Herausgegeben von Dr. P.M. – Herausgeber der

VATER ELIAS




Von Josef Maria Mayer

ERSTE SZENE


(Speisezimmer im Haus des katholischen Verlegers Doktor Herder. Vater Elias, der Poet, zu Gast mit seiner ältlichen Geliebten Eva. Ein junger Verehrer des Dichters. Entenbraten auf dem Tisch. Im Raum ein wurmstichiges Harmonium.)

DOKTOR HERDER
Mein lieber Vater Elias, ich habe Ihre Gedichte gelesen, aber sie sind nicht geeignet für meinen kirchlichen Verlag.
VATER ELIAS
Komm ich auf dem Index?
DOKTOR HERDER
Der Index ist abgeschafft.
VATER ELIAS
Dann komm ich auf einen Scheiterhaufen?
DOKTOR HERDER
Scheiterhaufen werden nicht mehr errichtet. Aber wenn Sie wollen, dass die Kirche Ihre Gedichte anerkennt, schreiben Sie nicht so erotisch über die Muttergottes!
VATER ELIAS
Aber Maria ist doch die intakte Jungfrau, die allein in ihrem Schoß das Horn des Einhorns einfangen kann.
DOKTOR HERDER
Ihre Magdalena ist ja mehr eine florentinische Venus. Sie schrieben gar nichts über die Reue und Buße der Sünderin.
VATER ELIAS
Ich sah sie eben in ihrer Herrlichkeit.
DOKTOR HERDER
Und ihr Buch Sonette an die Jungfrau Maria, das können wir nicht veröffentlichen, die deutschen Protestanten würden das Buch nicht kaufen.
VATER ELIAS
Aber den Dalai Lama geben Sie heraus?
VEREHRER
Vater Elias, Meister! Sie sind ein Genius! Sie haben in der Sonettkunst das Allergrößte geleistet! Sie haben alle Sonettformen meisterhaft beherrscht! Aber warum schreiben Sie immer nur über Maria?
VATER ELIAS
Und keiner fragt Petrarca, warum er nur über Donna Laura schrieb. Die Sonettform kommt von oben und ist die Form, in der die Einziggeliebte gepriesen wird.
VEREHRER
Meister! Ich anerkenne Ihren Genius! Sie sind vielleicht der größte Dichter deutscher Sprache! Die Nobelpreisträger dagegen schreiben einen Dreck.
VATER ELIAS
Sie schmeicheln mir, junger Mann.
VEREHRER
Sie sind größer als Hölderlin und Rilke!
VATER ELIAS
Zumindest bin ich so neurotisch wie Rilke und so schizophren wie Hölderlin.
VEREHRER
Sie haben in der deutschen Lyrik mehr geleistet als Goethe! Und Ihre Nachdichtungen aus dem Sanskrit, dem Mandarin, dem Persischen, Arabischen, Hebräischen, Ägyptischen, Griechischen, Lateinischen, Italienischen, Französischen und Englischen! Sie müssen ein Sprachgenie sein!
VATER ELIAS
Es ist zehn Uhr abends, wenn ich jetzt nicht eine Flasche köpfe, werde ich böse.
EVA
Elias, zu trinkst zuviel.
VATER ELIAS
Wie soll ein Dichter dichten ohne Wein? Der Kuß der Muse ist der Becher Wein.
EVA
Wenn du zuviel getrunken hast, wirst du wieder anzüglich oder auszüglich.
VATER ELIAS
Ja, nach einer Flasche Wein sind alle Weiber schön. Ich trinke mir die alten Frauen schön.
EVA
Aha? Ich bin dir also zu alt? Wohl auch zu dick?
VATER ELIAS
Ich will Harmonium spielen.
DOKTOR ELIAS
Ja, das Harmonium hat Zimmerlautstärke. Das kann man auch in der Nacht spielen. Eine Geige dringt durch alle Wände, aber mit dem Harmonium kann man Sterbenskranke in den Schlaf wiegen.
VATER ELIAS
Ich improvisiere ein wenig über den Bach-Choral: Jesus bleibet dennoch meine Freude!


ZWEITE SZENE


(Im Zimmer von Vater Elias. Eine Unmenge leerer Weinflaschen, Bücher und Manuskripte auf dem Boden. Vater Elias und sein Freund Johannes.)

