Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

Die chinesische Tugend



Von Josef Maria Mayer

Sieh, die Erfahrung spricht
Aus meinem klugen und didaktischen Gedicht.“
(Puschkin)



DIE MUSIK


1

Die Töne entstehen
Im Herzen des Menschen.
Die Kombination der Töne
Zur Erheiterung des Menschen
Und ihre Verbindung mit Federn und Quasten
Wird Musik genannt.

Wenn das Herz von Trauer bewegt ist,
Wird scharf und sterbend der Laut.
Wenn das Herz von Heiterkeit bewegt ist,
Wird langsam und weich der Laut.
Wenn das Herz von Freude bewegt wird,
Wird stark und zerstreuend der Laut.
Wenn das Herz von Zorn bewegt wird,
Wird grob und grausam der Laut.
Wenn das Herz von Ehrfurcht bewegt wird,
Wird gerade und bescheiden der Laut.
Und wenn das Herz von Liebe bewegt wird,
Wird mild und zärtlich der Laut.

Eine in Ordnung befindliche Generation
Bringt friedliche, heitere Töne hervor,
Weil die Gebote der Herrschaft mild sind.
Eine Generation voll Unruh
Bringt grollende, zornige Töne hervor,
Weil ihre Herrschaft unterdrückend ist.
Ein Volk, das dem Untergang verfallen ist,
Bringt sehnsuchtsvoll schmerzliche Töne hervor,
Weil seine Bürger verzweifelt sind!

Die Töne vom Maulbeerwald
Und die Töne vom südlichen Flusse
Sind Töne eines untergehenden Volkes.
Die Gebote der Herrschaft sind chaotisch,
Das Volk ist zerstreut,
Es verleumdet die Obrigkeit
Und handelt egoistisch.

Die Töne entstehen im Herzen des Menschen.
Die Musik bringt Harmonie
In die Beziehungen unter den Menschen.
Die Tiere kennen zwar Laute, aber nicht Töne,
Der Pöbel kennt Töne, aber keine Musik.
Nur der Weise vermag es, den Sinn
Der Musik zu erkennen.

Die höchste Vollkommenheit der Musik
Besteht nicht in Pracht und Prunk der Töne,
Wie auch im Sittengesetz
Beim heiligen Speiseopfer
Es nicht ankommt auf den Geschmack des heiligen Brotes.

Die alten Herrscher waren nicht bedacht
In der Gestaltung von Sitte und Musik,
Der Augenlust und dem Ohrenschmaus zu dienen
Und dem Begehren von Mund und Bauch,
Sondern sie wollten lehren das Volk,
Seine Sympathie und Antipathie mäßigen
Und den Menschen auf das Ziel des Menschen hin ordnen.

Der Mensch ist von Natur aus still.
So ist seine himmlische Seele.
Durch Äußerlichkeiten bewegt,
Erregen sich des Menschen Triebe.
Durch die Äußerlichkeiten
Entsteht Bewusstsein,
Durch das Bewusstsein entstehen
Sympathie und Antipathie.
Wenn Sympathie und Antipathie
Nicht geordnet sind im Innern,
Verfällt das Bewusstsein der Äußerlichkeiten,
Der Mensch verliert die eigne Persönlichkeit
Und es erlischt die göttliche Ordnung.

Äußerlichkeiten aber
Beeinflussen immer den Menschen.
Wenn seine Sympathie und Antipathie
Im Innern nicht geordnet sind,
Verfällt der Mensch den Äußerlichkeiten,
Dann vernichtet er in sich
Die göttliche Ordnung
Und verfällt den Trieben und Begierden.

Dann werden die schüchternen Seelen
Von den Dreisten missbraucht.
Die Kranken werden nicht gepflegt,
Die Witwen nicht getröstet,
Die Waisenkinder nicht behütet.
Das ist das allgemeine Chaos.

Darum schufen die alten Herrscher
Das Sittengesetz und die Musik,
Das Menschenleben zu harmonisieren.
Trauergewänder, Weinen und Klagen
Regeln die Trauer um den Toten.
Glocken und Trommeln dienen dazu,
Die Freude harmonisch zu gestalten.
Die Jugendweihe, die Hochzeitsriten
Dienen dazu, die Geschlechter
In Zucht zu vereinigen.


2

Die Musik bewirkt
Vereinigung in Liebe,
Das Sittengesetz zeigt Unterschiede.
In der musikalischen
Vereinigung lieben die Menschen einander.
Aber wenn zuviel ist der Musik,
So zerfließen die Seelen.
Ist aber zu mächtig das Sittengesetz,
So verhärten sich die Herzen.
Die Gefühle zu harmonisieren
Und die Außenwelt zur Schönheit zu gestalten
Ist die Aufgabe der Musik
Und des Sittengesetzes der Alten.

