genommen, dann werden wir wohl oben hinaufkommen.“ Tatsächlich führte jene Treppe sie zu einer Plattform auf einem breiten Felsen. Piet war sich klar darüber, daß sie die bessere Führerin sei, wohl weil sie die reinere Seele hatte, die lichteren Augen, den festeren Geist.
Sie standen auf dem Felsen und sahen hinüber zum Nebenfelsen, der sich nahe erhob, ein Abgrund dazwischen. In jenen Felsen war eine Höhle eingehauen; und Piet schien es, als stünde da eine alte Frau, gebeugt, in schwarzen Kleidern. Und er erinnerte sich an die Sankt-Agnes-Nacht, an die Träume zuvor; denn es hieß ja, daß in der Nacht zu Sankt Agnes man träume von dem Menschen, der zu einem gehöre. Und Piet hatte doch von Angelika und Marion geträumt, von der alten Dienerin im Schloß, die den jungen Porphyro zu Marion führte, die im Schlafzimmer ihr silbernes Kreuz flehend in den Händen hielt. Und nun stand jene Alte, der Geist seiner Großmutter, zumindest in seinem Wachtraum, auf der anderen Seite des Abgrunds; und so war für ihn der Tod mit seiner ganzen Entschiedenheit bei ihm.
„Ich werde dich immer lieben, bis zum Tod!“ fuhr es aus ihm heraus, mit Leidenschaft. Sie sah ihn mit großen Augen an und schwieg lächelnd.
„Komm!“ rief sie lachend und flog mit wehenden Haaren die Treppe hinunter, eilte zum See, er folgte ihr irritiert (irritiert, daß sie seinem Schwur entflohen war). Dann setzten sie sich beide am Ufer des Sees auf den Sand. Da gelobte er ihr noch einmal Treue und Liebe bis ans Ende. Sie sah ihn wieder an, sprach dann aber: „Ich liebe nun einmal den Hartmut.“ Er sah ihr in die schönen Augen, verzauberte sich selbst mit diesen blauen Blumen, von ein wenig hellem Grün getönt, gelegen in dem reinsten Weiß, wie Blumen auf einem Teich aus Gazellenmilch; und darin versank er für einen Augenblick. Sie rührte ihn an mit der Hand an der Schulter, er erwachte und schloß sie in die Arme. Einen himmlischen Moment hielt er sie in seinen Armen und genoß das seligste Glück, das die Erde bieten kann. Dann entwand sie sich ihm aber und eilte davon. Er taumelte ihr nach, sie aber war weitaus schneller als er und war schon um die Ecke der Felsen, da befiel ihn eine Schwäche aus Verzweiflung - alles schien ihm im Augenblick zu entgleiten - und er sank in den Sand vor einer Felsenhöhle - die Grabhöhle Christi - und rief aus dem Abgrund seines Herzens aus innerster Verzweiflung: „Abba! Abba!“
An einem Felsen war ein Relief angebracht, es stellte die Kreuzabnahme Christi vor. Das Kreuz war fest gemauert in die Erden, aber der Herr ward heruntergelassen und empfangen von seinem Jünger, der im Geheimen an ihn geglaubt hatte, der nun den Herrn vom Kreuze empfing in seinen Armen, den blutigen Leichnam an sein Herz presste, sein Inneres wallte dem entstellten Gott der Schönheit entgegen, dessen Gestalt unansehnlich war, weil er die Schmerzen und Krankheiten der Welt auf sich geladen hatte. Von den Geißeln, den mit Glasscherben besetzten Peitschensträngen völlig zerfetzten Körper, dessen Seite von einem römischen Speer durchbohrt worden war, die Hände, die von den römischen Soldaten wie die Füße ebenfalls durchbohrt worden waren mit den unbarmherzigen Nägeln, hart wie harte Herzen, spitz wie spitze Zungen, dem Heiligen Schmerzen bereitend wie Lästerer - das alles hatte der Herr Jesus gelitten, getragen die Strafe bis zum Tode; und diese Strafe war die des Josef von Arimathia, der nun frei war, es aber noch nicht begriff, denn Jesus war tot.
Neben dem Kreuze stand auch die Jüngerin Maria aus Magdala, deren Geist der Herr Jesus von sieben Dämonen gereinigt hatte, darum hatte sie ihn sehr geliebt. Er hatte ihr Haus wie ein Sklave gereinigt und war dann eingezogen als Herr und Bräutigam, geziert mit Liebe, geschmückt mit der Lust zu ihr, und sie gab sich ihm hin, bis zum Tode, und gab sich noch seinem Leichnam hin, hielt seinen heiligen Leichnam in Ehren, den Josef jetzt zu Maria herabließ, und sie weinte, als sie die Kälte des Leichnams empfunden, dieses Leichnams, in dem das wärmste Herz der Welt gewohnt hatte, ein Herz ohne jede Kälte, ohne Zorn und Bitterkeit, ohne Härte und Unbarmherzigkeit. Sie war ja eine Sünderin, war eine Sünderin gewesen, und dennoch hatte der Herr sie geliebt und sie befreit. Und weil der Herr sie geliebt hatte, liebte sie ihn nun auch, aber in einer verzweifelten Liebe, denn er war nicht mehr. Die Juden, sein eigenes Volk, hatte ihn durch die Heiden zu Tode gequält. Er, der Messias, der König der Juden, war vom auserwählten heiligen Volk Gottes verworfen worden, der Eckstein verworfen von den Bauleuten; und nur ein demütiger Rest Israels hatte den Messias erkannt, als er in sein Eigentum gekommen, Maria von Magdale unter ihnen.
Und die Mutter Jesu stand schweigend an der Seite (was auch immer bei den Externsteinen der Künstler gebildet hatte, in Piet Buß’ Seele ging ein anderes vor) und setzte sich auf einen Felsblock dann, auf daß sie ihre zitternden, weichen Knie schonen konnte. Da legten die Jünger der Mutter Jesu den Leichnam auf den Schoß. Und die Maria Pietà sah mit dem schönen weichen und traurigen Gesicht, mit Tränen wie Milch, auf ihren geliebten Sohn, der der Retter hieß, der auf dem Thron Davids auf ewig sitzen wird, der der Sohn des Höchsten heißen würde, nach dem Wort des Engels - und war der Sohn des Höchsten tot? O wehe, er war tot! Das er zum ewigen Leben tot war, zur Erlösung vernichtet, zur Befreiung gefangen von den Fesseln des Totenreichs, verstand das Maria? Oder suchte sie gar nicht mehr zu verstehen, da sie doch wußte, daß Gott nie und nimmer von eines Menschen Gedanken verstanden werden kann, und fügte sich nur in das göttliche Schicksal, in das heilige Geheimnis, in den unergründlichen Ratschluß Gottes, der seinen Sohn in den Tod gegeben hatte. Und das war ja gewißlich war, daß der Gottesknecht hatte sterben müssen, darum lag er ja jetzt auf ihrem Schoße in dem kalten zerfetzten Leichnam, den sie noch ehrte als heilige Reliquie, mehr noch, als Tafel des Gesetzes!
Und sie brachten den Leichnam in das Grab des Josef von Arimathia, eine Grabeshöhle, groß und vornehm, denn es hieß, der Gottesknecht würde gerechnet zu den Übeltätern und begraben bei den Reichen; darum kam er in das vornehme Grab des Ratsherrn Josef, auf daß die Schrift erfüllt werde. Die Grabhöhle fand sich neben andern Gräbern, sie war in einen Fels gehauen, über dem das vergängliche Gras wuchs, der weiße Stein in der Höhle stand wie ein Grabbett da, wie ein Hochzeitslager des Todes, da das Leben selbst sich in das Bett des Todes legte, oder wie ein Lamm auf die Schlachtbank kam, so legten sie den Leichnam des Christus auf den Altar des Steines in die Höhle des Todes. Sie hatten ihn in Leinen gewickelt, ein Schweißtuch um das Haupt gewunden, gingen weinend aus dem Grab, erschüttert von heftigen Tränen. Josef und Magdale hielten immer noch Ausschau nach einem Engel, der wie ein Blitz erscheinen könnte, dem Alptraum ein Ende zu machen - sie hatten alles nur geträumt, der Erlöser der Welt, er durfte einfach nicht tot sein! Maria, die Mutter meines Herrn aber, sie dachte und hoffte gar nichts mehr, denn vor lauter Schmerz, der ihre Seele zerschnitt wie ein Schwert, konnte sie keinen Gedanken mehr denken. Sie war nur noch ein blutiges Herz, durch das das Schwert des Kreuztodes Christi schnitt! Das würde eine heilsame Wunde sein, ein geheiligter Schmerz, ein ewiges Leid (ein Leid zur Ewigkeit)!
O wie schrecklich war die Macht des Todes! Wie finster war sein Reich, das Reich des letzten Feindes, der Herrschaftsbereich Satans, daß er hatte den Sohn Gottes töten können! Es war aber nicht Satan, der es gekonnt hatte, sondern der Herr selbst hatte sich in diesen Tod gegeben, um deinen Tod zu sterben, auf daß du leben könnest! O Elend des Menschen, daß er ebenso sterben kann! Was wird je ihn erlösen von der furchtbaren Schrecklichkeit ewigen Todes! Ewigen Sterbens! Ewiger Todesqual! Greuelhaftester Feuerströme der Totenwelt! Wo ist Rettung, wenn nicht in Christus? Wie aber, wenn dieser im Grabe bleibt? Wenn der Herr des Lebens gefangen ist in den Fängen des Todes?
Bitterste Tränen weinten Maria, Maria Magdale, Josef von Arimathia und die andern Freunde um den verstorbenen Meister, ohne Hoffnung, ohne Orientierung in der Welt, ohne Licht, in finsterster Depression, in abgrundtiefer Melancholie über die Nichtigkeit alles Hoffens, alles Liebens, alles Glaubens, verzweifelnd, betrübt bis an den Tod, den Tod wünschend und fürchtend zugleich, zweifelnd an Gott und damit des letzten Halts beraubt!
Dieser Sabbattag, da der Herr des Lebens, der Fürst der Liebe, der Retter der Welt im Grabe lag, war der schrecklichste Tag der Menschheitsgeschichte, das Elend aller Welt zusammengefasst war aufgehäuft auf den Seelen weniger Getreuer, die Jesus geliebt hatten. Und nur der Tag des letzten Gerichts wird ebenso schrecklich sein, oder schrecklicher, weil es für viele danach keine Gnade mehr gibt, sondern nur noch den ewigen Tod! O Weh der Menschheit, Elend der abgefallenen Geschöpfe, Qual der Verlorenen!- -
Der Anruf des lieben Vaters und das intuitives Erfassen des Todes Christi gaben Piet eine innere Stärke und Festigkeit wieder, daß er sich erhob und bereit war, seinem Schicksal zu begegnen. Er wischte sich die Tränen, die er geweint hatte, aus den Augen - einst würde Jesus ihm die Tränen fortküssen - und ging, mit noch zitternden Knien, den Weg zum Wagen zurück, wo er Marion stehen sah. Vielleicht hatte sie gezürnt? Nun sah sie ihn ernst an, als hätte sie einen Entschluß gefasst. „Piet, ich liebe nun einmal Hartmut. Es ist besser, du fährst wieder zurück. Ich kann dir nicht geben, was du von mir willst.“ Es war sein Schicksal, das ihm in ernsten Worten begegnete, und er fasste es auf wie ein Träumender, der den Ernst der Lage nicht begreift, sondern sich in Hoffnungen wiegt, wo Verlorenheit beschlossen ist.
Sie fuhren zurück nach Heiligenkirchen und trennten sich vor Marions Haus. Sie ging ins Haus, und er wanderte einsam, still in seiner Seele, wie einer nach dem Gewitter heftigsten Schmerzes in seiner Seele still ist, denn die Stille heilt ihm seine Wunden, unter den Flügeln Gottes den Hügelhang hinauf, die Nacht, die hereinbrach, dort zum letzten Male zu verbringen. Er betete ein stilles Gebet der Hingabe an den Willen des Herrn Jesus, ganz bereit, jeden Weg zu gehen, und schlief nach einem leisen Weinen von einsamen Tränen, unter den Sternen ein.
In der Nacht hatte er einen wunderlichen Traum. Er zog durch Deutschland, und es waren Trümmer von Städten, eine Trümmerwüste, und es zog eine Wolke vor ihm her, eine purpurne Wolke, und sie blieb stehen über dem Teutoburger Wald. Und er sah von der Luft herab in einen Hain im Teutoburger Walde, da war es das Gefild der Externsteine. Marion kam in einem langhin fließenden weißen Seidengewande, die braunen Locken flossen ihr auf die Schultern, ihre Augen schimmerten wehmütig, als sönne sie über dem Tode nach. In der Hand hielt sie einen irdenen Krug, den sie selbst getöpfert hatte „in Oldenburg“, sagte sie, und das Krüglein war gefüllt mit ihren Träumen. Sie stand vor der gähnenden Höhle in den Externsteinen, in denen Petrus gestanden hatte. Und als sie da stand, umgeben von dem Grün der immergrünen Bäume, erschien eine Gestalt ganz aus Gold (und es war nicht zu erkennen, ob es Arminius war oder Christus), und Christus sprach zu Marion: „Weine nicht. Ich will für dich sterben.“ Und dann war Christus nicht mehr da, und Marion schaute sehnsüchtig in die Ferne. Da sah Piet am Himmel Rosen blühen, einen ganzen Garten, und Blätter umher verstreut, die wie kleine Flämmchen waren und tanzten und lachten.
Am folgenden Morgen erhob sich Piet erneuert und verjüngt, er war offen dem Licht des Tages, der schönen Sonne und dem lebendigen Grün des Haines und des Waldes zugewandt, er sah die Wolken in wechselnden Gestalten treiben wie Lämmer oder Kinder, er biß in den saftigsten rotwangigsten Apfel und freute sich, ohne zu ahnen, daß die größere Freude noch kommen sollte, seine morgentliche Freude war eine Trotz-alle-dem-Freude, ein geistliches Wunder. Er ging den Hügelhang hinunter, grüßte zum Abschied den Brunnen, den er „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ nannte, ging die Straße durch Heiligenkirchen, an Marions Haus vorbei, sah kurz zu ihrer Wohnung hinauf, kurz nur, um keinen Schmerz aufkommen zu lassen, und wanderte dann die Straße aus der Stadt heraus, mit dem Plan, irgendeinen Wagen zu finden, der ihn Richtung Oldenburg wieder mitnehme.
Er ging so einige Zeit, als ein Wagen anhielt, eine Tür aufgestoßen wurde, er trat an den Wagen, sah hinein, da war es - Marion! Sie sah zu ihm mit lächelnden Augen und stillem Munde. „Ich kann dich ein Stück mitnehmen. Ich fahre zur Baumschule, zur Arbeit, an der Großstraße laß ich dich dann heraus, dann kannst du gut weiterkommen.“ Er stieg aufgeregt, freudig erregt in den Wagen. Es war ein Fest.
„Wir werden uns“, sagte Marion, „diesen Sommer wohl noch wiedersehen.“ Da erwachte eine große weiße Sonne strahlender Hoffnung in der Seele des Liebenden. „Erinnerst du dich“, sprach er, „wie du mir damals eine Kastanie geschenkt? Bis die Kastanien in den Bäumen wieder reif sind, wollen wir uns wiedersehen.“
Sie sah ihn an. Sie schwieg. Er konnte vor Seligkeit keine Worte finden und genoß einfach das Sein, die Ausstrahlung der Geliebten, den flüchtigen Moment - „verweile doch, du bist zu schön!“ Da waren sie aber an der Großstraße angekommen. Marion sah ihn mit einem Blick an, der vielleicht etwas mitleidig war, oder nur von einer angebornen Melancholie. Er sah sie an. Einen Augenblick war tiefe, tiefe Stille zwischen ihnen. Und im selben Moment küssten sie sich, zart, sanft, lieb. Völlig verwirrt, total verzaubert erhob sich Piet aus dem Wagen, sagte Ciao (Euer ergebener Diener), sie grüßte zurück und fuhr weiter. Er stand festgebannt auf der Erde, vom Himmel umwölkt.