VATER ELIAS
Ich träume immer vom Himmel. Der Schöpfer liebt den Messias und der Messias liebt den Schöpfer und ihre Liebe ist eine Gottheit. Ich nenne diese Gottheit: Frau Liebe! Frau Liebe sehe ich in ihrem weißen Leib vorm blauen Himmel. Frau Liebe stillt mich an ihren schönen Brüsten!
JOHANNES
Liebst du nur den Himmel? Liebst du denn gar keine Frau?
VATER ELIAS
Wenn schon die jungen Mädchen so schön sind, dass man anfängt zu stottern und zu stolpern, wie schön ist dann erst Frau Liebe! Ein junges Mädchen ist doch eine Rosenknospe, frisch entsprungen aus der Hand Gottes. Wenn ich eine schöne Frau sehe, denke ich, ich sehe das Antlitz der göttlichen Schönheit! Und du, Johannes, liebst du eine Frau?
JOHANNES
Ich liebe das junge Mädchen Marie.
VATER ELIAS
Im Schatten junger Mädchenknospe?
JOHANNES
Das liebliche Mädchen Marie ist noch eine unberührte Jungfrau.
VATER ELIAS
Und ist sie schön?
JOHANNES
Sie ist schlank und hochgewachsen wie eine Palme. Sie hat lange, glatte, braune Haare. Ihre Augen sind groß, sehr groß, man sieht das Weiße in den Augen. Ihre Augen haben die Form einer Mandel. Ihre Pupillen sind braun. Ihr Antlitz ist ein schlankes Oval. Sie hat ein Schönheitsmal über der lieblichen Lippe. Ihr Mund ist wie eine Mohnblüte. Sie duftet nach Lavendel.
VATER ELIAS
Ja, der Lavendel der Provence! Die Hummel liebt die Lavendelblüte und sammelt den klebrigen Nektar von den Blütenstempeln. Dann packt die Hummel sich rechts und links an der Hüfte die Taschen voll. So süß ist deine Geliebte?
JOHANNES
Klopstock sagte zwar, dass das junge Mädchen Angelika dem Auge nicht so sehr gefällt wie der Gesang der alten Frau Baucis dem Ohr gefällt. Aber hier ist es anders: Angelika singt sehr schön!
VATER ELIAS
Was singt sie denn?
JOHANNES
Sie singt: Es ist ein lustiges Gefühl im Innern meiner Seele!
VATER ELIAS
Ja, dein liebliches Mädchen Marie ist gewiss ein schöner Schmetterling. Als Kind hab ich Schmetterlinge gefangen, wenn sie sich auf dem Schmetterlingsflieder sammelten. Aber meine selige Großmutter sagte: Mein Junge, wenn du die Schmetterlinge an ihren gepuderten Flügeln berührst, verlieren sie die Farbe. Dann werden ihre Flügel feucht und sie sterben. So geht es mir mit den Frauen: Aus der Ferne betrachtet, sind sie wie schillernde Schmetterlinge, Monarchen, aber wenn man erst ihre Flügel berührt, verlieren sie ihre Schminke und all ihre Schönheit ist dahin.
JOHANNES
Du willst wie ein Schmetterling von Blume zu Blume hüpfen?
VATER ELIAS
Du hast nicht zugehört. Nicht ich bin der Schmetterling, das Mädchen ist der Schmetterling. Die unberührte Jungfrau soll unberührte Jungfrau bleiben.
JOHANNES
Und die älteren Frauen, die reifen Weiber, die sich schon begatten ließen und Kinder geboren aus gebärfreudigem Becken?
VATER ELIAS
Meine Seele ist ein junges schlankes Mädchen. Ich liebe die lieblichen Mädchen. Unschön sind die alten dicken Hausfrauen mit verbitterten Herzen, härter als Stein! Nein, ich liebe mir die Schönheit der lieblichen Mädchen.


DRITTE SZENE


(Eine kleine Wein-Schenke. Still trinkende Arbeiter. Vater Elias, Eva, Johannes und Marie. Die Schenkin Siduri.)

VATER ELIAS
Eva, du bist bitter geworden wie eine saure Limone. Siduri, Schenkin, schenke Eva einen Litchi-Likör ein, dass sie wieder süß wird! Ach, wie süß warst du früher! Wie flötend war deine Stimme, lallend wie süßer Honig. Nun bist du ein saurer Essigtropfen, wie billiger Wein, der alt geworden ist.
SIDURI
Hier ist eine Flasche Litschi-Likör. Trink, Eva! Das Leben ist ein harter Kampf und eine schwere Arbeit, nur die Poesie und das Kinderspiel sind heiter. Für Sorgen sorgt das Leben, aber Kummerbrecher ist der Litschi-Likör.
EVA
Wer sich spirituell höher entwickeln will, der darf nach der Lehre der Theosophen keinen Wein trinken.
VATER ELIAS
Eva, du bist so bitter und so böse geworden, seit du in die Schule der Theosophen gegangen bist. Deine übertriebne Askese hat dich hart gemacht.
MARIE
Vater Elias, rede nicht so schlecht über Eva! Sie ist ein guter Mensch, ein liebes Wesen. Du hast sie doch einmal vergöttert.
VATER ELIAS
Sie war so charmant wie der Charme Gottes. Aber seit sie in die Schule der Gnosis gegangen und die Feige vom Baum der Erkenntnis gepflückt, ist ihr Herz härter als ein Stein.
MARIE
Sie kann ja nicht zu allem und jedem Ja und Amen sagen. Sie muss sich wehren, dass sie nicht ausgenutzt wird.
VATER ELIAS
Wenn ich von Gottes Vaterliebe predige, sagt Eva nur ihr Nein-Wort.
MARIE
Und findest du sie nicht mehr schön?
VATER ELIAS
Die Liebe macht schön. Ein Herz im Busen, das härter ist als Stein, das nimmt dem Busen alle Schönheit.