Weil die Musik aus dem Innern des Menschen kommt,
Bewirkt sie Ruhe der Seele.
Weil das Sittengesetz die Außenwelt ordnet,
Gestaltet es die Welt zur Schönheit.
Darum ist die höchste Musik sehr einfach
Und das wahre Sittengesetz ist einfach.
Die höchste Musik
Entfernt den Gram und den Groll,
Das heilige Sittengesetz
Entfernt die Zwietracht und den Streit.
Durch Freundlichkeit und Güte,
Nachgiebigkeit und Milde und Sanftmut
Die Welt zu ordnen
Ist die Aufgabe der Musik
Und des heiligen Sittengesetzes.

Die wahrhaft große Musik
Wirkt mit dem Himmel
Und der Erde
Die harmonische Einheit der Menschen
Durch die Vereinigung in Liebe.
Das heilige Sittengesetz
Wirkt zusammen mit dem Himmel
Und der Erde den Rhythmus des Lebens
Der Menschen miteinander.

In der sichtbaren Welt
Herrscht das Sittengesetz
Und herrscht die Musik.
In der unsichtbaren Welt
Herrscht Gott
Und herrschen die seligen Geister.
So sind die Menschen miteinander verbunden
Durch die gegenseitige Achtung,
Wertschätzung, Ehrfurcht,
Und verbunden durch die gegenseitige
Menschenliebe.
Darum stimmt das Sittengesetz
Mit der wahren Musik überein.

Wer also das Wesen des Sittengesetzes erkannt
Und die Heiligkeit der Musik erkannt,
Der vermag sie schöpferisch zu gestalten.
Wer die Formen des Sittengesetzes
Und die Formen der Musik ergründet,
Vermag das Sittengesetz
Und die wahre Musik zu überliefern.
Wer sie schöpferisch zu gestalten vermag,
Ist ein heiliger Mensch,
Wer sie zu überliefern vermag,
Ist ein Weiser.
Der Titel eines Heiligen und Weisen
Bezieht sich auf Schaffen und Überliefern.

Der schöpferische Ursprung
Der Musik ist im Himmel,
Das Sittengesetz
Regelt das Leben der Menschen auf Erden.

Die Vereinigung der Menschen
In den bestimmten Beziehungen
Ohne Streit und Leid
Ist das Wesen der wahren Musik.
Die Wirkungen der Musik
Sind Heiterkeit und Freude
Und Vergnügen und Liebe!


3

Die Fürsten schufen Musik,
Wenn sie ihr Werk in der Welt vollendet hatten.
Die Güte ihres weltlichen Werkes
War bestimmend
Für die Güte ihrer Musik.

Erhabene Musik,
Doch ohne Traurigkeit,
Vollkommene Tugend,
Doch ohne harte Einseitigkeit,
Das vermag nur ein heiligmäßiger Mensch.

Der Frühling wirkt schöpferisch,
Der Sommer wirkt die Reife,
Das ist die Liebe.
Der Herbst erntet
Und der Winter sammelt in die Scheune,
Das ist die Gerechtigkeit..
Die Liebe ist Musik,
Gerechtigkeit ist Tugend.

Die Musik führt zur Harmonie,
Sie folgt dem himmlischen Weg
Und erhebt die Seele zu Gott.

Darum schafft der Weise Musik,
Um so dem Himmel zu dienen.
Er lebt gemäß der Tugend,
Gott auf Erden zu dienen.
In der Reinheit der Musik
Ertönt der Himmel,
In der Reinheit der Tugend
Verklärt sich die Erde.

Im Himmel sind vollkommne Ideen,
Himmlische Urbilder alles Seienden,
Auf der Erde streben die Kreaturen
Nach himmlischer Vollendung.

Die Gnade des Himmels neigt sich herab,
Das Streben der Erde strebt in die Höhe.
Licht und Schatten gehören zusammen.
Himmel und Erde vermählen sich.
Musik ist der Hochzeitsgesang
Von Himmel und Erde.

Musik und Tugend
Reichen bis zu den Höhen des Himmels
Und tauchen hinab in die Tiefen der Erde.
Musik und Tugend
Wirken im Licht und im Schatten.
Musik und Tugend
Stehen in Verbindung
Mit den Engeln und den Heiligen
Und verherrlichen Gott.

Musik erklang im Anbeginn,
Die Tugend führt die Seelen zur Vollendung.

Wechsel von Ruhe und Bewegung ist
Musik zwischen Himmel und Erde.