O Kuß, du Zauber aus einer anderen Welt, da Engel einander berühren mit Lichtflügeln, Honigblicken, süßgewordenen Myrrhelippen und Weisheit ineinander gießen, Gespräch aus Eden ist der Kuß, weiser als die Tiefgelehrten, Gesang der Lämmer! O Kuß, du keuscheste Einheit, du Prophet der Liebe, du Siegel der Liebe, du Triumph der Liebe! O Kuß, wenn sich zwei Munde kreuzen, um von Blut zu Blut das Wasser des Lebens, das Öl des Geistes fließen zu lassen! O Kuß, in dem zwei Herzen beben und schmelzen, Schneeschmelze vor dem Feuer des Blutes! O Kuß, du Kindheit der Seele, du Unschuld des Herzens, du Reinheit des Geistes! O Kuß, du flüchtigster Hauch der Menschen, die nur ein Hauch sind! O Kuß, du feinste zarteste Blume der Menschen, die wie das blühende Gras sind und davon müssen! O Kuß, du Sinn inmitten zweier Nichtigkeiten! O Kuß, du Insel voller Tau und Rosen inmitten eines endlosen Ozeans! O Kuß, du Oase in der Wüste des Daseins, voller Datteln und Feigen! O Kuß, du Berührung eines Perlentores, du Geschmack von Jerusalem, du Trank vom Quell des Lebens! O Kuß, du Kuß auf die Lippen eines Ebenbildes Gottes, geküsst als auf Gottes Lippen! O Küssen Gottes! „Deine Küsse sind lieblicher als Wein.“
NEUNTES KAPITEL
„Pierrot war aus Napoli, wo er törichte Tage und Stunden verbracht hatte, heim in das schöne Venedig gekommen, die marmorne Märchenstadt mit dem magischen Zauberdom und den vielen Liebfrauenkirchen, mit den opalgrünen Kanälen und den schwarzen Schwänen darauf mit den Rosenschnäbeln, ich meine die traurigen Gondeln. Er war heilfroh, zurück in seiner Heimat zu sein, wo er die Liebe kennen gelernt hatte, die Liebe zur schönen lieben Frau, dem Täubchen, der phantastischen Colombine, einer Artistin wie aus einem malerischen Märchen. Aber er wußte nicht, wo sie sich befand.
So saß er am Straßenrand, ohne einen einzigen Taler im Beutel, hungrigen Magens, durstiger Lippen, umschwärmt von schwarzhalsigen Tauben, die verstreute Krümelchen vom Boden aufpickten, ohne Pierrot einen einzigen Krümel abzugeben. Wohl hatten sich Menschen aus aller Herren Länder der Tauben erbarmt und ihnen Krümel hingeworfen, aber für die ausgestreckte Hand Pierrots fand kein vornehmer Herr und keine edle Dame ein Gnadenbrot.
Er weinte bitterlich über seine schmerzliche Armut. Unter tränenüberströmten Blicken hörte er die Vesperglocke der Madonna dell’ Miracoli, und unter der Abenddämmerung zog der gute Schutzgeist des armen Taugenichts um ihn herum, ihm Trost zuzuwehen und stille Hoffnung. Im selben Augenblick, da die Königin des Meeres, die Jungfrau von Venedig von weitem mit ihrem Liebfrauenlächeln nahte, das Brot des Lebens zu bringen, stieben die schwarzhalsigen Tauben auf, verloren sich im Feuer der Abendröte, und aus den goldenen Himmeln ließen sich schneeweiße reine Tauben neben Pierrot nieder und rollten ihm ihr Gurren zu, das ihn ruhig werden ließ. Dann ward ihr Gurren zu einem Girren.
Da gerade der letzte Glockenschlag von Madonna dell’ Miracoli verklang, nahte aus der Nebengasse die schöne liebe Frau Colombine, eine anmutige Närrin von kindlicher Weisheit, ihre Flöte spielend. Manches Loch mußte sie zuhalten und dem freien Luftstrom wehren, um die Melodie ihres Herzens hervorzubringen, andere Wege öffnete sie, die sie bald auch wieder verschloß, um wieder andere zu öffnen, darunter auch die vordem verschlossenen Löcher. So spielte sie die Flöte des Schicksals und erzeugte eine zauberhafte Melodie voller Ahnungen von den himmlischen Chorliedern und Meßgesängen des Neuen Jerusalem.
Pierrot schaute auf, da sah er die Geliebte herbeischweben wie ein sanftes Lächeln der Madonna, wie auf den Schwingen ihres Engels getragen, schwebend wie eine Tänzerin auf einem Seil, reitend auf einem blauen Einhorn durch den dämmerblauen Abend, trunken von der Milch der Einhornstute. Wie eine selige Jungfrau, voller kindlicher Klugheit, mit den beiden Öllampen der himmlischen Sternaugen, nahte sie ihm in einem himmeldunkelblauen Gewande, von einem abendrötlichen Umhang verhüllt, und ihre Augen waren die Abendsterne, welche schwammen in der heraufdämmernden Nacht. Ihre Lippen aber waren erleuchtet und erhellt vom Lächeln der Madonna dell’ Miracoli. Ihre Worte klangen tausendmal süßer als die Vesperglocken der alten Kirche.
- O Pierrot, du hier in Venedig?
- Colombine! Wiedersehen, schöner als meine Hoffnung hoffte!
- Woher kommst du, was erlebte mein armer Gitarrenspieler?
- Ach Colombine, laß es mich sagen wie ein Büßer mit dem Perlenkranz der Königin des Meeres in den Händen, der seine Tränen sind, die er murmelnd über heiligen Worten in ein Tränenkrüglein zählt...
- Ja, was, mein armer Pierrot?
- Ach, laß mich dein Büßer sein, daß du mir Vergebung zusprichst. Ich war bei Narren, Dienern der Welt und des leeren Verstandes, und geriet in Zank und niedrige Lüste, lebte mit Hetären Griechenlands und im Aberglauben Persiens!
- Ja, wenn du es denn aufrichtig und von Herzen bereust, du armes Närrchen, so wird dir Gott wohl schon vergeben haben.
- Ich kanns nicht glauben, liebe Frau.
- Ja, wie willst dus denn besiegelt haben?
- Mit einem Kuß von deinen Jungfraunlippen.
Und da küsste Colombine Pierrot mit einem Märchenkuß von ihren Zauberlippen, da war er magisch verwandelt wie durch eine Transsubstantiation, und sein Fleisch und Blut war lauter Traum von Seligkeit, lauter Schweben in Chören von Engeln, die alle kleine Vesperglöckchen hielten, und Colombine in zehntausendfacher Verdoppelung schwebte mit ihm zum weißen Thron...
Aber dann hörte er ihre Stimme wie eine erzene Glocke:
- Ich muß heim zum kleinen Arlecchino...
O Zeit, du Donnerwort, o Nichtigkeit der Hoffnung, o Eitelkeit der Träume! Pierrot schlug die Augen auf und sah ein blaues Einhorn entschweben mit einer weißen Tänzerin auf seinem Rücken, gekränzt von den phantastischsten Blumensträußen, in denen kleine Feuervögel Ciao! Ciao! sangen, und Wehmut perlte ihm von seinen Wimpern in bitteren Tropfen auf die heißen Wangen; dann saß er allein auf der leeren Straße, und sein Hunger war wieder da, bitterer als zuvor. Nur der Duft des Blumenstraußes, des Kranzes der Artistin, blieb als ein Siegel stillster Hoffnung zurück und wohnte in seinem Herzen.“
So dichtete Piet. - Eines Nachmittags brachte er einen Brief mit der Pierrot-Geschichte zum Briefkasten, er ging an Marion. Dann spazierte er weiter durch den Sommer, bis er zu einem stillgelegenen Teich kam, der von Büschen und Bäumen umgeben war, auf dem schönste Seerosen schwammen und bunte Enten. Er setzte sich ans Ufer und träumte von Marion, nährte die schöne Hoffnung, sie bald wiederzusehen: hatte sie es nicht versprochen? Sie würde sicher schreiben auf seinen poetischen Brief hin. Wie ging es ihr nun mit dem prosaischen Hartmut? Würde sie ihre Liebe für ihn, Pierrot, entdecken? Konnte er sie befreien von jenem Alltagskerl? Er wollte doch mit ihr poetisch leben, ihr das Dasein verzaubern zu einem täglichen Märchen der Liebe. Wie könnte gegen solche Romantik ein Welt- und Geldmensch bestehen? Und verbanden sie nicht die vielen Träume, in denen sie ihm erschienen war? Konnten diese Träume spurlos an ihr vorübergegangen sein? Und hatte sie ihn doch erkannt als ihren Millionen Jahre alten Bruder der Seele!
Während er so dachte, zog eine breite schwarze Wolkenfront über dem Teiche auf, Möwen kreisten kreischend durch die Lüfte, Piet sah in das dunkle Gewölk und sah, mit viel Phantasie, einen pausbäckigen Amor mit Pfeil und Bogen fliegen, der direkt auf Piets Herz zielen. O weh mir! dachte Piet: der Dämon Amor, der Götze des Heidentums, er will mich töten mit seinen giftigen Pfeilen vulgärer Wollust! Nein! Weiche von mir, Amor, ich gebiete es dir! Im selben Augenblick donnerte Donner vom Himmel, die schwarze Wolke löste sich auf, der Amor verfloß und strömte als Regen nieder. Piet triefte vor Regen, bis auf die Haut durchnäßt eilte er mit dem Rad durch das sommerliche Unwetter in seine Wohnung zurück.
Zwei Tage später kam sein Brief zurück. Er war nicht angenommen worden, als abgelehnt dem Postboten zurückgegeben worden und kam nun wieder in Piets Hände. Er war entsetzt und erschüttert, ihm zitterten die Hände vor Ratlosigkeit. Wie konnte so etwas geschehen? Es konnte nicht Marions freier Entschluß gewesen sein! Sie hatte ihm doch ein erneutes Treffen im Sommer verheißen! Sicher hatte der Welt- und Geldmensch ihr jeden Kontakt verboten, vielleicht hatte er - hartherziger Mensch! - den Brief zuerst in die Hände bekommen und ihn dem Postboten zurückgegeben, weil er fürchtete, die liebreichste Frau zu verlieren, die er unverdient an seiner Seite hatte. Ihrer Seele konnte solch ein Unternehmen nicht entsprungen sein! Hatte sie ihn doch geküsst mit dem schönsten Kuß seines Lebens! (O das Rosenblatt ihres Mundes, von Tau gesalbt, duftend nach Ambrosischem Weihrauch!)
Nein, das konnte nicht so geschehen, wie sich das dieser Hartmut dachte! Piet würde sich erneut hinsetzen und einen neuen Brief dichten, er würde Marion in linden Worten an ihr Versprechen erinnern, ihn im Sommer wiederzusehen. Der Sommer ging nun langsam zuende, und noch war seine Dame nicht erschienen, noch war die Fee nicht leibhaftig vor seiner Tür gestanden. O wie würde er ihr die weißen Säulen, Sphinxen, Athenen, Gärten und Parks, Wälder und Teiche Oldenburgs zeigen, das Edelsteinmuseum und die Bibliothek und die Kirche, in der sie getraut werden könnten!
Piet hatte in einer Kirche an einem Hochzeitsgottesdienst teilgenommen. Es war ein Lied gesungen worden von einem Chor junger Menschen, da Glaube und Hoffnung und Liebe besungen wurden; und Piet glaubte; und Piet hoffte; und Piet liebte - dies am meisten von allem, und der Traum seiner Liebe war Marion, deren Stellvertreterin in Oldenburg die Braut war, ein Symbol, ein Zeichen und Wunder... Und wegen des Wunders auch sang ein Säugling Halleluja. Da dichtete Piet:
„Ich glaube: an die Liebe himmelhaft,
Die sie ist meiner Seele Schöpferin;
Ich glaube: an das Wunder voller Kraft
Und an den Geist im süßverträumten Sinn.
Ich hoffe: Einmal wird der Sommer nahn
Und fruchten wird der Liebe Feigenbaum,
Ich hoffe: Was die Augen nimmer sahn,
Wird mir erscheinen wie ein goldner Traum.
Ich liebe! Das ist schon genug gesagt.
Wenn auch vorm nahen Herbst die Seele klagt,
So wird doch die Verheißung nicht vermisst,
Die mein ist, weil ich liebe, was mir lieb
Und was die Liebe selbst ist. Liebe, gib
Erfüllung meines Traums, der Sehnsucht ist.“
Zu jener Zeit war Piets Beutel immer leer, es stand ihm kein Geld mehr zur Verfügung. Das war so arg, daß er eines Mittags, er hatte noch nicht gefrühstückt, schlimmen Hunger bekam. Da erinnerte er sich an die schöne Legende von der seligen Agnes, Prinzessin von Böhmen. Diese hatte sich in ein Frauenkloster zurückgezogen, in dem die Schwestern nach der Regel der heiligen Klara, der Freundin des Franziskus, lebten. Nun kam auch über diese andächtigen Schwestern ein großer Mangel, ihnen von Gott gesandt, um ihr Gebet zu entflammen. Also kniete sich die selige Agnes in ihren Andachtswinkel vor das Kreuz und flehte zum lieben Herrn Jesus, er möge doch sie und ihre geliebten Schwestern ernähren, denn er hatte doch gesagt, daß der himmlische Vater alle Spätzlein ernähren würde, und wie viel mehr sorgte sich der liebe himmlische Vater um die Betschwestern! Da war am folgenden Morgen die selige Agnes aus dem Klostertor getreten und hatte an der Pforte einen Korb mit vielen frischen Fischen gefunden, nicht wissend woher, und doch, denn es war ein Wunder Gottes. Und so fanden sie alle Tage einen Korb mit Fischen an der Klosterpforte, oftmals auch Brote dabei, und waren gut versorgt bis zu den besseren Tagen, da der Handel mit dem Markt wieder anging.
Im Mittag, als Piet der Magen so knurrte, da wünschte er sich auch vom lieben Gott, daß er ihm doch sein täglich Brot möge geben. Und just hörte er draußen vor seinem offenen Fenster eine Stimme, die „Marion!“ rief, und eine andere Stimme, die zur Antwort gab: „Ich gehe jetzt zur Universität!“ Und das nahm Piet als Wegweisung und ging also mit zitternden Knien und zitternden Händen zur Universität. Auf dem Campus saßen viele junge Studenten, und Piet nahm Mut zusammen und fragte eine Studentin, ob sie ihm nicht ein paar Groschen geben könne, er hätte noch nichts zu essen gehabt diesen Tag. Da erbarmte sich die Studentin und gab dem Bettler fünf Mark. Davon konnte sich Piet nun in der Mensa ein Mittagessen kaufen. Als er sah, daß es Fisch gab, gedachte er wieder der schönen Legende von der seligen Jungfrau Agnes und dankte Gott für seine Fürsorge. Mit herzlichem Dankgebet begann er sein Mittagsmahl und beendete es wieder mit einem herzlichen Dankgebet.
In den folgenden Tagen kam wieder ein Einkommen auf sein Sparbuch, und so konnte er wieder ohne tägliche Sorgen ums Brot der Muse leben. Inzwischen war es Herbst geworden, und er hatte Marion immer noch nicht wieder gesehen. Ihm war jede Begegnung mit der lieben Frau gegenwärtig, er sah in ihr wieder das phantasiereiche siebzehnjährige Mädchen, er sah in ihr die Frau seiner Träume, er las wieder und wieder ihren Brief, der „Alles Liebe“ endete, was ihm die Parole seines Lebens wurde zu jener Zeit. Er erinnerte sich an jede Bewegung der weißen Jungfrau, als die sie ihm beim Passionsfelsen begegnet war. Diese Erinnerungen wollte er in einem romantischen Poem von altdeutscher Naivität zusammenfassen und wiedererzählen. Dazu suchte er sich eine passende Örtlichkeit, denn in seinem Zimmer fand er immer seltener Frieden, weil dämonische Rockmusik aus den Zimmern Detlefs heraufdröhnte, die Piet seine liebevollen Stille störte.