(Der Knabe Maximilian tritt ein.)

MAXIMILIAN
Vater Elias, lieber Vater! Abba, Abba, komm mit mir! Lass doch die harten Frauen und die unberührbaren Mädchen und folge mir in die Freiheit!
VATER ELIAS
Mein Knabe, mein Liebling! Maximilian, mein Sohn, wohin sollen wir gehen?
MAXIMILIAN
Wir fahren mit einem Zirkuswagen durch Europa. Wir beide spielen Clown im Zirkus. Ich kann auch Zauberkunststücke. Ich kann Münzen verschwinden lassen.
VATER ELIAS
Münzen verschwinden lassen, das ist keine Kunst. Münzen herbeizuzaubern, das ist die Kunst.
MAXIMILIAN
Was brauchen wir Münzen? Der liebe Gott lässt süße Kirschen an den Bäumen wachsen zur Speise für die Amseln und für uns!
VATER ELIAS
Aber schlucke die Kirschkerne nicht hinunter, denn sonst kriegst du Bauchschmerzen.
MAXIMILIAN
Ich schenke dir einen Kirschkern! Und wenn morgen die Welt untergeht, so pflanzen wir heute noch einen Kirschbaum.
VATER ELIAS
Aber nicht mit sauren Kirschen.
MAXIMILIAN
Nein, mit süßen Kirschen.
VATER ELIAS
Wie sie Amseln und Kindern behagen.
EVA
Elias, verlass mich nicht! Ich bin zwar alt geworden und leider auch dick geworden, aber geh nicht mit dem Knaben fort! Ich will doch selbst von dir noch einen Knaben haben!
VATER ELIAS
Der Sohn ruft, der Vater folgt dem Sohn.

(Vater Elias und Maximilian ab.)


VIERTE SZENE


(In Vater Elias’ Zimmer, notdürftig aufgeräumt, doch dicke Staubwolken auf den unzähligen Büchern. Vater Elias sitzt auf seinem Sofa, auf dem zweiten Sofa sitzt das siebzehnjährige Mädchen Marie.)

VATER ELIAS
Ich habe gestern Nacht zu tief ins Glas geschaut, darum bin ich in der Nacht immer wieder aufgewacht, weil ich solch einen brennenden Durst nach frischem Wasser hatte.
MARIE
Vater Elias, den Seinen gibt es der Herr im Schlaf. Was hast du geträumt?
VATER ELIAS
Ich habe von dir geträumt, ich habe immer von deinem Namen geträumt, Marie, und immer nur Marie.
MARIE
Ich habe gestern Abend wohl deine heimlich bewundernden Blicke gespürt.
VATER ELIAS
Ich habe in der Nacht im Vollrausch noch eine Ode an meine heimliche Liebe gedichtet.
MARIE
Wieso gerade ich?
VATER ELIAS
Im Beichtstuhl sagte ich einmal dem Jesuitenpater: Ich möchte die Madonna einmal nackt sehen! Da gab mir der Jesuit eine Bibel mit Holzschnitt-Illustrationen. Ein Holzschnitt stellte Sulamith dar, die nackt unter einem Granatapfelbaum steht und einen Granatapfel in der rechten Hand hält, die linke Hand liegt leicht auf ihrer Scham. Diese nackte Sulamith ist die nackte Madonna. Und du siehst genauso aus wie diese nackte Madonna.
MARIE
Aber ich habe mich dir nicht nackt gezeigt, nicht einmal leichtfertig gekleidet.
VATER ELIAS
Nein, Marie, du kleidest dich nicht wie diese sexualisierten Weiber. Du kleidest dich so anmutig und so rein wie die Madonna in all ihren Erscheinungen. Oder bist du eine Marien-Erscheinung?
MARIE
Was sagst du zu diesen Regengüssen draußen?
VATER ELIAS
Ich frage mich, ob Gott die Welt noch einmal mit einer Sintflut bestrafen muss? Ich habe darum eine Ode an Noah gedichtet.
MARIE
Sing mir dein Lied von Noah!
VATER ELIAS