4

Die Musik der großen Verherrlichung
Besingt die Herrlichkeit des Herrn.

Das Essen von Entenfleisch
Und das Zechen von rotem Wein
Ist nicht zum Unheil.
Wenn es dennoch Streit gibt
Über das Essen von Fleisch
Oder wegen des Weines,
So kommt es daher, dass der Wein
Die Gemüter erhitzt.
Darum ordneten die Weisen
Die Art und Weise des Zechens.
Die Tugend des Gastmahls gebietet,
Daß man sich beim gemeinsamen Zechen
Zeremonielle Höflichkeiten erweist,
Daß man sich höfisch verneigt
Vor der Dame des Hauses
Und den Gastgeber segnet mit Segenssprüchen,
So kann man den ganzen Abend zechen,
Ohne besoffen zu werden.
Auf diese Weise regulierten
Die Weisen das Zechen beim Gastmahl
Und wehrten dem Besoffensein.
So dienen das Zechen von rotem Wein
Und Essen von Entenfleisch
Der Feier des heiligen Geistes.
Die Tugend der Weisen
Wehrt der Maßlosigkeit
Beim Zechen von rotem Wein.


5

Musik ist die Freude der heiligen Menschen.
Musik vermag die Gesinnung des Menschen zu bessern.
Musik beeinflusst den Menschen tief.
Durch Musik erzogen die weisen Pädagogen
Ihre geistlichen Kinder.

Die Seele des Menschen
Hat Kraft des Blutes und Bewusstsein der Sinne.
Aber es gibt kein gewisses Gesetz,
Die Trauer zu regeln,
Die Lust und den Zorn zu mäßigen.
Denn Trauer und Lust
Und Zorn wird erregt
Durch die Außenwelt.
Aber erst durch die Regulierung
Und Mäßigung der Affekte
Gewinnt das Herz die feste Gestalt.

Die Weisen schufen eine Musik,
Die hell erklang und doch nicht zerstreute,
Die dunkel war und doch nicht betrübte,
Die stark in der Seele war und doch nicht zornig,
Die weise war und doch nicht mutlos.

Wenn eine Generation
Im dekadenten Chaos versinkt,
Dann wird die Sitte vergessen
Und die Musik wird wild und lüstern.

Bei den verwirrten Geschlechtern
Wird die Musik bekümmert und schwach,
Lüstern und ruhelos,
Lasziv und rhythmisch wild.
Sie lassen sich so dahintreiben
In dem Chaos ihrer verwirrten Gefühle
Und vergessen das Fundament der Weisheit.
Wenn dann ein Mensch von weitem Herzen ist,
So neigen seine Wünsche sich der Unzucht zu,
Wenn aber ein Mensch von hartem Herzen ist,
So werden seine Gedanken egoistisch.
Die Kraft der ausgelassenen Wollust wird erregt,
Die harmonische Macht des Geistes aber vernichtet.
Darum verachtet der Edle
Das chaotische Treiben der dekadenten Geschlechter.


6

Der heilige Mensch verwehrt
Den Ohren die lüsternen Worte
Und den Augen die lasziven Bilder.
Unreine Musik und verdorbene Sitten
Lässt er nicht in die Gedanken seines Herzens.
Schlechten Angewohnheiten
Gibt er keine Macht über seinen Körper.
Er weiht Augen und Ohren,
Geist und Herz und Glieder
Der Ewigen Weisheit
Und tut dann seine Pflicht.
Dann erst macht er Musik
Und stimmt die Harfe.

Musik bedeutet Freude.
Der Edle freut sich,
Daß er den heiligen Weg erkannte.
Die Gemeinen aber freuen sich daran,
Ihr Begehren erfüllt zu sehen.
Wenn man aber das Wollen und Verlangen regelt,
Dann herrscht die Freude ohne Verwirrung.
Wenn man aber über seinem Verlangen
Den heiligen Weg verlässt,
So entsteht die dumpfe Verwirrung
Und keine Freude der Seele.

Die Lebenskraft ist Ausdruck der Seele.
Musik ist die Blüte der Lebenskraft.
Die Musikinstrumente sind die Werkzeuge der Musik.
Die Lieder drücken des Herzens Gesinnung aus.
Zu den Liedern tönen die Saitenspiele.
Die Tänzer bewegen sich
Gemäß der Regierung des Fürsten.
All dies hat seine Wurzel
Im Innern des Herzens.
Erst das Innere des Herzen
Bringt die Instrumente zum Tönen.