Also fuhr er mit dem Rad, nachdem er bei der Universität gegessen hatte, in der Gegend herum, fuhr einen Weg, der in den Wald führen würde und sah mit einem Mal ein einsames Landhäuschen am Straßenrand liegen, das unbewohnt schien. Der Garten vor dem Häuschen war verwildert, das Gras hoch, die Hecke ungeschnitten; die Fensterscheiben das Häuschens waren staubig und von Spinnennetzen verwoben, eine Scheibe war sogar zerschlagen. Piet betrat das Grundstück und ging hinter das Haus, da ein wunderschöner Garten lag. Dort stand auch noch ein rostiger Gartenstuhl. Dazu schien die Sonne sehr warm an diesem Frühherbsttag, die Vögel sangen süß in der Sonne und in dem Garten, Spatzen spielten unterm Hagebuttenstrauch. Und all dies erinnerte Piet zutiefst an seine selige Kindheit, da er in einem verwilderten Garten bei einem leeren Hüttchen gespielt hatte und sich die schönsten Märchen ausgedacht. Es war unheimlich romantisch in dieser Stille, man hörte kein Gelärm der Zivilisation, nur die Musik der schlichten Vögel, die keine Arien sangen, sondern deutsche Volkslieder.
Piet holte sich ein Schreibheft hervor, nahm seinen Füllfederhalter und dichtete in vierzehnsilbigen Strophen die Anrufung der Muse, mit der ein Poem ja nun eben zu beginnen hatte. Dann dichtete er vom Rosengarten, von fahrenden Sängern, von romantischen Burgruinen und vom schönen Teutonien und seinen Hügelhainen, auf denen der heroische Arminius Ausschau hielt ins ferne Welschland, sei es, daß von dorther die Gefahr käm, oder sei es, daß nach dorthin die Sehnsucht ginge.
In den folgenden Tagen kam Piet immer wieder in jenen verwilderten Garten, und er dichtete im süßen Stile die schönsten Reime, alle seine Träume nacherzählend. Das Poem endete mit einem Hymnus an den Ostergrund der Freude... Piet war so selig in jenen Tages des goldenen Herbstes, da Sonne und Grün und Vogelsang ihn in die Kindheit versetzten, als er schon ein Liebling Gottes war. Und das „Präludium“ vom englischen Frühromantiker Wordsworth weckte noch mehr Kindheitserinnerungen. Er erinnerte sich an seine erste Freundin, mit Schmerzen, denn er hatte seine erste Liebe verlassen, und tat Buße für die Schmerzen, die er einem sanften Mädchen hatte zugefügt. Er wollte die Geschichte seiner Kindheit und seiner wilden Jugend erzählen mit all ihren revolutionären Neigungen und all seinem revolutionärem Haß; und wollte Buße tun für jeden Frevel des Herzens und der Tat. Es war eine Zeit, in der seine Seele ihm aufquoll, und es schien ihm, als sei die Kindheit das verlorene Paradies, und als sei Marion Meister das wiedergefundene Paradies... Und wie als Unterpfand durfte er nun, an seine liebe Geliebte denkend, in diesem Idyllion sitzen und dichten von der Liebe, die die Führerin zur Auferstehung war!
In jenem Herbste las Piet Meister die „Bekenntnisse“ des heiligen Augustinus. Er war begeistert von der Gottesfurcht des großen Theologen und von seiner tiefen Einsicht in die Sünde der eigenen Wege, die er von Anfang an gegangen war bis zu seiner Erleuchtung durch den heiligen Geist. Piet liebte die schönen Gebete und die tiefsinnigen Fragen und weisen Antworten dieses Mannes. Er betete in jener Zeit viel zum großen Herrn und Gott, aber es ging ihm in jener Zeit auch so manche Schuld seines Lebens auf.
Wieder erinnerte er sich an seine erste Liebe, an das gute Mädchen, das ihm so vertraut hatte. Er gedachte der stillen Nachmittage bei Tee und Musik und der langen Nächte bei Wein und tiefen Gesprächen. Aber dann hatte er, als sie in großer Seelennot gewesen war wegen des Sterbens ihrer geliebten Großmutter, sie harten Herzens allein gelassen und Gemeinschaft gesucht mit einer Revolutionärin. Dennoch hatte er das sanfte Mädchen nicht lassen können, und hatte so lange an ihrem schönen Körper und Herzen gezerrt, daß es ihr viele Schmerzen bereitet hatte und sie es ihm lange nicht hatte vergeben können. Nun mußte Gott es ihm vergeben, denn er brauchte Vergebung in dieser bösen Schuld seiner Jugend. Gott hatte ja etwas gegen ihn in dieser Angelegenheit, aber Piet wollte es dem lieben Vater gerne bekennen, daß dieser ihm vergebe und die Schuld ihm nehme.
Wie weh tat es Piet in der Seele auch, daß er sich mit dem Rat der Gottlosen eingelassen hatte. Er hatte sich einen Mann zum Messias und Heilsbringer ausgesucht, der den revolutionären Haß gepredigt hatte, der die Mönche ermordet hatte und die Juden verfolgt. Er hatte an eine Heilslehre geglaubt, die Gott verleugnete und verlästerte, und er hatte selbst manchmal über den Heiligen gespottet. Selbst die Todesschützen an der kommunistischen Grenze hatte er verteidigt und war damit in seinem Herzen zum Mordsgesellen geworden. Das tat ihm nun von Herzen leid, und er bat den lieben Vater, ihm diese Schuld von Herzen zu vergeben. Darum war ja Christus gestorben!
Piet tauchte am Ende der „Bekenntnisse“ tief in die Geheimnisse der Weltenschöpfung ein, wie Gott durch seinen Geist, ja durch sein Wort aus dem Nichts hatte Materie geschaffen, diese geordnet in verschiedenen Sphären und Welten mit Erden und Sonnen, Meeren und Monden, Wolkenbildern und Laubkronen, Spätzlein und Lämmlein und den lustigen Fischlein der Teiche. Und er versuchte die symbolische Bedeutung dieser Genesis zu verstehen, wie Augustin sie auslegte, der da von den Boten des Wortes Gottes sprach, die die Botschaft vom Gott der Liebe in alle Welten trugen. Es war ein großer Glaube, der christliche, denn er war voller Geheimnisse, denn Gott selbst, an den er glaubte, war ja ein unergründliches Geheimnis, und dieses unergründliche Geheimnis war heilig und anbetungswürdig. Und Piet dichtete ein heiliges Sonett:
„O Gott, geheimer Vater allen Lichts,
Wie hast du schön den Weltenkreis gezeugt,
Zu dem dein lichter Himmel rein sich neigt
Mit all dem Glänzen deines Angesichts!
Der Menschen Kindheit war das Paradies,
Ein Rosengarten voller Lebenslust,
Da deiner Nähe innig sich bewußt
Das erste Paar die Freude nicht verließ.
Ich aber häufte auf mich schwere Schuld
Und hatte Hohn nur für die höchste Huld
Und trug mein Herz im Leibe wie ein Stein.
Nun aber sandtest du Barmherzigkeit
Und machtest mir die Seele weich und weit:
Ergeben soll ich ganz der Liebe sein!“
Diese Liebe, der er ergeben sein wollte, hatte sich verkörpert in Marion Meister, an die er stündlich dachte. Sie ging ganz in seine unheilig-heiligen Gedanken ein, und er setzte voraus, daß sie ebenso empfand wie er: Schauer vor dem großen Geheimnis Gottes, Verlangen nach Heiligkeit und Reinheit (ja, sie hätte diese Heiligkeit und Reinheit durch die große Gnade Gottes schon an sich) und einen schönen Begriff von ewiger Liebe.
Darum fand er sie auch dargestellt in der seligen Beatrice, die Dante schilderte, die des Dichters Führerin durch die unsichtbaren Welten war, die ihn zum Himmel rief! Mit Schauern las Piet die „Göttliche Komödie“, die Qualen der Hölle machten ihn ernst und bußfertig, er genoß das irdische Paradies (und fragte sich, wer Mathilde sei?) und jubelte über das himmlische Paradies mit den Musen und Heiligen, mit dem Lobgesang nach der Minne des heiligen Bernhard für die Jungfrau Maria und als Krönung: die Liebe, die alle Sonnen und Sterne bewegte, die er schauen wollte, die aber in unzugänglichem Lichte wohnte und nur in dem Bruchteil eines Augenblicks wie ein Blitz erschien, der den Dichter völlig verwandelte...
Würde auch Marion ihn auf seiner geistigen Pilgerschaft führen, würde sie ihm Winke geben, wo er zu suchen habe, wo er zu wandern und was er zu finden habe? Würde nicht die Erinnerung an sie und die Hoffnung auf sie ihn befähigen, reiner zu leben, würdiger der Berufung, ernster Buße zu tun und vollkommeneres Lob der Herrlichkeit der Gnade zu dichten? Würde sie nicht als Inbegriff der Liebe ihm Gottes Wesen verständlich machen? Er mußte, er mußte einmal wieder mit ihr sprechen! Aber wie, wo sie so beharrlich schwieg! War es nicht doch ein beredtes Schweigen, denn was wollte sie ihm mit diesem Schweigen sagen? Sollte er in sich gehen, Buße tun für sein altes Leben und ein neues Leben in Heiligkeit beginnen? Sie war so rein ihm immer erschienen, sie war ihm zu einem Vorbild geworden in der Sehnsucht nach dem Tugendleben und der himmlischen Gesinnung. So etwa gingen seine dichterischen Gedanken um Marion Meister.
Wie lieblich kamen Piet die Engel Klopstocks vor, dessen „Messias“ er nun mit allen zwanzig Gesängen las! O wie lieblich und sanft waren die grünen Hügel Galiläas, die weichen Wiesen mit den zitternden Blumen, um die die süßesten Hauche schwebten! Und wie zart waren die Wölkchen und wie hold die Lämmer, aber stiller und lauterer waren die Engel, die da um die schlafenden Jünger säuselten.
Siehe, der Lieblingsjünger des Messias, wie sanfte schlief er, voller Frieden der Seele, auf dem weichen Moos des Hügels, unter schlanken Zypressen, und nahebei ruhte sein jüngerer Bruder aus, nicht fern von ihnen schlief der männliche Simon, der Petrus, aber nicht schliefen die Engel der drei Jünger, sondern umgaben sie mit flüsternden Eingebungen in ihre Träume, Illuminationen von ihrem Meister, dem die Engel untergeben waren, deren Diener und Boten sie waren, unsichtbar wie Winde, voll feuriger Liebe wie Flammen! Sie, die sie zuhause waren in der Welt der tiefdenkenden Cherubim und der feuriganbetenden Seraphim, sie waren Boten der freudigen Nachricht, daß der Erlöser wandele auf den Auen Galiläas, inmitten der Blumen, die er sich zum Gleichnis dichtete für die Güte Jehovahs. Und so schauten die lieblichen Boten immer wieder zum Messias und priesen den unergründlichen Ratschluß Jehovahs, der seinen ewigen Sohn zum Messias gesetzt in Juda, daß er sterbe! und auferstehe!
Mit welchen süßesten innigsten Herzensergießungen priesen die frommen Engel den Messias und seinen Gang auf der Erde der Menschen! Waren sie doch die Bewohner der Plejaden, Orione, Sonnen und Jungfraunsterne, aber aus allen diesen Sternen hatte Jehovah sich den Tropfen am Eimer erwählt, die Erde des Menschengeschlechts, seinen Messias daselbst wandeln zu lassen. Hallelujah dem Barmherzigen, Gnädigen! Hallelujah dem Erlöser, der gekommen war die Menschen zu retten, ihren Johannes, ihren Jakob, ihren Simon, denen sie zugesellt waren von der weisen Voraussicht Jehovas, auf daß sie als Schutzengel die Fischer geleiteten zu größeren Taten, daß sie Menschenfischer würden, wenn sie auch - weh! - den Erlöser in seiner bittersten Stunde würden allein am Kreuze lassen, nicht ihm beistehend, der sein Blut in unendlicher Einsamkeit vergießen mußte, verlassen von allen Jüngern, verlassen selbst von - Gott!
Auch die Mädchen und jungen Frauen waren nicht weit, mit ihren schönen Seelen liebten sie den Messias, mit ihren Gütern dienten sie ihm, mit ihren Ohren und Herzen lauschten sie ihm, mit ihrer neuen Demut unterwarfen sie sich ihm, mit ihren Nardenölen salbten sie ihn und mit ihren Tränen der Buße! Denn er war ihr Meister, und ihr Herr, er war der Erlöser der Menschen und auch der Erlöser Marias Seele.
Und Marias Engel, nicht der Verkündiger, der von den oberen Rängen der himmlischen Scharen war, beredete sich mit dem Engel der schönen Magdale, und beide Engel priesen den Rettersinn Jehovahs, daß die beiden Frauen erkannten den Messias als ihren Erlöser, bereit auf sein Kreuz zu schauen, begnadet, dem Auferstehenden selig zu begegnen, ihm nachschauend, wenn er fuhr in die Herrlichkeit, seinen Geist empfangend und ihm entgegen auferstehend bei seiner Wiederkunft am Jüngsten Tage!
O wie durchfuhr die Engel ein Schauer, wenn sie dachten an den Tag des heiligen Zornes Jehovahs und seines Messias! Wenn Gott, der Herr, Gericht halten würde über alle Lebenden und alle Sterbenden! Da wird einer angenommen und sein Bruder verworfen, da wird der Freund angenommen und sein Herzensfreund verworfen, da wird die Geliebte angenommen und der Liebhaber verworfen, da wird der Sohn angenommen und der Vater verworfen, da wird der Arbeiter angenommen und der Herr verworfen, da wird der Christ angenommen und der Heide verworfen! Und die Engel besprachen sich und bedachten den Tag des Feuers, da das Feuer fuhr mitten zwischen die Menschen, zu verzehren alle, die Diener der Dämonen gewesen! Hallelujah dem Höchsten, daß die Dämonen der Hölle mit dem Fürsten der Finsternis geworfen würden in die See aus nie verlöschendem Feuer, bereitet Satan und seinen Engeln! Aber die Engel des Messias und der Seinen, sie würden inmitten der Brautgemeinde stehen, zehntausendmal zehntausend, und preisen Jehovah, dem der Messias alle, die Jehovah ihm gegeben hatte, zurückgeben wird und im ganzen Reiche Gott wird sein alles in allem!
Piet war selig über dem Gedanken, ein Christ zu sein und umgeben von seinem Schutzengel, der ihn behüten und bewahren wird auf allen seinen Wegen. Er forschte in den unsichtbaren Lüften, ob er seinen Engel finden und fühlen könne. Hatte Gott nicht verheißen in der Heiligen Schrift, daß er Piet leiten würde und hinter ihm gehen und ihm den Weg weisen würde? Da mußte ihm doch der Engel erscheinen und zu ihm sprechen!
Eine fromme Legende war es, die Piet am Herzen seiner Liebe berührte, daß war die Legende von der Jungfrau Thekla, in deren Seele er die Seele seiner Marion verkörpert sah; und wenn Piet die Jungfrau Thekla pries, so pries er die Jungfrau seines Herzens.
Thekla lebte in Griechenland, als der Apostel Paulus in ihre Stadt kam. Sie stand in ihrem Hause im zweiten Stockwerk und hörte auf der Straße eine Stimme predigen, von heftigen Zwischenrufen unterbrochen, da trat sie neugierig an das offene Fenster, um besser verstehen zu können. Eben hatte ein kleiner Mann mit feurigen Augen und heftiger Gestikulation wieder angefangen, da vernahm sie die sonderbarste Lehre, die sie in ihrem ganzen griechischen Leben noch nie gehört hatte:
„Aber der Gott, den ihr nicht kennt und nicht verehrt, der ist der wahre Schöpfer des Himmels und der Erde. Ihr könntet ihn erkennen in seiner Schöpfung, die er geschaffen hat; auch hat er sein Gesetz in euer Gewissen gegeben; aber gegen dieses Gesetz habt ihr euch immer wieder Verschuldungen zukommen lassen. Nun hat eben dieser wahre Gott seinen einziggeborenen Sohn am Kreuz sterben lassen und alle Strafe für eure Übertretungen auf ihn gelegt, und hat ihn auferweckt von den Toten.“
Bei dieser Aussage erhob sich bei den einen heftiger Widerspruch, bei den andern Spottgelächter. Thekla aber war fasziniert. Der Prediger aber fuhr unbeirrt fort: „Und nun hat Gott diesen Menschen auferweckt und wird durch ihn den Weltkreis richten. Und darum hat Gott euch geboten, daß ihr euren Sinn ändert und durch den Glauben an diesen Menschen, Jesus Christus, von der Gnade Gottes die Reinigung erfahrt von euren Sünden.“
Diese Rede ging Thekla mitten durchs Herz, im gleichen Augenblick begann sie, diesen Jesus Christus lieb zu haben und seinen Apostel Paulus ebenso, von dem sie mehr über Gott zu erfahren sehnlichst wünschte. Darum ging sie hinaus zu ihm und traf ihn auf der Straße, als sich eben die Menschenmenge zerstreute, einige von ihnen nachdenklich im besten Sinn. Thekla bezeugte dem heiligen Paulus, daß sie an seinen Gott glaube, da freute er sich von ganzem Herzen und unterrichtete sie in den Grundlagen der Offenbarung.