Wenn also der Fürst
In seinen Gefühlen rein und klar ist,
Wird seine Musik auch schön sein.
Wenn des Fürsten Herz voll Mut und Kraft ist,
Wird er die Menschen gut regieren.
Wenn Harmonie in seinem Innern ist,
Entfaltet sich die Blüte der Seele nach außen.
Die Musik erlaubt die Heuchelei nicht.

In der Musik erfreut man sich
Am Ursprung seines Lebens
Und in der Tugend kehrt man zurück
Zum göttlichen Ursprung.
Die Musik verherrlicht die Tugend,
Die Tugend dankt der Gnade Gottes,
Das ist die Heimkehr in den Schoß der Gottheit.


7

Wenn ein großer Künstler
Fördert die Musik
Und alte Sitte,
Dann werden Himmel und Erde
Ihre Kraft entfalten.
Himmel und Erde vermählen sich.
Licht und Schatten vereinen sich.
Der Himmel weht mit sanftem Hauch
Und die Erde erwärmt.
Die Himmel beschirmt und beschützt
Und die Erde ernährt die Lebewesen.
Da sprossen Kräuter und Bäume,
Die Keime sprießen ans Licht,
Die Federn der Flügel regen sich,
Die Hörner wachsen den Gehörnten...
Die Winterschläfer kehren zum Leben zurück.
Die Tauben brüten,
Die Katzen tragen ihre Jungen.
Was im Schoß der Mutter entsteht,
Wird nicht getötet!
Was im Ei der Mutter entsteht,
Stirbt keinen frühen Tod!
Wenn es so ist,
Dann hat die Musik ihr Ziel erreicht.


8

Ein Mann sprach zum Meister der Musik:
Wenn ich die klassischen Lieder höre,
Dann muß ich immer Acht geben,
Daß ich nicht einschlafe.
Aber wenn ich die populären Lieder höre,
Dann amüsiert sich mein Herz.

Der Meister der Musik sprach.
Bei der klassischen Musik
Sind die Töne harmonisch,
Einfach und tief.
Die Saiteninstrumente und Blasinstrumente
Richten sich nach der Perkussion.
Man ordnet die Wirbel
Mit dem Taktstock
Und mäßigt die Bewegung
Mit dem Plektron.
Die Weisen unterhalten sich über die Musik
Und beginnen von Gott zu sprechen,
Sprechen von der Heiligkeit der Familie
Und von dem Frieden in der Welt.
Bei der populären Musik
Winden sich die Tänzerinnen wie Schlangen,
Wilde Laute rauschen einher
Und betäuben das Ohr mit Geräuschen.
Gaukler kommen herein
Und Narren, die sich wie Affen benehmen.
Man weiß nicht,
Wer der Vater und wer der Sohn ist
Und weiß nichts vom Geist.
Wenn die Musik verrauscht ist,
Kann man darüber nicht sprechen,
Man denkt nicht an Gott bei dieser Musik,
Man denkt nur an Unzucht.

Vom Weisen aber sagt man:
In der Stille pflegte er seinen Geist.
Sein Geist war klar und rein,
So konnte er zwischen Gut und Böse unterscheiden,
So konnte er Kinder erziehen
Und herrschen über die Launen der Frauen.
Er brachte es zum Gehorsam vor Gott
Und führte so auch die ihm Anvertrauten
Zur Ehrfurcht vor Gott.
Und so führte er die ihm Anvertrauten
Zur wahren Menschenliebe.
Der weise Herrscher führte ein Leben ohne Makel.
Er empfing die Gnade Gottes
Und teilte sie seinen Söhnen mit.

Aber die Töne der sinnlichen Musik,
Der lasziven populären Lieder
Überströmen mit Wollust den Willen
Und schwächen den Willen
Und ertränken den Willen in Verlangen.
Die Töne sind hektisch,
Chaotisch, verwirren den Geist und den Willen
Und beschmutzen die Seele
Mit lüsterner Sinnlichkeit.
Die Tänzerinnen sind hochmütig, stolz,
Sie reißen hin zur Sinnlichkeit,
Zur Unzucht und zur Perversion.
Sie schaden dem Geist.
Man kann sie im Gottesdienst nicht gebrauchen!

In den Oden heißt es:
Ernste, harmonische Klänge
Hören die Seelen der Heimgegangenen
In dem Land der Verheißung.

Wenn nun ein Weiser Töne hört,
So beachtet er nicht das Geräusch, das sie machen,
Sondern er betrachtet die Gedanken,
Die beim Hören der Musik entstehen.


9

Tugend und Musik,
Sie dürfen der Persönlichkeit
In keinem Augenblick fehlen.
Wenn man die Musik auf die Seele wirken lässt
Zur Reinigung der Gesinnung,
So reift eine ruhige, ehrliche und gerechte Gesinnung.
Wenn solch eine Gesinnung in der Seele ist,
Dann wird die Seele glücklich.
Durch die Freude kommt der Friede,
Durch den Frieden entsteht eine himmlische Art
Und die himmlische Art macht der Gottheit ähnlich!
Himmlische Art braucht keine Worte
Und findet doch Glauben bei den Guten.
Gottähnlichkeit braucht nicht zu zürnen
Und findet doch Ehrfurcht.

Musik bedeutet Freude.
Ohne Freude kann der Mensch nicht leben.
Die Freude äußert sich in Tönen
Und nimmt bewegte Gestalt an.
Alle Veränderungen in der Seele
Äußern sich in Tönen und Bewegungen.
Ohne Freude erträgt der Mensch das Leben nicht.
Wenn sich die Freude äußert,
Aber ungeordnet und wild,
Dann wird sie übermäßig und zerstörerisch.


10

Ein Mann kam zum Meister der Musik und sprach:
Ich habe vernommen, dass bestimmte Lieder
Zu bestimmten Menschen passen.
Welche Musik passt denn zu mir?

Wer ruhig ist und korrekt,
Der singe die Hymnen.
Wer ruhig ist, fernsichtig und wahrhaft,
Der singe die großen Psalmen.
Wer bescheiden ist und tugendhaft,
Der singe die kleinen Psalmen.
Wer schlicht und bescheiden ist und pflichtbewusst,
Der singe die Volkslieder.
Wer wahrhaft ist und voller Liebe,
Der singe die Lieder der Liebe.
Wer freundlich und gutmütig ist,
Der singe die Lieder der Stille.

Der Gesang kommt aus dem Wort,
Der Gesang entsteht aus langgezogenen Worten.
Wenn der Mensch sich freut,
So spricht er seine Freude aus.
Wenn das Sprechen nicht mehr genügt,
So redet er in Versen.
Wenn die Verse nicht mehr genügen,
So seufzt er Ah und Oh.
Wenn selbst die Seufzer nicht mehr genügen,
So fängt die Leiblichkeit zu tanzen an!



DIE PÄDAGOGIK



1

Der Mensch bei seiner Geburt
Ist unvollkommen.
Seine Augen können noch nicht sehen,
Er kann noch nicht essen,
Er kann noch nicht laufen,
Er kann noch nicht sprechen,
Er kann noch nicht zeugen.

Im dritten Monat
Fixieren sich die Pupillen,
Dann kann er sehen.
Im achten Monat
Wachsen seine ersten Zähnchen,
Dann kann er essen.
Im ersten Jahre
Werden seine Kniescheiben fest,
Dann kann er laufen.
Im dritten Jahr
Schließt sich die Schädelspalte,
Dann kann er sprechen.
Im sechzehnten Jahr
Wird der Same reif,
Dann kann er zeugen.

Wo die Liebe groß ist,
Nimmt man die Trauerkleidung ernst.

Drei Tage nach dem Todesfall
Isst man wieder,
Ein Jahr nach dem Todesfall
Trägt man unter dem Trauergewand
Wieder Seide.
Die Selbstqual des Trauernden darf nicht
Bis zur Selbstvernichtung gehen!
Durch den Tod des einen Menschen
Darf nicht geschädigt werden
Das Leben des andern Menschen!
Die Trauer überschreite nicht
Die Frist von drei Jahren.
Dann wird das Grab
Nicht wieder neu aufgeschüttet.
Am Tage nach dem Abschluß-Opfer
Spielt man würdige Melodien
Auf der Zither,
Um den Menschen zu zeigen,
Daß die Trauerzeit ein Ende hat.

Wer für alle Verrichtungen
Beim Trauerritual
Einen Angestellten hat,
Der lässt die Dinge wortlos geschehen.
Wer selber reden muss,
Der stützt sich auf seinen Stock.
Wer sich um alles selber kümmern muss,
Der lässt in der Trauerzeit
Den Bart ungepflegt.

Nach dem Todesfall
Weint man drei Tage lang unablässig.
Drei Monate lang
Zieht man das Trauerkleid nicht aus.
Drei Jahre lang
Ist man betrübt.
So will es die Weisheit der Liebe.
Der Heilige richtet sich
Nach der Weisheit der Liebe.