Nun war aber ein junger Mann aus der Nachbarschaft, der Thekla leidenschaftlich begehrte, der sah die schöne Jungfrau mit dem heiligen Paulus reden, da entbrannte in seinem Herzen die verderbliche Eifersucht. Als er die Jungfrau dann auch noch mit dem Heiligen fortwandern sah (sie gingen zu einer kleinen Gruppe griechischer Christen), eilte er zu Theklas Vater, um sie bei ihm zu verklagen; der winkte aber nur müde ab: „Das Mädchen war schon immer nicht ganz richtig im Kopf, sie hat keine Religion.“ Daraufhin wandte sich der erboste Jüngling dem Stadtrichter zu und verklagte Thekla bei diesem: „Sie hat sich dieser neuen jüdischen Sekte angeschlossen, die von der Auferstehung eines Toten predigen! Wie ich hörte, essen sie das Fleisch und trinken sie das Blut eines Menschen und ertränken kleine Kinder im Wasser!“ Diese Gräuelmärchen, die nicht im geringsten auf die Christen zutrafen, glaubte aber wohl der Stadtrichter und verurteilte darum die Jungfrau Thekla zum Tode durch das Feuer.
Paulus war inzwischen weitergezogen, Thekla aber ward gefangengenommen und in die Arena gebracht, wo ein Holzstoß entzündet wurde. Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt um dem Spaß zuzuschauen. Thekla ward entkleidet bis auf ihre Blöße, aber ihre langen kastanienbraunen Locken bedeckten ihren Leib, dann ward sie an einen Schandpfahl gebunden, der überm Feuer stand. Die Flammen wollten gerade an ihr hinaufzüngeln, als Thekla schrie: „O Herr Jesus Christus! Laß mich wenigsten getauft vor dich treten!“ Im selben Augenblick schüttete eine Wolke heftigste Regengüsse über Thekla aus, die sie zum einen tauften und zum andern das Feuer löschten. Entsetzt flohen die Folterknechte vor diesem himmlischen Wunder, eine alte Frau, die auch an Christus glaubte und betend und weinend in der Menge gesessen hatte, eilte zu Thekla und band sie vom Schandpfahl los. Gemeinsam eilten die beiden aus der verfluchten Stadt nach Ikonion, wo sie dem Paulus wieder begegneten, der sich nach ihrer Erzählung über die Größe Gottes freute, und gemeinsam sangen sie den Lobgesang.
An einem Samstag ging Piet in die Stadt, denn er wollte im Schwimmbad schwimmen gehen. Er hatte noch den Bibelvers im Sinn, in dem Gott sprach, er werde hinter dem Menschen gehen und ihm den Weg weisen, daß er wisse, ob er rechts oder links gehen solle. Und so geschah es, daß, als Piet in der Fußgängerzone angekommen war (es war Anfang Dezember), er eine sanfte Stimme hinter sich hörte, die sprach: Rechts! Und Piet war freudig erregt, denn er hielt die Stimme aus dem Geheimnis seines Innern für die Stimme eines Engels; und Rechts! war sicher die beste Anweisung, war rechts doch beim Weltgerichte die selige Seite der Lämmer. Also lenkte Piet seine Schritte nach rechts, im selben Augenblick ertönte das selbe Gebot wieder, mit unwiderstehlich sanfter Gewalt, und Piet drehte weiter nach rechts, und so ging es in einem fort, daß Piet einen engen Kreis ging rechtsherum. Er ging um einen Laternenpfahl vor einer Apotheke. Und das tat er den ganzen Tag.
Inzwischen war es Nacht geworden, es waren Temperaturen unter Null, ihn fror, aber er ging den immer gleichen Kreis. Sein Wunsch war es, die Stimme Gottes zu hören, sein Wille war es, dem Gebot Gottes zu gehorchen, dazu auch auf jeglichen Komfort zu verzichten und auch scheinbar Widersinniges zu tun. Darum wandte er jeden Schritt seinem Gott zu: Gott Is-ra-els - Gott Ze-ba-oth! zählte er die Silben mit einem jeden Schritt wie einen Rosenkranz Gottes. Er besprach sich mit Gott über alle Menschen, die ihm aus seiner näheren und ferneren Vergangenheit in den Sinn kamen und legte ihre Seelen der Gnade und Barmherzigkeit des himmlischen Vaters und Weltrichters vor.
Einige späte Passanten, die ihn auch schon am Nachmittag im gleichen Kreise gehend gesehen hatten, sprachen ihn ab, ob sie ihm helfen könnten; aber er lehnte jegliche menschliche Hilfe ab, so sehr er auch körperlich litt unter dieser gewaltigen Bezwingung seines Selbst, der einzige, der ihn erlösen könnte aus dieser bitteren Winternachtskälte wäre Gott gewesen mit einem neuen Gebot. Schließlich hatte auch ein Anwohner die Polizei gerufen, denn es ward für merkwürdig gefunden, was er da unternahm. Die Polizisten als weltliche Obrigkeit waren mit ihrer freundlichen Besorgnis auch keine Erlöser für Piet, auf ihre Bitte ging er fort, um an der nächsten Straßenecke wieder seine Gebetsmühle des Wahnsinns abzuleiern.
Am Morgen fühlte er die Erlösung kommen. Völlig steif an allen Gliedern konnte er kaum noch gehen, er wankte, sich an die Hauswände anlehnend, aus der Fußgängerzone fort und schlich ins Bahnhofscafé. Dort setzte er sich zu warmem Tee und einem trockenen Brötchen. In seinem Herzen hörte er englische Chöre himmlisches Halleluja, Halleluja frohlocken. In der folgenden Nacht erlebte er das Gleiche. Diese endete aber früher, und seine Erlösung war ein warmes Bett, in dem er geruhig bis zum Morgen zu schlafen gedachte.
Am frühen Morgen, etwa um halb fünf Uhr aber weckte ihn der unfreundliche Anruf Santinis, der seinen finsteren Kopf durch die Zimmertür streckte: „Du hast mir meine Erbstücke gestohlen! Gib sie sofort wieder heraus, und dann verschwinde auf der Stelle aus meinem Haus!“
Piet erhob schlaftrunken seinen Kopf und fragte ahnungslos, um was es sich handle. Detlef aber trat, in finsterem Zorn, neben Piets Bett, hielt die Zigarette in seiner Hand über Piet und schnippte die Asche dem Schlaftrunknen ins Gesicht. Dann begann er ihn mit Fußtritten zu traktieren. Piet war wach geworden. Er rief nur immer wieder „Jesus Christus! Jesus Christus!“ und wehrte sich nicht. Das machte Detlef aber nur noch rasender, und wütend schrie er: „Bleib mir bloß vom Leibe mit deinem Abgott, dem Schwächling, deinem gottverlassenen Gott!“ Im gleichen Augenblick jaulte Detlefs schwarzer Pudel auf und wollte sich in das Getümmel hineinstürzen. Piet hielt diesen Pudel für einen wahren Mephistopheles und herrschte ihn an, der sich daraufhin mit eingezogenem Schwanz jaulend zurückzog.
„Meinen Hund herrscht du nicht noch einmal an! In einer halben Stunde bist du hier verschwunden!“ Mit diesen Worten stürmte Detlef aus dem Zimmer. Piet erhob sich, zog sich rasch an, nahm seine Bibel in die Hand und ein schmales Heft mit Sonetten aus seiner eigenen Feder und verließ in der tiefen kalten Winternacht das Haus. Er wanderte in die Innenstadt die lange leere Straße entlang, immer wieder anhaltend, sich niederhockend unter eine Straßenlaterne und im Matthäus-Evangelium lesend.
Er las von der Verkündigung des Engels an die Jungfrau Maria, ihr Wundern und ihre Demut (wie schön war diese Gestalt) und vom Namen Jesus, der der Retter sein würde von der Sünde. Er las von der heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten, und in diesem Moment konnte er sich mit den Flüchtenden gut identifizieren. Die Gegenwart des lieben Jesus in seinem heiligen Wort gerade zu dieser bitteren Stunde war ihm ein unendlicher Trost. Er war ohne Angst, ohne Verzweiflung, ohne Hoffnungslosigkeit, ohne Einsamkeit. Er ging in gottgeschenktem Gottvertrauen seinen Weg, an dem ihm Maria mit dem lieben Josef und vor allem das göttliche Jesuskind begleiteten.
ZEHNTES KAPITEL
Piet war nach Norden zurückgegangen und hatte eine Wohnung bezogen nah beim Schwanenteich, an dem er gern spazieren ging. Er las dort die Apokryphen zum neuen Testament. Besonders berührte ihn die Apokryphe vom Heimgang der Jungfrau Maria. Er sah in der Jungfrau Maria die gesteigerte Gestalt der Jungfrau Marion, sozusagen ihre höchste Idee. Ihren Tod, den Tod der Jungfrau, betrachtete er mit liebendem Herzen.
Die Jungfrau Maria fühlte in Ephesos auf dem Nachtigallenberge ihre Tod nahen, denn der Sommer kam heran und mit dem Sommer der Triumph der Sonne. Gleichzeitig sah sie auch die schwarze Wolke der Finsternis nahen, die suchte, ob sie die Sonne verfinstern und ihren Triumph verhindern könne. Aber dennoch glaubte Maria, daß die lichte Sonne den Schatten des Dämons vertreiben könne, denn sie war die allgewaltige, herrliche Spiegelung des Vaters, des Allmächtigen.
Da hob Maria ihr Herz zum Herrn und ihre schwachen Hände zum Himmel und betete mit den innigsten Seufzern ihrer Seele: „Herr! Laß mich im Frieden deiner Gnade sterben! Laß mich einen seligen Heimgang haben, wie ich seliggepriesen sein will bis zum seligen Ende im seligen Gott, den ich durch den Glauben empfangen habe und in meinem Werk geboren - aber allein mein Empfangen schon macht mich selig!“
Und da geschah, wie die Legende berichtet, ein außerordentlich Merkwürdiges, was den irdisch Gesinnten schwer zu glauben fällt, nämlich es geschah an den Aposteln Jesu das, was auch einem der herrlichen Propheten geschah, einstmals, als er vom Geiste erhoben wurde und im Geiste an einen fernen Ort versetzt zu schauen, was Gott ihm zur Schau vorhergesehen hatte. Nämlich die Apostel wurden, jeder an seinem Orte, von einer Wolke eingehüllt und ihres Umfelds enthoben.
Thomas, der nicht mehr zweifelte, sondern glaubte an seinen Herrn und Gott, den Herrn Jesus, der kam gerade von einer Predigt vor den Heiden Indiens. Sie hatten zu größten Teilen immer Shiva Shiva gerufen und dazu obszön und dämonisch gezuckt an allen Gliedern, aber einer unter ihnen war doch von den Worten des Apostels gerührt vondannen gehen, er wurde später der erste Bischof der indischen Kirche, die sich rasch ausbreitete.
Andreas war bei den Skythen gewesen und hatte einige Heiden ermahnt, nicht immer das Mariehuana zu opfern ihren Göttern und sich den Sinn vernebeln zu lassen mit dieser okkulten Pflanze, als eine Wolke von lichterem als blauem Rauch ihn einhüllte und hinwegtrug.
Petrus und Paulus beredeten sich gerade über das Verhältnis von Heiden- und Judenchristen in Rom, der ewigen Stadt, die bald in Trümmern liegen sollte, und wurden, bevor sie beide noch das Martyrium in den Gärten des sechshundertsechsundsechzigsten Neros zu erleiden hatten, für einen Augenblick auf den Nachtigallenberg versetzt.
Johannes kam vom Fuße des Nachtigallenberges, als ihn die letzten Schritte eine Wolke umhüllte und ihn mit einem Nu versetzte in die Sterbekammer der seligen Jungfrau, die er lieb hatte. Da lag sie, er sah sie schwer atmen, denn der Lohn der Sünde kam an sie, aber sie mußte diesen Lohn nicht mehr zahlen, denn der Herr Jesus hatte ihn gezahlt mit seinem Blutlohn. Dennoch atmete sie schwer, aber mit Stöhnen brachte sie hervor: „O du, den unser Herr so lieb hatte, erzähle mir noch einmal von seiner Liebe!“
„Größere Liebe hat keiner, als daß er sein Leben läßt für seine Freunde. Und der Herr hat sein Leben gelassen für dich, Maria, darum bist du selig. Darum auch konntest du so gnadenreich in der Liebe leben, die du allen Brüdern und Schwestern und den armen Verlorenen so herzinniglich erwiesen. Du bist seliggepriesen vom prophetischen Geist, dem heiligen Geist des Herrn, und darum wirst du dem Herrn entgegengerückt werden.“
Petrus wusch der Jungfrau Maria die Füße, zum letzten Male vollbrachte er diesen Liebesdienst an der Gottgeliebten. Johannes hing an ihrem Halse, umarmte sie wie man eine geliebte Mutter umarmt, und küsste seine Liebe mit dem Bruderkuß der Liebe auf ihre liebliche Wange. Paulus sprach, erfüllt vom Heiligen Geist, von der Auferstehung aus den Toten und von dem Überkleidetwerden mit der Unsterblichkeit, der Heimkehr zum lieben Gott und Herrn.
Da sah Maria den Herrn sie empfangen mit ausgebreiteten Armen, vielleicht war es ein Trost des Geistes, und freudig jauchzend sagte sie „Ja Herr Jesus, Amen!“ und fuhr gen Himmel.
Dies betrachtete Piet Buß in der Vorweihnachtszeit, die für ihn eine Zeit der Erwartung großer Liebe war, denn er hoffte immer noch, mitten in seiner beginnenden Verzweiflung um das Schweigen Marions, auf ein erlösendes Wort von der Geliebten. Mit diesen gemischten Gefühlen spazierte er über den Weihnachtsmarkt: „Tochter Zion, freue dich! Jauchze laut, Jerusalem!“ klang es aus den Lautsprechern, und Piet kannte nur eine Tochter Zion, daß war die Tochter Jerusalems, die unter dem Passionsmal gestanden hatte, die er lieb hatte. Und diese müßte doch Mutter sein...
Im selben Augenblick hörte er in seinem Innern eine leise Kinderstimme: „Papa!“ - Ah, da war das Kind, das Kind Marions, das noch in Gottes Schoß ruhte, aber ihm in diesem Augenblick als Verheißung erklang, sie würde geboren werden von Marion, und er würde ihr Vater sein, und ihr Name wäre? - „Maike...“
Piet ging seelisch schwanger mit diesem Kinde, und er liebte sie wie eine Geborene, und er wollte alle ihre Bedürfnisse stillen, alle seine Liebe ihr genauso geben, wie er sie Marion zu geben bereit war. Er zeigte ihr das Karussell mit den sich im Kreise drehenden weißen Schwänen. Er ging an den Süßigkeiten vorbei, da erklang aber im selben Moment die Stimme wieder: „Lakritz, Papa!“ - Also kaufte er eine Tüte Lakritze, und speiste die Lakritz mit Liebe und Gedenken: Einen für Marion, einen für Maike, einen für Piet...
Er glaubte, daß Maike ihn umschwebe wie ein kleiner Engel, wie es dargestellt wird auf den Renaissancegemälden, wie eine himmlische Putte, aber nicht in nacktem Körper, sondern als Geist, der erst noch zur Welt kommen müsse, aber das sei vom Schicksal schon beschlossen.
Als er in einem Adventsgottesdienst die frommen Lieder gesungen hatte, verließ er nicht eher die Kirche, bis der Pfarrer den Segen gesprochen hatte, den nur er hören konnte, den Segen über Maike. Denn gesegnet sollte sie zur Erde kommen, ja, sie sollte helfen, Marion und ihn zusammenzuführen, denn anders könne sie ja nicht das Licht der Welt erblicken, obwohl sie wie ein Engel doch das Licht allezeit vor Augen hatte. Vermutlich betete sie für ihn, wie er für sie - nicht betete, aber um sie.
Es war ein herrlicher Winter hereingebrochen. Überall schlummerte der weiche Schnee auf den nackten schwarzen Bäumen, schlief darauf wie in weißen Himmelbetten, und träumte vom Frühling, in den er sich hinüberweinen mußte, schmelzenden Herzens. Und die Bäume brauchten sich gar nicht ihrer Nacktheit zu schämen, mit der sie der kalte Tod entehrt hatte, denn der Himmel hatte ihnen ein reines weißes Kleidchen angetan, das war von Linnen, und darauf lag der blutrote Schein des sterbenden Abendsternes, der als Morgenstern am Morgen erstanden war aus der uralten Nacht des Chaos. Die himmlischen Sänger saßen, angetan mit den weißen Kronen der Bäume, im Lichte der Sonne, welche einen Goldglanz auf ihre Gefieder fallen ließ, golden wie ihre holden Äugelein, und sangen Lobeshymnen dem Schöpfer, der alles so herrlich gemacht hatte. Und die herrliche Sonne, dieser glühende Planet, ward ganz demütig und senkte ihr Haupt wie ein Ritter, wenn er vor dem glorreichsten Kaiser der Christenheit steht. Und der Himmel wurde dunkel, denn das Firmament sollte zum salomonischem Tempel werden und die Nacht zum Allerheiligsten, denn Gott wollte im Dunkel wohnen, er, der in unzugänglichem Lichte wohnt.
In diesem Frieden des Abends ging Piet Buß am Neujahrstag in die Heilige Messe. Er trat an die massive Pforte, die Türgriffe waren aus bronzenen Tauben, er öffnete, die Kirche war bis auf die letzten Bänke besetzt, so stand er bei dem Weihbecken und verfolgte voller Innerlichkeit die Messe, die der Jungfrau Maria gewidmet war...
Das Glöckchen klang und der Leib Christi wurde ausgeteilt, und Piet empfing ihn mit gesenkten Lidern und demütigem Amen in seinen Mund, da schmeckte er eine unbekannte Süßigkeit, die in seiner Seele schmolz zu hellstem, weichestem Lichte, das ihn wie eine Wolke trug. Er ging unter dem Segen ins Freie und schwebte ein weniges über dem Boden, so daß seine Füße den jungfräulichen Schnee, der während der Messe gefallen war, nicht berührte und verunreinigte. Er schwebte voller Seligkeit durch die Luft, und seine Seele tanzte einen stillen Jubel dem lieben Herrn, der ihn so lieb hatte. Und wenn auch alles um ihn finster war, in seinem Innern hatte der liebe süße Herr Jesus eine Kerze angezündet, die so überaus hell schimmerte, daß seine Seele ein stille freudiges Lächeln hatte vor heimlicher Wonne und Glück.
An jenem Abend mochte er sich mit rein gar nichts anderm beschäftigen als mit dem Lesen in der heiligen Bibel, dem schönsten Buche der Welt, das so göttlich war, daß kein anderes Buch auch nur von ferne seinen Goldschnitt berühren durfte mit den Bleihänden. Aber der Mensch, der durfte in dieser Schrift der himmlischen Weisheit lesen, und durfte das Wort essen, da wurde es in ihm wie Honig. Und was er las in jener Nacht, das war die schöne Geschichte von Rahel, von dieser holden Hirtin mit den schönen Augen...
Und Marion war Rahel, denn sie hatte schöne Augen, und sie war eine Hirtin im Haine, und er war Jakob, der ach so listige Mann, der zum Brunnen des Lebendigen, der mich sieht, kam und versuchte den Stein zu heben, und ein Engel half ihm dabei, wie die Engel immer die Steine heben, und dann kam Rahel und - küsste ihn... Und Rahel war so schön, daß Jakob sie unendlich lieb hatte, und darum wollte er sie zur Frau. Und sie wollte ihn ja auch zum Mann. Nur mußte Jakob um die Lea mit den Kuhaugen dienen sieben Jahre, und alle sieben Jahre treu sein seiner lieben holden Hirtin, bis daß er die schöne Rahel und alle seine Lämmer mitnehmen durfte in das gelobte Land. O das war wahre Liebe!
Im Februar erinnerte Piet sich an ein Wort der schönen Marion, das Italien ein Paradies genannt hatte, und dieses Wort beflügelte seine Sehnsucht nach dem Paradies! Ja, das Paradies, darin lag die Erfüllung aller Sehnsüchte beschlossen, darin gab es kein Liebesweh, darin gab es nur Liebe, darin gab es kein Unglück, darin gab es nur Glück! Sollte so ein Land gefunden werden?
Und er begann, in Venedig zu suchen, er erinnerte sich an die romantischen Gondeln, die wie samtene Schwäne daherziehen, leise singend von der Befreiung Jerusalems, und von den herrlichen Palazzi, in denen die schönsten Jungfrauen den demütigsten Rittern ihr Seidentüchlein gewähren, das kein Fehdehandschuh ist. Und er träumte von den stillen Gassen, in denen die melancholische Betrachtung den Sinn des Lebens nach der Nichtigkeit zu finden bestimmt ist. Und er gedachte der Brücke, welche die Mythographen die selige Brücke nennen, welche aus sieben Farben besteht und über welche die heiligen Engel vom Himmel auf die schöne Erde niedersteigen, daselbst mit den holden Menschen zu wandeln, welche allesamt Liebende sind und närrisch vor Freude!
Und er dachte an den Süden mit seiner bunten Lebensfreude, an das schöne Neapel mit seiner blauen Grotte, in der die blaue Blume den Tau der Liebe trank, und wo die Fischer ihre Fische am Strande verzehrten mit nachdenklichen Wanderern, und wo die allerschönsten bunten Blumen lebten, welche Jungfrauen sich zu Kränzen wanden, damit den prächtigen Tag zu verherrlichen.
Und die Ewige Stadt mit ihrem Pantheon von Anbetern, zum Himmel offen, und mit seinen Felsen, von denen man in die Seligkeit springen konnte, und mit seinen Brunnen, in denen die Erfüllung allen Glückes wohnte, und mit seinen Gärten, durch die die Märtyrer ihre Kronen des Lebens trugen! O Rom, du einziger Tempel, in dem alles Ehre! ruft, Ehre dem heiligen Vater im Himmel! Seine Stellvertreter auf Erden, die Bekenner und Zeugen, vor allem die Blutzeugen, die knieten alle vor dem Altar mit dem Weihrauch, das waren die Gebete der Heiligen, und beteten den Hirten an, der sie weidete wie Lämmer. Und da waren Fischer gekrönt. Und da waren Jungfrauen Königinnen. - Und Piet dichtete ein Sonett vom Lande seiner Sehnsucht:
„Im Untergang der Alten Welt erschuf
Die Gnade eine Neue Welt der Lust
Am Leben, saugend an der Trösterbrust
Und ewig widertönend Gottes Ruf -
Lobsingen ist dein heiligster Beruf,
O Land in deiner Schönheit, und du mußt
Ewiger Liebe Gottes vollbewußt
Aufwerfen deines Herzens Glutvesuv!
Des Namen ich zu tragen Ehre hab,
Den will ich ehren noch am heilgen Grab
Und herrlich finden in der ewgen Ruh!
Der Liebe, deren Namen du zu tragen
Die Ehre hast, der darf ichs herzlich wagen,
Die Liebe anzutragen, Jungfrau du.“
Der Winter ging seinem Ende entgegen, und von ferne nahte der Frühling. Aber in jener Zeit war der Nebel das herrschende Wetter, und dieser passte ganz genau zu dem verträumten Gemüte Piets, dem ja auch so alles verschwamm in lauter Wolken des Traums. So ging er durch den Nebel, der wie bittersüße Wehmut durch seine Seele zog, tränenschwanger, am Schwanenteich spazieren.
Die Weiden neigten sich jungfräulich-hold und sanfte übern Teich mit seinen silbernen Wassern, die da unterm grauen Nebel ruhten. Die Möwen flogen wie weiße Blitze durch den grauen Schleier, die Enten quäkten wie Nebelhörner, und eine schwarze Trauerschwanin zog die majestätisch-schwermütige Bahn von einem Ufer zum andern hinüber. „Arminia!“ rief er die schwarze Trauerschwanin leise. Da rief sie ihren dünnen Oboenton gespenstisch durch die Nebellüfte. Ihm schien es wie der Gesang einer Gondel, die singend durch das Wasser der Seele schwamm. Es war nun eine Gondel Venetias, nun eine Gondel Avalons.
Da sah er durch den Nebel, gezaubert auf der Pupille seiner Seele, die Fee von Avalon am andern Ufer stehen, schweben, ruhevoll zu ihm herüberschauen mit warmen Todes- oder Frühlingsblicken. Sie trug ein Gewand aus violettem Brokat, mit einem purpurnen Umhang um die Schultern, auf welche ihre braunen Locken fielen. Am leuchtendsten aber waren ihre blaugrünen Blicke, die Leben ankündigten jenseits der Scheidewand des grämlichen Grau, Liebe jenseits des traurigen Nebels. Das war wohl Morgain von Avalon, die Fee.... Sie war ja seine Fee... Sie hatte es ihm ja einst gesagt: „Ich bin nicht deine Fee!“ hatte sie ihm antithetisch gesagt. Er dachte in Verkehrtheiten.
Verzaubert ging er in seine einsame Wohnung zurück und legte sich zum Nachsinnen auf sein Sopha. Dabei schloß er die Augen und schaute in die Welträume innerer Träume, da sah er in den lichten Himmel fliegen seine Seele und durcheilen die Raumwelten Deutschlands, bis sie sich niederließ in Heiligenkirchen, in der schönsten Wohnung Marions. Ein violetter Schleier verhüllte das Lager. Eine Totenmaske hing an der Wand. Mit einer alten Feder (der weißen Feder einer schwarzen Trauerschwanin) tunkte sie in die blaue Tinte ihrer romantischen Seele und schrieb einen Brief.
In diesem Augenblick tat Piet seine Augen auf und beschloß, zu Ostern Marion einmal wieder zu besuchen. Er mußte wissen, warum sie so beharrlich schwiege. Er mußte wissen, was es mit der Liebe sei, an der sein Leben hing, er mußte die Entscheidung über den Sinn des Daseins auf dieser nebelverhangenen Erde erkunden, die Liebe war der Sinn, und ohne Liebe war kein Sinn, und ohne Marion war keine Liebe. Und darum mußte er vor sie treten, und sie um sein Todesurteil oder eine Begnadigung aus seinem Gefängnisdasein im Kerker der Schwermut bitten.
Da er das launische Wetter Norddeutschlands um Frühlingsbeginn kannte, da er draußen auf dem Wiesenhain unter den Buchen und Eichen zu übernachten gedachte, wollte er Gott um Sonnenschein bitten. Wie Josua wollte er bitten, vollmächtig beten darum, daß Gott die schönscheinende Sonne stehen lasse über ganz Ostern zu Heiligenkirchen. „Gott“, betete er immer wieder, „laß die Sonne still stehen zu Ajalon! Halte die Sonne an, daß kein Tropfe Regen falle auf die Aue, wenn ich schlummern will zu meiner Liebesseligkeit hinüber, und lasse leuchten das Licht deines Angesichts so gnädiglich auf meinen Aufenthalt in Heiligenkirchen, wenn ich meine Geliebte suche, das Licht meiner Seele. Laß nicht den feindlichen Regen meine letzte Hoffnung zerstören, sondern bezwinge die wandernde Sonne an jenem heiligen Tage, daß sie lächle über meine unglückliche Seele und herzerfreue Marions Gemüt; und diese stimme gnädig, daß sie sich meines elendigen Herzens erbarme und ein Wort des Friedens spreche zu meinem Geist: Alles Liebe! sei das Wort. Ja, alles sei Liebe, und nichts sei außer ihr getan.“
Als nun Ostern herankam, machte Piet sich auf die Reise nach dem begehrten Heiligenkirchen, Marion ein neues Mal zu sehen. Er kam in der Nacht vom Ostersamstag auf den Ostersonntag in Heiligenkirchen an, wanderte die Straße in den Ort hinein, und es schüttete heftigsten Regen. Blitze zuckten majestätisch-schrecklich vom Himmel, und Piet rief vor Ehrfurcht „Messias!“ beim Blitz. Da es in Strömen regnete, setzte er sich in Heiligenkirchen, nahe dem Hause Marions, in eine Telefonzelle, in der auch noch ein kleines Licht brannte.
Darin verbrachte er die Nacht, ohne schlafen zu können. Er las Rilkes „Gebete der Mädchen an Maria“ und fand Trost in diesen weichen Wohllauten und in diesem Fest der reinen Schönheit. Aber seine Seele war so bange, daß ihm die Gebete an Maria, ohne Christus, in der Tiefe nicht helfen konnten; mehr als ästhetisches Vergnügen brauchte sein zagender Geist.
Darum nahm er seine kleine Bibel zur Hand und las die Nacht im dritten Buche Mosis. Er las in der heiligen Schrift wie ein wahnsinniger Prophet oder wie ein trunkener Poet. Jene Stelle: „... und setzte ihm den Kopfbund auf sein Haupt und befestigte an dem Kopfbund vorn das goldene Stirnblatt, den heiligen Reif, wie der Herr es Mose geboten hatte“ - erinnerte Piet an die goldene Stirn des Höckerschwanes vom Schwanenteiche Nordens. Die Schwäne galten dem Sokrates ja als Propheten, die, wenn sie ihren Tod nahe fühlten, zu singen anhöben, denn sie freuten sich auf das selige Leben ihrer Unsterblichkeit. Darum wird der Schwan vielleicht im alten China auch Himmlische Gans genannt.
Das Telefongerät in der kleinen gelb erleuchteten Zelle war dem nächtlich Wachenden zu einem Altar geworden, die Zelle ihm zu einem Oratorium. Er weihte den Altar des Orators mit Gedanken des Segens, weihte seine Zelle Gott, in der er nun in Betrachtungen der heiligen Schrift und Gebet für die Jungfrau die Nacht verbrachte.
Später kam ihm diese Zelle vor wie jener gläserne Turm, von Dornbüschen verborgen, in welchem Merlin von der geliebten Fee war eingesperrt worden, von wo er nun seine Prophezeiungen aussprach über den wiederkehrenden König Britanniens, der vom Totenreiche, von der anderen Welt würde wiederkommen und ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens aufrichten würde über England. Eine echte Prophezeiung, ein Schatten des wahren Herrn war dies.
Nach Stunden, in denen die Zeit zeitlos verging, brach der Morgen herein, grau und diesig, von einer schwefelgelben Sonne erhellt. Übermüdet, überwach, überreizt an den Sinnen ging Piet aus seiner Zelle, sein Frühstück einzukaufen: Wasser und Äpfel wie beim ersten Besuch in Heiligenkirchen. Dann wartete er vor dem Hause Marions auf deren Erscheinen.
Schließlich kam diese auch heraus, gefolgt vom Manne Hartmut, sah Piet, verwunderte sich, zürnte und sagte: „Was willst du denn hier? Hab ich dir nicht deutlich gemacht, daß ich zu dir keine Kontakte wünsche?“
„Ich wollte dich noch einmal wieder sehen!“
„Wir müssen nun auch fort.“
Hartmut schob ihn hart beiseite. Er sah sie einsteigen in den Wagen.
„O Kraft und Stärke Israels!“ rief er verzweifelt, stellte sich zwischen Hauswand und Wagen an die Seite Marions und wollte sie noch einmal anschauen. Hartmut fuhr den Wagen an, lenkte näher an die Wand, Piet wurde an die Wand gepresst, wie Bileam von seiner Eselin, und ward dann verlassen von Marion.
Er konnte keinen Gedanken fassen. Nun war jede Hoffnung fort: Laß alle Hoffnung fahren! stand am Eingang zur Hölle. Er mußte auf ewig auf sie verzichten. Er konnte von nun an nur noch in der Erinnerung an wenige Stunden der Vergangenheit leben. Noch einmal wollte er das Passionsdenkmal der Externsteine besuchen, wo er ihr Liebe bis zum Tod versprochen. Dahin begab er sich also.