Aber eine junge Frau
Aus einer rebellischen Familie
Heiratet man lieber nicht,
Weil sie sich gegen den Geist der Tugend empörte!
Eine junge Frau
Aus einer Familie, die in Unzucht lebt,
Heiratet man lieber nicht,
Weil sie die Ehe zerstört!
Eine junge Frau
Aus einer Familie von Dieben und Lügnern
Heiratet man lieber nicht,
Weil sie von der Gesellschaft verworfen ist!
Eine junge Frau
Mit einer üblen Krankheit
Heiratet man lieber nicht,
Weil sie dem Tod geweiht ist!
Die ältere Tochter eines geschiedenen Mannes
Heiratet man lieber nicht,
Weil sie in der Kindheit
Keine Mutterliebe erfahren hat!

Du sollst deine Frau nicht verstoßen,
Denn nach der Scheidung wüsste sie nicht,
Wohin sie gehen sollte.
Du sollst deine Frau nicht verstoßen,
Wenn sie mit dir durchgestanden hat
Die Trauer um deinen Vater.
Du sollst deine Frau nicht verstoßen,
Denn sie hat gemeinsam mit dir ertragen
Die Armut und Erniedrigung.

Ein großes Verbrechen ist
Die Empörung gegen Gott!
Ein großes Verbrechen ist
Die Lästerung der Heiligen und der Weisen!
Ein großes Verbrechen ist
Die Empörung gegen Ehe und Familie!
Ein großes Verbrechen ist
Die Lästerung gegen die Engel!
Ein großes Verbrechen ist
Die Tötung eines Menschenkindes!


2

Der Sohn
Soll beim ersten Hahnenschrei aufstehn,
Dann wäscht er sich
Und spült sein Gebiß aus
Und kämmt sich sein Haar
Und setzt seinen Hut auf.
Er zieht ein dunkles Gewand an
Und legt den Gürtel an
Und steckt sein Notizbuch in die Tasche.
Dann hängt er an seinen Gürtel
Ein Tuch zum Abwischen
Und einen kleinen Spiegel,
Ein Feuerzeug
Und ein Schreibgerät.
Dann zieht er sein Beinkleid an
Und schnürt die Schuhe.

Die Schwiegertochter
Steht beim ersten Hahnenschrei auf
Und wäscht sich
Und putzt ihre schönen Zähne,
Sie kämmt die langen schwarzen Haare
Und knüpft den Knoten ihrer Haare,
Dann steckt sie die Spange in ihren Haarknoten.
Sie zieht ihr Seidenkleidchen an
Und gürtet sich mit dem Zaubergürtel.
Am Gürtel hängt ein Tuch
Und ein Spiegel,
Nadel und Faden in einem Beutel
Und ein Duftkissen.
Dann bindet sie ihre Sandalen
Und begibt sich zum Sohn.

Der Mann spricht nicht
Über die innern Angelegenheiten,
Die Frau spricht nicht
Über die äußern Angelegenheiten.

Die inneren Räume
Und die äußeren Räume
Haben keinen gemeinsamen Brunnen,
Mann und Frau
Haben kein gemeinsames Badezimmer,
Sie schlafen nicht auf denselben Matten,
Sie tragen nicht die gleichen Kleider.

Was im Innern gesprochen wird,
Das dringe nicht nach draußen.
Was draußen gesprochen wird,
Das dringe nicht ins Innere.

Wenn der Mann den inneren Raum betritt,
So flötet er nicht,
Bei Nacht trägt er eine Kerze,
Erlischt die Kerze,
So bleibt er stille stehen.
Wenn die Frau nachts aus dem Hause geht,
Verschleiert sie sich,
Sie trägt eine Lampe,
Geht die Lampe aus,
So bleibt sie stille stehen.

Auf der Straße aber
Geht rechts der Mann
Und links die Frau.

Als die Frau im Begriff war,
Einen Sohn zu bekommen,
Zog sie sich im letzten Monat zurück
In ihr Schlafgemach.
Zweimal täglich schickte der Mann eine Botin,
Um die Frau nach ihrem Befinden zu fragen.
Wenn er selber kam,
Nach ihrem Befinden zu fragen,
So gab die Frau nicht selber Antwort,
Sondern beauftragte ihre Gesellschaftsdame,
Die sorgsam Toilette machte
Und dem Manne Antwort gab.
Wenn der Mann beim Fasten war,
So ging er nicht in das Schlafgemach der Frau.

Als der Sohn geboren war,
Da hängte man Pfeil und Bogen an die Tür.
Am dritten Tag
Bekam der Knabe Nahrung.
Zur Ehren des Sohnes
Schoß der Mann einen Pfeil in die Luft.

Man befragte das Buch,
Um den Paten zu bestimmen.
Wen das Buch genannt,
Der fastete streng
Und begab sich zum Frauengemach.
Vor der Tür zum Schlafgemach der Frau
Ward ihm der Patensohn überreicht.

Dann nahm die Amme
Den Sohn auf den Arm
Und trug ihn wieder in das Schlafgemach der Frau..
Der Wirt bewirtete dann
Den Paten mit reichlich Wein.

Dann wählt man das Kinderzimmer für den Knaben.
Man wählte unter den Damen solche aus,
Die den Knaben erziehen sollten.
In Betracht kamen solche Damen,
Die weitherzig waren,
Edelmütig und gütig,
Voll Liebe und Wahrhaftigkeit,
Vorsichtig und verschwiegen.
Eine Dame wurde Erzieherin
Und eine Dame Aufsichtsperson
Und eine Dame Pflegemutter.
Andern Leuten war der Eintritt verboten
In das Kinderzimmer des Knaben.

Im dritten Monat
Trat die Frau zum Mann
Zusammen mit ihrem Knaben.
Sie trug ein Festgewand
Wie bei der Vollmondfeier des Frühlingsäquinoktiums.
Der Mann trat durch die Tür
Und schaute in den Westen,
Die Frau sah in den Osten.
Dann sprach die Gesellschaftsdame der Frau:
Die Mutter Ai-Wei erlaubt sich,
An diesem Tage ihren Knaben
Dem Manne Shi Tuo-Tang zu zeigen.
Der Mann sprach zu der Frau:
Sei achtsam auf seine gute Erziehung.
Dann nahm der Mann
Die rechte Hand des Knaben,
Sprach lächelnd mit ihm
Und gab ihm seinen Namen:
Tom-Tom sollst du heißen.
Die Frau sprach mit charmantem Lächeln:
Wir werden immer gedenken
Deiner weisen und liebevollen Worte!
Dann kehrte die Frau zurück
In ihr inneres Gemach.


3

Wenn dem König
Ein Thronfolger geboren wurde,
So stand ein Fürst dem Thronfolger bei
Und lehrte ihn, morgens aufzustehen
Und sich sorgfältig anzukleiden
Und im Osten vor dem Himmel zu erscheinen.
Dann ging der Thronfolger
Von der Pforte des Hauses
Am Tempel vorüber
Mit ehrfurchtvollen Schritten.
So ist der Weg
Des pietätvollen Thronfolgers.
Als er noch ein Kind war,
Ward er so erzogen vom Fürsten.

Als der kleine König
Noch in den Windeln lag,
Da war der Herzog sein Großlehrer,
Da war der Herzog sein Großmeister.
Der Lehrer des kleinen Königs
Sorgte für seine Erziehung
Zu Tugend und Gerechtigkeit.
Der Meister des kleinen Königs
Sorgte für seine Erziehung
Zur Folgsamkeit und Pietät.

Der Herzog befestigte
Den kleinen König
In Ehrfurcht vor Gott
Und Liebe zu den Menschen.

Man hielt vom kleinen König fern
Die verkehrten Menschen,
Damit er keine bösen Taten sieht.
Darum wählte man aus den Fürsten
Den Ehrfürchtigen,
Den Gelehrten,
Den im himmlischen Weg Bewanderten,
Solche Fürsten sollten
Mit dem kleinen König zusammen sein,
Diese wohnten mit dem König zusammen
Und gingen ein und aus in seinem Haus.
Was der Thronfolger also mit Augen sah,
Waren Bilder der Wahrheit,
Der Weg, den der Thronfolger ging,
War der himmlische Weg.

Man wählte seine Lieblingsspeise aus,
Man gab ihm Reis und Zimt,
Doch eh er die Speise zu schmecken bekam,
Ward die Unterweisung vollendet,
Er musste zuerst den Himmel verehren,
Bevor er die Lieblingsspeise schmecken durfte.
Denn was in der Kindheit begründet wird,
Das wird im Leben auf Dauer ausgeübt.

Wenn der junge Kaiser
In die Schule geht,
So lernt er in den Räumen des Ostens,
Die Liebe zur Familie wertzuschätzen
Und das Verhältnis zu den Verwandten
Pietätvoll zu ordnen.
Er lernt in den Räumen des Südens,
Ehrfurcht vor den Greisen zu haben
Und auf die Worte der reifen Männer zu hören
Und als Knabe lernwillig zu sein.
Er lernt in den Räumen des Westens
Die Tugenden einzuüben,
So wird er die Weisen ehren
Und die Heiligen lieben.
Er lernt in den Räumen des Nordens,
Den Kaiserthron zu ehren
Und die Ritter und die Edeldamen,
Aber die Bauern nicht zu verachten.