Als er bei den Externsteinen ankam, prasselten dicke Hagelkörner vom grauen Himmel, die geradezu wehtaten. Als er beim Denkmal der Kreuzabnahme ankam, schoben sich die Wolken zur Seite, ein wenig Sonne kam hervor. Piet dachte: Wer hat den Stein vom Grab gehoben? Ein Engel doch! Auch nun mag wohl ein Engel an meiner Seite sein. Dieser Engel war ein Bote des auferstandenen Jesus, der jetzt mit seinem Tröster und seiner Liebe bei ihm war. O nicht gleich war Piet getröstet, aber das stille Werk des Trösters begann in ihm, und gab ihm mehr und mehr Mut, den Teutoburger Wald zu verlassen und in eine Zukunft zu fahren, die er nicht wußte wie zu leben.
Als er in Richtung Oldenburg mitgenommen wurde, schien die hellste österliche Sonne, an diesem Ostersonntag war Christus auferstanden, und zu Lob und Preis dieses Ereignisses hatte sich die Sonne ihr weißestes Gewand angezogen, ihre goldenen Haare gekämmt, ihr Haupt mit dem schönsten Diadem geschmückt und blickte mit liebeglühenden Blicken in den lichtblauen Himmel, der wie eine einzige blaue Blume Liebe und Freude atmete.
Aber Piet ging wie ein Einsamer durch den Tag, wie ein Verlorener durch das Leben. Abgöttisch hatte er Marion geliebt, an sie den Sinn seines Leben gehängt, und darum war ihm nun alle Hoffnung davongefahren, und er stand dem Tode von diesem Tage der Auferstehung an nahe.
Todessehnsucht befiel seine arme Seele, Verlangen nach der ewigen Ruhe und dem Frieden und der Liebe des Paradieses. Zu schwer erschien ihm sein Kreuz, seine Not und sein Elend seine Kräfte gewaltig übersteigend. Er wollte sterben! Aber durfte ein Christ - seinem Leben ein vorzeitiges Ende setzen?
Da bemerkte der Teufel seine Not, klatschte fein bösartig in die Hände und sagte sich: „Wohlan, den wollen wir versuchen!“ Also legte er mit geistiger Gewalt dem Notleidenden einen frevlerischen Gedanken vor und sprach zu ihm so, daß Piet es für seine eigenen Gedanken hielt: „Sollte Gott gesagt haben: Du sollst nicht töten? Nun gut, und wenn ers auch gesagt hätte: Sollte er gemeint haben: Du darfst nicht freiwillig aus dem Leben scheiden?“ Piet erschrak der Gedanke, und dennoch schien er ihm verlockend. O das wäre eine - süße Sünde! Felix culpa! Da bemerkte der Teufel seinen Gedankengang und sagte listig: „Kennst du doch das geheime Christentum der Anthroposophen, das ist doch die höhere Weisheit der Eingeweihten. Die wähle dir zu deinen Lehrern, die Männer der Erkenntnis. Diese lehren nämlich, es sei zwar - wie du sagst - eine Sünde, sich selbst das Leben zu nehmen, aber es gäbe nach dem Tode ein Zwischenreich, in welchem die Seele die Gelegenheit habe, vor Gott den Fehltritt zu büßen und sich selbst zu reinigen von der Übertretung. Nun, und Übertreten des Gesetzes läßt sich schließlich nicht vermeiden, was macht da eine Übertretung mehr schon aus? zumal du keine Kraft in dir mehr finden kannst, dies Gesetz zu halten. Gib dich deiner Verzweiflung hin, ich will dich führen bis an die Stunde, da, wie wir Sokratiker sagen, die unsterbliche Seele das Gefängnis des Leibes verläßt.“
Piet war zu geschwächt in seinem schon zerrütteten Geist, zu zerschlagen von diesem großen Unglück, um die feine List des Feindes zu erkennen, er gab sich diesen tödlichen Grübeleien, dieser finstern Sehnsucht hin und überlegte lange Tage und manche Nächte, wie er sich am besten das Leben nehmen könnte. Er schrieb sogar ein Theaterstück über eine Selbstmörderin, in der er in einem verwirrten Dialog die Sünderin alle Waffen und Mittel abwägen ließ, denn sie wollte schmerzlos sterben. Er ließ sie mit einem Aufschrei zu Gott: Erbarme dich, Herr! sterben. Das war seine Meditation über den Tod Marina Zwetajewas, und in jener Nacht, da er das Stück zuende gedichtet (es war verworren), träumte er von Marina, wie sie ihm erschien, und es schien ihm ein Besuch aus der Geisterwelt zum Empfange zu sein.
Er hatte sich für ein Messer entschieden, nicht ohne den Gedanken, es sei notwenig Blut zu vergießen zum Opfer und zur Sühne und zum Gleichnis für das erlösende Blut des Herrn. Erlöser auf dem Blute! nannte er Christus von jener Nacht an. Aber er fürchtete auch, daß er, wenn er sich zum Bluten schneiden würde, gefunden und verbunden (ein einprägsamer Reim), gefunden und verbunden würde. Dann würde das Elend weitergehen, das tägliche Sterben noch gräßlicher werden, die Leiden tausendmal unerträglicher. Zudem sah er, von jenem Gedanken an, auf den Straßen, durch die er einsam und wie unsichtbar irrte, immer häufiger Menschen mit verbundenen Armen: Gefunden und verbunden! Es sollte also nicht sein.
Gleichzeitig überkam ihn eine gewaltige Lebenslust, die so voller Sehnsucht nach dem Rausch der Sinne, nach der Sonne des Südens war, daß er ein irrsinniges Poem über Südfrankreich und die Wonne an der Seite Madelaines schrieb, sie war seine Trösterin geworden; und eines Tages fuhr er nach Oldenburg, sie zu besuchen. Er lebte schon in einer zweiten Welt, der Welt des Wahnsinns, in der alles und jedes eine andere Bedeutung als die gewöhnliche hatte. Madelaine war ihm das Leben; gewiß, ein sündiges Leben, eine lebensvolle Sünderin; aber ganz entgegengesetzt dem bleichen blassen Todesengel Marion. Dennoch waren die Sinne mit ihrem süßen Sog nicht stark genug, seine Todessehnsucht zu überwältigen. Die Sinnlichkeit war nur das Abschiedsfest, die Dekadenz eines elendigen Unterganges, der Rausch vor der ewigen Nacht. Süß war das Leben in Träumen von Sonne und Süden, von heiteren provencalischen Himmeln und rauschendem Mittelmeere, von Festen des Weines und von Strömen Milchs und Honigs, und von Frauen schön wie Venus und ihre Nymphen. Der schöne Mai kam heran, und ein Fest am Abgrund des Todes feierte Piet mit dem alltäglichen Gedanken an einen baldigen Tod.
Eines Nachts im Mai verlor er das Bewußtsein. Er hatte zuletzt in einem heidnischen Buch über die Jungfrau Maria gelesen, in dem sie wie eine Göttin verherrlicht wurde. Bei dem Satz: „Als auf dem Kalvarienberge das Geheimnis der Wiedergeburt offenbart wurde...“ verlor er das Bewußtsein. Dann kam er zu sich, nach er wußte nicht wie langen Stunden, noch war es dunkel draußen; und er hatte Halluzinationen von einer unendlichen Nacht, durch die er wanderte, einem unendlichen Kosmos, den er hinanschwebte. Schließlich kam er zur Himmelspforte, die sich einen Spalt öffnete, und ein herrliches weißes Licht drang blendend hervor. Die Pforte öffnete sich vollends, und Piet irrte wandernd wie ein abgeschiedener Geist durch die Weiten des Himmels, inmitten Scharen von Seligen, Heiligen, und Engeln. Und er fürchtete sich, denn es war Anmaßung, als noch Lebender im Geiste in der Herrlichkeit zu wandeln. Aber da sprach mit tröstender Milde die Stimme eines Engels zu ihm: „Halte dich am Namen des Messias fest!“ Und er rief: „O Messias Jesus, o Messias Jesus!“ Da kehrte seine Seele aus den Höhen durch den nächtlichen Kosmos wieder zur Erde zurück. Er sah den blauen Planeten aus dem All heraus, die wirbelnden Ozeane, bald tauchte Land auf, und er kam im Jahre seiner Geburt auf einer Feier von Jugendlichen an; da saß er auf seinem Sopha in seinem Zimmer und erwachte aus seinem Wahntraum.
Voller irrsinniger Andacht zündete er eine Kerze an und versank in brütender Stille. Langsam erinnerte er sich seines Namens und wo er lebte. Da bemerkte er den Widerschein des Kerzenflämmchens in der nächtlichen Balkontür. Er setzte sich vor diese und betrachtete mit blühenden Phantasien das Flämmchen-Spiegelbild. Er sah in diesem Flämmchen das Antlitz des leidenden Christus am Kreuz, und er fühlte eine besonders innige Liebe zu seinem Herrn, der auch inmitten des blühenden Wahnsinns sein Herr war. Dann sah er den Körper Christi, und im Schoße Christi einen Embryo, und das schien ihm er selbst zu sein. Er sah seine Gestalt, seinen Rücken in der Scheibe sitzen und von hinten einen Geist nahen, das mußte der Herr sein, von dem er die Stimme hörte (er meinte, von ihm): „Nie war ich dir so nah, wie heute.“
Da wurde er müde und legte sich in seine dunkle Schlafkammer. Über seine Bibel auf dem Nachttisch huschte ein Lichtschein, dann stand vor Piet in der Kammer ein Engel, eine Gestalt von schöner Form, ganz aus weißem Licht, ein wenig von dem Orangenen reiner Gluten angehaucht. Und eine Stimme sprach zu ihm: „Ich will dir die Füße waschen.“ Darum erhob sich Piet und trat ins Badezimmer, wo er sich die Füße wusch (als tät es ihm die Engelerscheinung), und als er geendigt hatte, hörte er aus seinem Wohnzimmer die Stimme: „Ich scheide jetzt.“ - „Werden wir uns wiedersehen?“ - „Im Himmel.“ Von da an glaubte er an seinen Schutzengel. Von da an war er der geistigen Welt, jenseits des Grabes, noch näher gekommen.
ELFTES KAPITEL
Wahnsinn des Weisen, Torheit des Propheten! David lief der Speichel in den Bart, er schlug sein Haupt an das Tor von Achisch, der König aber sagte: Hab ich nicht genug der Wahnsinnigen in meiner Stadt? Die Wahnsinnigen müssen in Haufen angekettet werden.
Piet lebte in einer reinen Traumwelt, die mit dem heimlichen Lob der Venus Madelaine begann. O wie weiß ist ihr Gesicht, wie Schnee, wie das Totenhemd! Und darauf blühen Rosen, wie auf einem Grabe, das der Schnee deckt, Rosen ihrer Wangen, Blüte der Schamhaftigkeit und sinnlichen Keuschheit. Und ihre Augen, wie schwarze Grotten, aus denen die Ströme traurigen Wassers rinnen! Ihre Augen wie Neumonde schwarz, Neumonde in dunklen Nächten der Traurigkeit. Und ihre Augenbrauen, wie Seidenraupen, welche schlafen und vom Schmetterling träumen, der ich bin, oder ist der Schmetterling Piet Buß? Augenbrauen wie Schafgarbe fein, fein wie die Feder, die die Göttin der Gerechtigkeit auf die Waage legt, wenn meine Sünde gewogen wird. O und ihre Brüste, reif wie Äpfel aus dem Garten Eden. O und ihre Zunge, geschickt im Lispeln des Pallatinischen L... Und ihr Geist, der ihn zu Latein und Italienisch führt, mit der Piet in der Metro San Pietro rühmen kann und die Nonna der Madonna anbefehlen. O und ihre Länder, in denen sie als Göttin der Liebe wandeln will, wie eine Göttin in Frankreich! O die Weinberge der Provence mit ihrem Wein der Freude am Leben, mit ihren klaren Strömen lebendigen Wassers, o das Mittelmeer mit seinen Evangelistinnen, o die Stadt der Liebe mit seinen artistischen Gemälden von Harlekinen aus dem Zirkus, o die französische Poesie von Verlaine mit seinem katholischen Wahnsinn der dekadenten Trunkenheit! O das Epos von Lermontow über Zar Peter, seinen Namenspatron, und dessen Schicksal, das bedichtungswürdig ist, und Zarin Katharina! O Lob der vom Bonbon grünen Zunge mit ihrer surrealistischen Poesie des Kusses! O Lob des warmen weichen Körpers, der Leben strömt in den Körper des Umarmenden, der sich die Umarmung raubte in wilder Begier nach Leben, trunken von Todeslust! O letzte unschuldige Freude des Lebens, dem Leben im Sterben mit einem Kuß von der blühenden Wange geraubt! Laß dich segnen, du schönes Kind des Lebens nach französischer Art! Laß dich segnen und alle deine wunderschönen Schwestern, welche einen ewigen Sommer unter den heitersten Sonnen des Lebens feierten! Eine schöner als die andere, aber du die Prinzessin inmitten von Gespielinnen! O Lob dem Honig, Lob dem Sesambrot, Lob der Milch, Lob dem Käse! O Preis den Hirten des Baskenlandes - Eschkija, Ebija - und Lob den Lämmern mit ihren friedlichen Glocken! Lob dem Engel am Grabe der Muhme! Lob dem Berge des Schutzengels an deinem Namenstage! Solltest du einmal eine Heilige werden, wirst du Piets Heilige werden, die ihm den Hauch des Lebens an den Rand des Todes gebracht! O Begegnung am Tage der Sankt Magdalena, deiner Namenspatronin! O Süße deiner Küsse, deiner Umarmungen, deiner Blicke voller Tau, Hübschheit deiner Füßchen! Laß Piet ein letztes Mal, bevor er hinübergeht in die andere, bessere Welt, das Schönste des Lebens feiern, die süßen Spiele der Liebe mit einer wunderschönen Frau! „Scheidende reden trunken!“
Ein letztes Mal die Sinnlichkeit der Erde feiern mit einem lasziven Poem aus der Feder eines reisenden Briten: Spanien! Deine Sonne und deine stolzen, schwarzgewandeten Frauen, deine jungen Liebhaber mit den geheimnisvollen Halbmasken, deine stolzen Ehemänner mit dem raschen Zorn und dem mordbereiten Degen in der Hand! Weiter, fort aus Spanien, hinaus auf das wilde offene Meer! O Gesellschaft von Menschen auf dem engen Boot, einer irrer als der andere, am vernünftigsten ein armer Hund, der ertrinken wird in den sturmgepeitschten Wellen: Schiffbruch des Lebens! Mastbruch, Plankentreiben, Ermatten, ertrinkend sterben mit letztem Kyrie eleison! Einzig Geretteter, schöner Jüngling der Liebe, ohnmächtig geworfen an den Strand einer griechischen Insel! Ohmmacht, du Schwester des Todes! Schwarzumrandet die Lider, Grotten des Todes die Augen, leer die Wangen vom Blut des Lebens, schwache Seufzer der Brust, Stöhnen und Röcheln der Kehle - Karach - und Kampf des Todes mit dem Leben. Dieses kommt in der Gestalt Haidis, der schönen Heidin. Blut auf den Wangen, Haare schwarz wie die Nacht, lang und wallend, weiche weiße Haut, Blut auf den Wangen (noch einmal), schwarze Augen, voller Gluten Griechenlands, lange rote Wimpern - o Wimpern der Morgenröte, Wimpern der Venus! Schönstes aller Mädchen aller Poesien, süßester Liebreiz, dein Kuß war Leben, geküsst auf die Lippen des Todes, den Toten ins Leben erweckend mit der Liebe! Wunderschöne Szene: das Haupt eines Sterbenden gelegt auf den Schoß eines stillen Mädchens voller unschuldigen Liebreizes! Mütterliche Fürsorge der Zofe oder Amme, die mit Brot und Wein kam, und mit Schafskäse und Oliven. Wunderliebe Nacht in einer dunklen Grotte nah am rauschenden Meer, Mondnacht voller Zauber und stillem süßen Frieden, zarter Beginn der Morgenröte - die schöne Morgenröte mit den goldenen Haaren, dem Diadem des Morgensternes im Haar, den Rosenarmen und den Lilienfingern, sie streut goldenen Purpur des Lichts auf die zum Leben erwachende Flur!