Besucht der junge Kaiser dann
Die höhere Schule,
So wendet er sich an den Meister,
Den himmlischen Weg kennen zu lernen.
Sein Geist und seine Weisheit werden wachsen,
Er wird das Vernunftalter erreichen,
Dann entscheidet er sich,
Welchen Weg er gehen will.

Am lichten Schloss steht geschrieben:
Entschlossen sein zum Guten
Und das Lernen lieben,
Mehr hören als reden!
Wenn der junge Kaiser Zweifel hat,
So soll er fragen.
Wer Antwort geben kann
Und nicht in Verlegenheit kommt,
Der kennt den himmlischen Weg.
Wer den himmlischen Weg kennt,
Der heißt Guter Ratgeber.
Der Gute Ratgeber rät
Dem jungen Kaiser
Und gibt ihm weisen Ratschlag.

Wer auf der Wahrheit gründet
Und den Geist der Unterscheidung besitzt,
Wer unterstützt im Tun des Guten,
Der heißt Mann der Kraft.
Der Mann der Kraft bestärkt
Den Willen des jungen Kaisers.

Wer rein ist
Und edel in der Überwindung der Sünden
Und vor dem Bösen warnt,
Der heißt der Mahner.
Der Mahner warnt
Den jungen Kaiser vor den Sünden.

Wer erfahren ist und weitgewandert
Und reich im Gedächtnis
Und auf alles eine Antwort weiß,
Der heißt der Mann der Hilfe.
Der Mann der Hilfe
Steht dem Kaiser bei,
Wenn sein Gedächtnis versagt.

Das Schicksal der Welt ist abhängig
Von dem Sohn des Vaters Himmel.
Des Kaisers Frömmigkeit beruht darauf,
Daß er schon als Kindlein unterwiesen wurde.
Wenn sein Geist dennoch in Zweifeln befangen ist,
Soll man ihn erziehen und belehren,
Er wird dann leicht veredelt werden können.
Ihm den himmlischen Weg zu weisen
Und die Vernunft zu heiligen,
Das ist das Werk des Pädagogen.
Wenn der junge Kaiser
Sich aber jeder willkürlichen Laune hingibt
Und schlechte Angewohnheiten sammelt,
Dann wird es dem Weisen nicht mehr möglich sein,
In unmittelbarer Umgebung
Noch heilsamen Einfluss
Auf den jungen Kaiser auszuüben.

Wenn die Wurzel gesund ist,
So kommt alles in Ordnung.
Wenn man um die Breite eines Haares nur
Den rechten Weg verlässt,
So wird die Abweichung schließlich sehr groß sein.
Darum ist der Weise beim Anfang
Voller Vorsicht.

Was in der Wahrheit lebt,
Vollendet sich im Alltag.

Bei der Wahl der Ehefrau
Muß man schon an Kinder denken.
Bei der Wahl der Ehefrau
Achte man auf die Ehrfurcht und Liebe der Jungfrau.
Wenn die Ahnen gütig gewesen,
Werden auch die Kinder gütig sein.

Denn der Phönix ist von Geburt an liebevoll,
Der Wolf ist von Geburt an gierig.
Die Kinder haben ihren guten oder schlechten Ruf
Vom guten oder schlechten Ruf der Mütter.
Ach, wie voller Vorsicht muss man sein,
Daß man nicht einen Wolf großzieht,
Der einst die Welt zerstört!

Was die Erziehung im Mutterleibe betrifft,
So heißt es in den älteren Schriften:
Wenn die Königin die Leibesfrucht
Schon sieben Monde in sich trug,
So zieht sie sich in ihr Schlafgemach zurück.
Der Großschreiber hielt die Flöte in der rechten Hand.
Der Wächter bewachte die Tür der Königin.
Wenn in den folgenden Monden
Die Königin Musik zu hören wünschte,
So spielte ihr der Musikmeister die Musik vor,
Die der Heiligkeit gemäß.
Wenn die Königin Speise begehrte,
So reichte ihr der Küchenmeister
Nur gesunde Speise.
Wenn dann der Thronfolger geboren worden,
So bläst der Großmeister seine Flöte
Und spricht: Der Grundton des kleinen Königs
Passt zu dieser bestimmten Harmonie.
Der Küchenmeister aber sprach:
Dem kleinen König wird folgende Speise schmecken.
Daraufhin wählte man
Durch das Orakel
Den Namen des kleinen Königs.

Als die Königin einst
Den kleinen König in ihrem Leibe trug,
Da lehnte sie sich beim Stehen nicht an,
Da saß sie nicht ruhelos auf dem Kissen.
Wenn sie allein war,
War sie nicht stolz.
Wenn sie zornig war,
So zankte sie dennoch nicht.
Das ist Erziehung schon im Mutterleib.