Und rastlos weiter wanderte der schöne Jüngling der Liebe in den Orient, und ward gebracht von einer schönen Frau in den Harem des Sultans, Jüngling unter Mädchen, wie Herakles am Webstuhl, wie Piet mit Madelaine und ihren Schwestern. Heiteres Geschwätz, munteres Plaudern der Mädchen, unverfänglich-verfängliches Zwitschern der Spätzlein. Dazwischenrauschen der strengen Aufseherin. Schlafen Seite an Seite in den duftenden Wonnelagern der Leiblichkeit. Süßeste Reime, süß wie Mädchenblicke, süß wie leichte Leibchen, süß wie türkischer Honig heimlich genossen!
Weiter von den Sarazenen in das orthodoxe Rußland, auch da: Leben in Wonnen der Liebe: Zarin Katharina nimmt den jungen Helden an ihre Brüste, doch vor der Buhlerin flieht er auf die Insel Neptuns, dort der Aurora zu begegnen, der Geheimnisvollen, der zuletzt ihm begegnenden Jungfrau...
Jungfrau, du Zauberwort! - Weh mir! rief Piet und schlug mit dem Kopf an die Wand seines Zimmers, und weinte.
Da ward er aufmerksam auf die junge Tochter seines Vermieters, die im ersten Stock, unter seiner Wohnung wohnten. Piet zählte an die dreißig Jahre, sie war so um die sechzehn Jahre jung und frisch und hübsch, eine graziöse Nymphe. Ihre Gestalt schlank wie ein Vase aus Jade, mit einem blühenden Pfirsichzweig darin. Ihre Haare rote Locken, wie die Haare der Venus von Botticelli. Lachend sprang sie abends aus dem Haus, mit Freunden tanzen zu gehen, sehnsüchtig nach Leben schaute er ihr aus dem Fenster nach, entsagend, denn das Leben war für ihn vorüber, nur wie eine flüchtige Abendröte huschte ein Streif junger Lebenslust an ihm vorüber, den ihn die ewige Nacht erwartete: wie ein junger Streif Morgenröte wahrer Wonne tanzte sie vor seinen Augen in der reinsten Anmut, wie ein junger Todesengel, der an der Pforte zum wahren Tag erschien: dem Tag des ewigen Lebens. Sie war echtes Leben, ganz im Diesseits zuhause mit ihren Jungmädchenlüsten und Jugendfreuden; ihm aber war sie die Musik aus dem Nachbarzimmer, ihm kam sie wie ein Duft von reizendem Parfüm über die Schwelle seiner Wohnungstür geschlichen, ein Geist von süßer Anmut.
Einmal trat sie um Mitternacht in ihrem Seidennachthemd in sein Zimmer, ihn zu bitten, die dramatische Symphonie ein wenig leiser abzuspielen; ein Zauber von einer jungen Fee, die wie eine betaute Lilie war, eine Elfe, die ihm zwei junge Pfirsiche brachte und transparente Seide voller betörenden Duftes und Sommernachttaus. Und leise lächelnd, voller Unschuld, verschwand sie wieder, schwebend, aus seinen Räumen eines Sterbenden. Wie ein alter Mann saß er auf seinem Sopha, den in seiner Todesstunde die geliebte Enkelin besuchte hatte, ihm mit einem lieblichen Lächeln die schwere und doch ersehnte Todesstunde zu versüßen. Und einmal wagte er sich gar in ihr Jungmädchenzimmer und sah sie, müde vom nächtlichen Tanzen, am Morgen noch so unschuldig schlafen: die rötlichen Haare hold verwirrt auf dem Kissen, ein bloßer Arm müde aus der Decke hervorruhend. Verwirrt von soviel Lebensschönheit ging er zurück in seine Geisterwohnung, wo der Engel des Todes mit ihm wohnte.
Eine kaum weniger liebreizende Erscheinung sah seine todesnahe Sinnlichkeit, die Dekadenz seiner Seele, oder das süße Ziehen des Lebens, am Strande der Nordsee, wohin er mit seinem Rad gefahren war. Niemand sah ihn, schien ihm, er war allen lebenden Menschen unsichtbar, denn er war nur noch zu Gast auf dieser Erde, das Siegel des Todes lag schon auf ihm. Zwei Vietnamesinnen (Chinesinnen lieber) standen mit bloßen Beinen, dünnen Seidenhemden, langen lackschwarzen Haaren in der Flut der Nordsee, spielten mit ihren Füßen mit dem Wasser, tänzelten hinaus, warfen sich ins Wasser und schwammen davon. Eine Ankunft der Venus kannte er wohl von dem begehrenswerten Gemälde, aber hier verschwand die Venus in das Meer hinaus, in die Ferne, in das Ungewisse, in das Nichts oder das wahre Leben des Todes.
Piet aß kaum noch, nur ab und zu eine Tüte Erdnüsse, dafür trank er vom Abend bis in die tiefe Nacht um so mehr des Weines, nicht mehr den italienischen Perlwein, den er für Marion getrunken hatte, sondern chinesischen Wein. Trunken flossen ihm die süßlautendsten Verse von verwirrtem Gehalt aus seiner Feder. Wenn er dann beim Anbruch des Morgengrauens sich schlafen legen wollte, trank er ein Likörglas voll Baldrianweines, um seine aufgewühlte Seele zu beruhigen. Er träumte, wenn die Müdigkeit mit mohngekränztem Haupte und bleiernen Flügel herankroch, von der Feenkönigin, die ein elegischer Bruder seiner Seele, ein Bruder der wahren Renaissance, so süß besungen hatte.
Er sah eine allerschönste Jungfrau, die Eine, mit langen goldenen Haaren, auf einem weißen Maultier reiten durch die Auen des Märchenlandes. Der edle Ritter vom roten Kreuze liebte sie von ganzem Herzen. Er ging selbst für sie in die finsterste Höhle, in der ein Ungeheuer mit sieben Schlangenhäuptern und Frauenleib wohnte, die er mit dem Blut seines Schwertes überwand.
Ein alter Mann ging an einem Pilgerstabe durch die Auen Märchenlandes, sein Haar war ein weißer Kranz um den bloßen Schädel. War es der heilige Petrus, der Hirte, Piets Namenspatron und Lieblingsheiliger? Der Alte betete fleißig murmelnd Rosenkränze: „Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat; Jesus, der für uns gegeißelt worden ist; Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist; Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat; Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist“ - aber als der alte Mann in seine Eremitenklause trat, legte er sein frommes Büßergewand ab und widmete sich der Alchemie. Er erschuf in künstlichen Retorten einen künstlichen Menschen, schön wie die Jungfrau, aber falsch von Seele, und diese war die zweite, die falsche Jungfrau.
Der Ritter des roten Kreuzes aber entlarvte diese falsche Gestalt, und begegnete Prinz Arthur, der auf dem Weg zum Hofe der wahren Jungfrau war, welche die Königin der Feen, die Königin des Märchenlandes war. Und andere Ritter bestanden Abenteuer auf diesem wirrnis- und irrnis-reichen Wege durch die Welt, aber einer, von dem Piet wußte, der kam schließlich doch (über das dunkle Meer gefahren) in das Haus der Heiligkeit.
Dort begrüßte ihn Jungfrau Hoffnung: Hast du gehofft? - Ich war voll der seligsten Hoffnung! Aber meine Hoffnung war im Irdischen schwach, ja ohnmächtig, zu schwer war mir mein Kreuz, zu eingewachsen in die Furchen meines Rückens, als daß ich es abzuwerfen hätte hoffen können, und es weiter zu tragen, schien mir unmöglich. Aber dennoch war ich voller Hoffnung, und meine Hoffnung war: die ewige Glückseligkeit! Niemals hätte ich einmal zu oft von diesem herrlichen Worte geredet, sondern all mein Ja und Amen war die ewige Glückseligkeit, das ewige Leben im Paradiese, die Ankunft in Jesu Reich, wo mir der Erlöser auf dem Blute würde alle bittersten Tränen von den Wimpern küssen. Er war ja auch freiwillig in den Tod gegangen (Gott vergib mir meine Sünde) - Ja, wenn ich vor Gott ankommen sollte, ich würde mich mit dem tränenüberströmten Antlitz voller allertiefster Demut und im Bewußtsein meiner allerelendsten Unwürdigkeit vor dem Heiligen niederwerfen und mit einem Herzen voller brennender Reue ihn flehend um Vergebung für meine schreckliche Sünde anrufen - ach Herr, erbarm dich meiner, ich bins nicht wert, ich wußt nicht anders mehr zu handeln, im tiefsten Elende ging mir meine Seele und mein Leben zugrunde, ich konnts mir nicht bewahren. Das einzige, was ich mir bewahren konnte, war meine Hoffnung auf Erlösung von den Todesschmerzen und dem ewigen Leide, die Erlösung meines Erlösers auf dem Blute, Christus, meines Herrn!
Und dann begegnete ihm Jungfrau Glaube und sprach zu ihm mit mütterlicher Stimme: Hast du geglaubt? - Und er antwortete: Ach Jungfrau, ich hab von Herzen an deinen Gott geglaubt, und ich habe geglaubt, daß er eine ewige Erlösung für mich hat! Ich habe geglaubt, daß er mich nicht mehr länger in diesem unsagbaren Elende lassen wird! Ich habe geglaubt, daß er mich retten wird aus diesem Jammertal und Tal der Tränen, und daß er meine Hoffnung sieht auf den Kuß des lieben Herrn Jesus, der ja - und das ist mein Glaube - für meine Sünde am Kreuz auf Golgatha gestorben ist! Ich habe vieles geglaubt, was mich vielleicht vom reinen Glauben abgelenkt hat, ich habe nicht jedes Gebet zu Gott allein gewandt, aber ich wußte doch, daß allein Gott mein Schöpfer und mein Herr und Heiland ist. Sieh meine Kleinglauben an, die Not meines Unglaubens und die hoffnungslose Verzagtheit meines Glaubens, und rette mich nicht um meines Glaubens willen, sondern um Jesu willen und seiner unendlichen und unerschöpflichen Barmherzigkeit!
Und dann begegnete ihm Jungfrau Liebe: Und liebtest du? - Ach Herrin, du weißt, daß ich liebte. Ich liebte dich von ganzem Herzen und mit allem Blute meines Herzens und mit allem Glühen meiner Seele und mit allem Wahnsinn meines Verstandes und mit aller Verblendung meines Geistes! Ich liebte dich als das süße Herz Jesu, ich liebte dich als die von Maria geborene Herrin, ich liebte dich als die Freundin Magdalenas, ich liebte dich als die Hirtin des Petrus, und ich liebte dich vor allem und am innigsten am Kreuz, wo du für mich zu Tode geblutet hast dein liebreiches Leben!
Und dann kam ein Ritter, Piet hoffte ihn zu kennen, in „die Gärten des Adonis“ (was nicht mehr als klassisch-poetische Diktion war) und in die grünen Auen des Lebens, mit den Blüten süßer Liebe, mit den seligen Nymphen ewiger Schönheit und Jugend, mit den Spielen der Liebe und dem ewigen Preisen der Liebe, mit der Wonne voller Ruhe, mit dem linden Maienfrieden beseligter Seele, mit der Holdheit eines himmlischen Paradieses; und der, dessen Maske Adonis war, er wäre der Schönste von allen...
Und in der tiefen Nacht, mitten im Schlaf, tat Piet die Augen der Seele auf und sah, und siehe, seine Seele war ein Kind. Er war unschuldig-schuldig, er war liebebedürftig, trost- und geborgenheitsbedürftig, hungernd nach Barmherzigkeit und dürstend nach Gnade. Wie ein Kind in den Armen seiner Mutter, so bei Gott zu sein, war seine tiefste Sehnsucht. Und da erschien über ihm ein gewaltiges Feuer, das aus sieben Augen hervorströmte, und seine Kindesseele ward durch dieses Feuer hindurchgerissen, und es erschien vor ihm eine wunderschöne Frau mit mütterlichem Blick, und sie reichte ihm eine Brust, an der der Säugling sog, und da strömte in ihn die lautere Milch der Liebe Gottes. Und es schien ihm noch im Traume, daß diese Frau die heilige Maria Magdalee war, die geheiligte Sünderin, die Freundin und Geliebte Jesu, in deren Erscheinung wie in einem Gleichnis Gott selbst seine unendliche Liebe zum Ausdruck bringen wollte für die Kindesseele Piets.
Am Morgen las er am Ende der Prophezeiungen Jesajas folgende Verse, die ihm seinen Traum zu deuten schienen, und die seine Liebe zu Gott beflügelten: „Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutterbrust ... Ihre Kinder sollen auf dem Arme getragen werden, und auf den Knien wird man sie liebkosen. ICH will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.“
„O Gott, wie eine Mutter tröstest du dein Kind, wie ein Säugling ist meine Seele bei dir, nun darf ich saugen die Milch des Trostes von den Brüsten der Weisheit Gottes, saugen die lautere Milch der ewigen Tröstungen von den Brüsten der Liebe! O himmlisches Jerusalem, in dir werd ich meine ewige Glückseligkeit, meiner Seele Seligkeit, meine unerschöpfliche, jeden Augenblick sich steigernde Freude haben!“ Und Piet sehnte sich nach diesem Troste der Mutter Jerusalem, er sehnte sich nach ihrem Rosengarten des Paradieses, er sehnte sich danach, sich in die reine Wolle des Lämmleins zu schmiegen und Frieden zu finden seiner Seele in der Ewigkeit Gottes. Fort aus diesem Jammertal, fort aus diesem Tal der Tränen, fort aus diesem Elende, hin zur Mutterbrust der Liebe Gottes, hin zu dem überfließenden Becher der Seligkeiten, aus dem finstern Tal der Todesschatten fort, zur holdseligen Aue des Erzhirten, zur gefalteten Rose, zum unzugänglichen Lichte ohne schreckende Schatten!
O schreckende Schatten, die ihr euch als Versuchungen zum Tode und zur Qual der Seele nahtet! - Piet ging eines Nachmittags am Schwanenteich spazieren. Er liebte die zarten Rehe im Gehege, die Wellensittiche und die Pfauen in den großen Käfigen, die trompetenden Gänse weniger, sie waren ihm zu kriegerisch, aber er sehnte sich nach Arminia, der schwarzen Trauerschwanin. In seiner Hand hielt er ein Stück Weißbrot, und als Arminia sich ihm nahte, da warf er ihr einen Brocken hin, sie hob mit ihrem blutroten Schnabel dies Brotstück auf und warf es ihm zurück, hob die feine Stimme zur Kommunikation, er verstand, brach das Brot und warf ihr eine Hälfte hin, die sie gerne aß. Dann ließ sie sich ins Wasser, ließ aus ihrem schwarzen Gefieder eine weiße Feder sinken, trieb sie mit Wellenbewegungen ans Ufer, daß Piet sie sich nehme, und schwamm dann hold davon.
Da war Piet für einen Augenblick erfüllt von Frieden der Seele. Dann aber kam das gräßliche Grauen über ihn, das ihn an den Rand des Todes treiben sollte: Er sah den Teich wimmeln von unzähligen braunen Ratten, vor denen er einen abgrundtiefen Ekel hatte! Er hörte ihr widerliches Piepsen, daß ihm Eisschauer durch die Seele schlugen. Vom Schrecken gepeinigt wandte er sich ab, verließ die Szenerie und ging zu seiner Wohnung zurück. Sollte er an Pest sterben? Er sah zum Himmel, um sich am Blau und den Lämmerwölkchen zu erbauen, aber zu seinem Elend und Schrecken sah er eine Wolke in Gestalt einer Ratte näher kriechen. Er floh in seine Wohnung, bekreuzigte sich und wandte sich der Bibel zu, bei der er Frieden fand, ach! nur vorübergehenden.
In der Nacht hatte er einen weiteren Traum aus der Welt der Heiligen. Es war Nacht im Innenraum seiner Seele, im Weltinnenraum des Traumes, da die Seele des Träumenden einen Hirtenknaben mit einer Harfe und einer Steinschleuder auf einem Füllen einer Eselin sah reitend nahen, und dieser Hirtenknabe führte die Seele weiter zu einer weiten Blumenwiese, blaue Blumen umher mit holden Köpfchen und grünstes Gras, da stand in einem langen weißen Gewande und mit einem weißen Schleier, der ihr Gesicht verbarg, eine Mutter, die war die Mutter Gottes. Und die Seele des Träumenden lag in ihrem Bette und träumte, träumte wehmütig, träumte Traurigkeiten, da kam eine Jungfrau herbeigeschwebt aus schönstem Lichte und von auserwählter Schönheit der Seele, und jungfräulich-mütterlich legte sie seiner weinenden Seele ihren zarten Frauenfinger auf den Mund, da ward er ganz still - wie ein Kind bei seiner Mutter, war seine Seele bei Gott.
Am Tage aber war es nicht so lind und hold, denn es stritten wie Tag und Nacht, wie Licht und Finsternis, das Heilige und das Dämonische um seine Seele. Das Böse aber erschien in der Gestalt von huschenden Schatten, die alle die Form von braunen Ratten hatten. Jeder Anblick eines solchen Schattens, der immer unvermittelt von irgendeiner Seite kam, fuhr Piet wie ein entsetzlicher Stich durchs Herz, er schrie auf! Er sah die Ratten immer genauer vor sich, ob er die Augen offen oder geschlossen hatte, er sah die zitternden Bartspitzen und die stechend-glühenden Augen, und fürchtete sich zu Tode. Schlimmer noch kam es nach drei Tagen, es war Mitte Oktober, da umgab ihn neben den Schatten des Todes auch noch ein widerlicher Gestank, der Gestank einer Pest, unerträglich beißend, ein Höllengeruch!
Voller Verzweiflung war er nur noch Gebet! Er hielt sich am Wort Gottes fest, die Bibel einmal an sein Herz pressend, einmal aufschlagend und laut, laut lesend. Er wandte sich unmittelbar zu der allerheiligsten Stelle von der Passion Christi. Er war Gebet um Rettung aus diesem Wahnsinn - daß er wahnsinnig geworden war, war ihm inzwischen aufgedämmert. Und er schrieb mit dem schwarzen Blut des Elends als seiner Tinte folgendes Sonett:
„Sie brachten ihn zur Stätte Golgatha,
Der Schädelstätte, und sie gaben ihm
Viel bittre Myrrhe! Keine Cherubim
Zum Troste seiner Leiden waren da.
Zur dritten Stunde schlugen an das Kreuz
Die Sünder ihn, den heiligen Messias,
Den Juden-König und den Sohn Marias,
Und losten um das Kleid mit bösem Geiz.
Es litt der Juden und der Heiden Spott
Der arme Jesus, er trug mit Geduld
Der Menschenseelen todeswerte Schuld;
Auch meiner Sünde Fluch hat er gelitten,
Ist sterbend mir in meinen Tod geschritten -
Und bringt mir meine Seele heim zu Gott.“
Unerträglich waren die Ratten und der Pestgestank, unerträglich war damit das Leben! Welch einen Ausweg könnt es ihm geben außer dem Tode? Er dachte wieder an das Blutvergießen, und ging hin und kaufte sich ein Messer. Der Versucher nahte.
Und Piet Buß betete: „Herr Jesus! Sieh mein Elend und meine Klagen! Ich schwemme mein Bett mit Tränen, die ganze Nacht durch weine ich und schreie! Ist kein Retter da? Erlöse mich von meinem Elend, erlöse mich von meinem Leben! Herr, ich will daß das Grab mein Vater und die Würmer mir Mutter und Schwestern seien! Herr, ich bin von Jugend auf nahe dem Tode, ich bin wie ein Totengräber, und die Menschen gehen vorüber und kennen mich nicht! Vater, meine Seele ist betrübt bis zum Tode! Ich habe keine Kraft mehr, mein Gebein ist erschrocken, meine Seele verzagt! Herr, meine einzige Hoffnung ist, daß mein Erlöser lebt und daß ich sein Angesicht sehen werde! Vater, wird Schuld an meinen Händen sein, wird Blut an meinen Händen kleben, so vergib mir um meiner elendigen Verzagtheit willen, um des ausweglosen Schmerzes willen! Trete mein Leben in den Staub, denn ich bin meines Daseins völlig überdrüssig und die Welt ist mir verleidet bis auf ihre letzte Herrlichkeit, die wie ein Hauch und wie ein Rauch verweht! Gott, laß mich sterben! Ich habe solche Sehnsucht abzuscheiden und bei dir zu sein, in deinem Paradies und himmlischen Jerusalem, meiner Mutter allen Trostes! Erbarme dich meiner, Herr, erbarme dich meiner, Christus, o Miserere, Gott!“
Ein neuer Tag begann sehr früh, denn Piet hatte unruhig geschlafen; so kam es, daß er sich mittags noch einmal für eine Stunde auf sein Sopha schlafen legte. Da träumte ihm, er sähe den lichtblauen Himmel von oben, und zu seinen Füßen trieben weiße Wolken, und er wanderte durch die Auen des Äthers, bis er einen kleinen kristallenen See in der Ferne sah, und an dem See saß der Geist seiner Großmutter. Diese war immer noch von ihrem gütigen Alter, aber völlig gesund und kernschön. Sie schrieb mit dem Zeigefinger ihrer weißen Rechten in den See ein Wort auf hebräisch oder koptisch. Im selben Augenblick fühlte der träumende Piet auf dem Sopha, daß eine Botschaft bei ihm angekommen sei. Er trat mit der unverstandenen Botschaft in ein orientalisches Restaurant und bestellte ein Abendessen: Reis und Reiswein. Von dem Reiswein ward er so unendlich müde, daß bleiern seine Lider zusanken und er erblindete. Mit letztem Blick sah er einen schönen Mann in bestem Alter neben seinem Tisch stehen, in einem vornehmen Gewand und mit gütigem Blick, und erblindet dann bat er diesen, ihn nach Hause zu bringen. Dieser stützte nun den Erblindeten und führte ihn zur Tür. Da ging die Tür auf, und er sah wieder, und was er sah, war der Himmel, ein überaus herrliches Licht, weißer als Schnee war alles in allem. - Da erwachte Piet. War dies sein letztes Abendmahl vor dem Heimgang aus dem Jammertal in den herrlichen Himmel gewesen?
Den ganzen Tag über war er unendlich müde. Dazu kroch in seiner Seele die ganze elendige Traurigkeit seiner unendlichen Einsamkeit in ihm hoch, vom Herzen aus die ganze Seele erfüllend. Tränen quollen aus seinen Augen, und großer Schmerz durchglühte seine Seele. Weherufen troffen von seinen verbitterten Lippen, und er schlug wieder einmal mit dem Kopfe gegen die Zimmerwand, um durch einen physischen Schmerz den größeren psychischen zu vertreiben; was ihm nicht gelang, sondern noch größer ward seine Not, weil es kein Mittel dagegen gab. Da warf er sich auf den Boden, mit dem Angesicht zur Erde, und streckte seine Arme gerade aus zu beiden Seiten, daß er die Gestalt eines Gekreuzigten annahm, und diese Haltung war sein stummes Gebet an den Gekreuzigten, dem er in seinem ihm unermeßlichen Leide ähnlich sich fühlte. Sein Gebet waren Tränen, sein Gebet war ein qualvoll hervorgepresstes Vaterunser, bessere Worte konnte niemand finden. Ein Trost voll süßer Wehmut kam über seine Seele.
Am Abend trank er früher als gewöhnlich sein Likörglas voll Baldrianwein, um in den Trost der Mutter Nacht, unter ihren weichen Madonnenmantel zu fliehen. Er schlief zwar alsbald ein, erwachte aber um Mitternacht von einer Stimme, die ihn in seinem Geiste oder von außer ihm weckte: „Heute nacht will ich dich schlagen mit dem Schwerte, und niemand soll dich finden und verbinden!“ sprach der Versucher zu ihm, und Piet Buß hielt die Stimme des Engels, der sich zu einem Engel des Lichtes verstellt hatte, für die Botschaft der Erlösung aus dem Jammer des Daseins. Er wollte gehorchen, einerseits voller ewiger Hoffnungen, andererseits voller irdischer Schrecken. Angst vor Gott war ihm in diesem Augenblicke fern, denn er hielt sich für gerufen vom Himmel her, daß seine letzte Stunde im Tal der Tränen gekommen sei, und die Morgenröte der Herrlichkeit aufginge.
Am nun hereinbrechenden Tage schrieb er sein Testament, in dem er seine Mutter mit der ewigen Hoffnung und der kommenden Herrlichkeit trösten wollte, und in der er sie bat, seine gesammelten Sonette, die er alle mit schwarzer Tinte feinsäuberlich abgeschrieben hatte, in einem kleinen Büchlein für Marion herauszugeben bei irgendeinem gutmütigen Verlag. Besitz hatte er ja nicht, und auch keine Erben. Nichts hielt ihn hier. Jedes vorgenommene Werk war vollbracht. Das Ende aller irdischen Dinge war gekommen. Dennoch zitterte er vor Zagen und Bangen. Aber das Wort der Versuchung klang noch in seinem Ohr und machte ihn fest in seinem umfinsterten Entschluß.
Ein letztes Mal ging er spazieren an diesem Tag. Über dem schmalen Weg am Schwanenteich schwebte ein weißes Wolkengebilde, daß er genau betrachtete, bis er feststellte, daß es einen Engel darstellte auf der rechten Seite, womöglich Michael, den Erzengel, der gegen den Drachen kämpfen würde, und auf der linken Seite nämlich eine schreckliche Ratte, die aufbegehrte gegen das Gute und Schöne; aber der Engel hob seinen Arm mit einem Schwerte und schlug die Ratte zu Tode. Das war nun gewiß ein Zeichen seiner reimenden Phantasie, und er reimte sich dies zusammen: Der Engel war sein Schutzengel, und der gab ihm, Piet, sein Schwert, nämlich das Messer mit dem Perlmuttgriff und der scharfen Solinger Klinge, und mit diesem Schwert würde er die Ratte töten, nämlich das irdische Dasein im Fleisch, das so ekelhaft war wie eine Ratte und so stinkend wie die Pest. Erneute Bestätigung des versucherischen Gebotes zum Tode war also an ihn ergangen.
Er kaufte Brot und Wein zum letzten Mahle ein, bei sich zuhause das Abendmahl feiern zu können, das er täglich beging mit Segnung des Brotes und des Weines durch das Zeichen des Kreuzes. Vor dem Sterben war Abendmahl zu feiern! Als er nach der traurig-einsamen Feier sich eine letzte Tasse Tee bereiten wollte, sah er zum blanken metallenen Teekessel, und an dem Teekessel sah er eine Erscheinung: Es erschien ihm in einem weißen Gewand, mit orangenen Gluten der Liebe des Morgensternes angetan, in wunderbarer fast weiblicher Schönheit sein Schutzengel; blonde, goldene Locken flossen auf die Schultern. Dieser Engel sah aus wie jener, der auf dem Gemälde des sanft-schönen Raffael den heiligen Petrus aus dem Gefängnis befreit hatte (und Petrus war ja Piets Namenspatron). Also kündigte diese Erscheinung Befreiung aus dem Gefängnis an, dem Gefängnis der Seele, nämlich dem Körper, wie Platon schon gelehrt. Tatsächlich erschien auch die zukünftige Freiheit in diesem metallenen Spiegel. Denn nachdem der Engel das Zeichen des Kreuzes gemacht hatte, verwandelte sich die Szenerie, und eine große Pforte erschien, die langsam sich auftat, und hinter ihr erschien ein herrlich-weißes Licht (wie in seinem Traum) und in dem Lichte sah Piet im Teekessel erscheinen die Gestalt Christi am Kreuze, wie er seinen Kopf zur Seite neigte und sanft in seinen Leiden verschied: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist... - Und in Christi Hut befahl der Wahnsinnige seine umwölkte Seele.
Und Piet dachte an das biblische Gebot: Singt dem Herrn ein neues Lied! und so setzte er sich zum letzten Mal an seinen Tisch und dichtete das Sonett seines Heimgangs (wie er dachte):
„O Jesus! mitten in dem Jammertal
Der bittern Tränen sitze ich und wein!
O laß das Blut des Todes werden Wein
Und diesen Leichnam Manna allzumal!
O Jesus! letzte Stunde meinem Elend
Und meiner untragbaren Leiden Not
Ist nun. Ich suche meines Leibes Tod,
Die Seele bist du ewig mir beseelend!
O Jesus! löse mich aus dieser Qual,
Die Engel Satans sind so sehr mich quälend,
Ich sterbe bald, ich habe keine Wahl.
Du wirst, all meine Tropfen Blutes zählend,
Mich retten aus des armen Hiob Mist!
O Jesus Christus! O Herr Jesu Christ!“
Die Nacht war da. Er segnete die Zelle seiner Tränen mit dem Zeichen des Kreuzes, allein die Bibel in der Jackentasche fuhr er mit dem Rade durch die Nacht nach ..., wo er zur katholischen Kapelle fuhr, neben der sich ein kleiner verwilderter Garten befand, in dem er seinem irdischen Leben ein Ende setzen wollte. Der volle Mond schien am Himmel, und Piets überquellende Phantasie ließ ihm aus den weißen Mondstrahlen ein gezimmertes Kreuz am Himmel stehen. Dann schien ihm der Mond eine Madonna mit einem weißen Schleier zu sein. Dann schien ihm der Mond eine Hostie zu sein. Dann aber sah er, was tatsächlich da war, eine Gruppe von Jugendlichen vor der Kapelle stehen und lachen. In der verwilderten Einsamkeit seiner verdunkelten Seele schreckte er vor Jugend und Gelächter zurück, zog sich heimlich zurück und begab sich in ein italienisches Café in jenem Ort.
Dort bestellte er sich einen Espresso und träumte von den venezianischen Masken an der Wand, die alle eine silberne Melancholie verströmten. Die ganze bunte Poesie von Colombine zog an seiner Seele vorüber. Wie lustig war er ausgezogen, wie ein geigespielender Taugenichts, wie tragisch sollte nun die ganze Komödie zuende gehen. Colombine, die bunte Gestalt, der Mythos seiner Liebe, war nun das bittere Antlitz mit der melancholischen Träne; seine Liebe war sein Schmerz geworden, das Glück seines Lebens war ihm zum bitteren Elend seines Todes geworden; Licht war Finsternis, und Honig war Galle geworden.
Dann begab er sich wieder zu jener katholischen Kapelle. Er wollte, bevor er den verwilderten Garten betreten würde, ein letztes Mal in der Bibel lesen; fand aber in seiner Jackentasche einen abgerissenen Zettel, der aus einem Poem für Marion stammte. Er las die schwärmerischen Verse verliebter Poesie mit einem wehmütigen Blick auf längst untergegangene Zeiten:
„Dein Kuß war wie die heilge Salbe Onych,
Mir wurde dieser Trank zur bittern Myrrhe.
Das Weiße deines Auges, wie ein Onyx,
Verbrannte mich zu öder Wüstendürre...“
In der Bibel las er von der Freude der Tochter Zion, von dem Jauchzen Jerusalems; und er nahms für Verheißung auf das Himmlische Jerusalem mit dem Garten der Freudseligkeit. Damit begab er sich in den Garten, setzte sich unter eine Blutbuche, und schnitt mit seinem Messer - Jesus! Jesus! Jesus! flüsternd - in den Arm. Er wurde schwach. Da hatte er Halluzinationen: Er sah ein wunderschönes Mädchen, liegend auf einem rotsamtenen Sopha auf einem schneeweißen Linnenlaken, über die die goldbraunen Haare flossen. In der Hand hielt sie einen Rosenkranz, von blühenden purpurnen Rosen umwunden. Magdalena? Dann sah er eine Mutter mit einem nackten Kinde auf dem Arm erscheinen, die Mutter in einem roten Hemde, mit einem nachtblauen Rock und einem beigefarbenen Schleier. Maria! Dann sah er einen Mann, mit braunen langen Locken, ernst-freundlichem Blick, an einem Tische sitzend, die Arme wie zum Willkomm ausgebreitet. Jesus! Ein weißer Schimmer stand im Garten neben ihm: sein Schutzengel, bereit ihn in die Herrlichkeit zu bringen? Eine vom Mond erleuchtete Wolke in Gestalt einer Taube erschien am Firmament vor ihm: der Heilige Geist war nahe? O Jesus! laß mich sterben! dachte er, und schnitt noch einmal in seinen Arm; warmes Blut quoll über seinen Arm.