O d e a n N o a h

Noah, Noah! Dein Name
Heißt Tröster und Ruhebringer.
Noah, lieber Noah!
Höre die Stimme des Vaters:
Es wird Zeit, bau die Arche!
Die Schriftgelehrten sagen spottend:
Wähle dir eine Geliebte,
Indem du die Heilige Schrift befragst:
Sie ist riesengroß
Und über und über mit Pech beschmiert!
Lieben Brüder Schriftgelehrte,
Das ist wahrlich meine Geliebte,
Die Arche Noah
Ist meine heimliche Liebe!
In ihrem Bauche
Haben alle Vögelein Platz
Und alle Schlangen der Wüste.
Meine Geliebte, die Arche Noah,
Rettet auch mich durch die Sintflut hindurch.
Auf dem Gipfel des Ararat
Seh ich meine Geliebte
Und sehe Noah
Und sehe drei Söhne Noah.
Noah, Noah, mein Tröster!
Pflanze einen Weinstock,
Bau einen Weinberg!
Noah lag auf seinem Bette
Und es kamen die drei Söhne Noah,
Sem, der Semiten Vater,
Japhet, der Vater von Jawan,
Und Ham, der Vater Ägyptens.
Sem und Japhet
Verhüllten ihre Augen
Vor ihres Vaters bestem Stück.
Aber Ham sah den Vater nackt
Und bestaunte sein kraftvolles Glied!
MARIE
Ich liebe diesen Noah!


FÜNFTE SZENE


(Vater Elias in seinem Zimmer, er entkorkt eine Flasche Wein.)

VATER ELIAS
Plopp! Das Geräusch, das der Korken macht, wenn man die Flasche entkorkt, ist wie ein Urknall. Und dann: gluck-gluck! Der Wein gluckst so glücklich in den kristallenen Kelch!

(Die beiden blonden Schwestern von Marie treten ein.)

ÄLTERE BLONDE SCHWESTER
Vater Elias!
JÜNGERE BLONDE SCHWESTER
Ach, lieber Vater Elias!
VATER ELIAS
Ihr blonden Schwestern, kommt in meinen Kuschel-Club! Küsschen, jüngere blonde Schwester, ein Küsschen aus der Ferne! Ältere blonde Schwester, du bist ein Engel! Mutter aller indischen und indianischen Kinder, Engel meiner Todesstunde!
ÄLTERE BLONDE SCHWESTER
Engel sind wir, aber Todesengel!
VATER ELIAS
Tod, wie bitter bist du einem starken gesunden Mann, dem alles glückt im Leben! Tod, wie süß bist du einem kranken und elenden Manne, der nur noch um Erlösung vom Todesleibe bittet!
JÜNGERE BLONDE SCHWESTER
Aber Vater Elias, du musst noch nicht sterben.
VATER ELIAS
Wie, ihr Todesengel? Warum seid ihr gekommen?
ÄLTERE BLONDE SCHWESTER
Marie ist tot!
VATER ELIAS
Unglaublich!
JÜNGERE BLONDE SCHWESTER
Ertrunken in der Elbe!
VATER ELIAS
Weiß eure Mutter, dass ich euch liebe?
JÜNGERE BLONDE SCHWESTER
Unsre liebe süße Mutter kommt gleich selber. Ihr Herz ist zu Tode verwundet.

(Die süße Mutter tritt ein, eine schlanke Frau von vierzig Jahren. Die Brüste zeichnen sich unterm Hemd ab.)

SÜSSE MUTTER
Na, meine beiden weißen Schwäne? Seid ihr dem Vater Elias auf den Teich geflattert?
VATER ELIAS
Walkyren sind es, Schwanenjungfraun, die der seligen Marie ein Requiem singen.
SÜSSE MUTTER
Ja, musikalisch sind meine beiden weißen Schwanenjungfraun wie Singschwäne, die dem Tode ein Willkommen singen: Halleluja, Tochter in Elysium!
VATER ELIAS
Der Herr hat sie uns gegeben! Der Herr hat sie uns genommen! Singt dem Herrn ein Halleluja!
SÜSSE MUTTER
Marie spielt jetzt im Himmel Geige.
VATER ELIAS
Ein Himmel voller Geigen! Ein Himmel voller Marien!
SÜSSE MUTTER
Der Tod hat mir weh getan!
VATER ELIAS
Du musst selbst noch dem lieben Gott verzeihen!
SÜSSE MUTTER
Ich kann nicht mehr kämpfen. Resignation! Resignation!
VATER ELIAS
Lass dich umarmen, süße Mutter.
SÜSSE MUTTER
Das Herz einer Mama! Wer wagt es, das Herz einer Mama zu durchbohren mit giftigen Pfeilen?
VATER ELIAS
Ich habe Marie geliebt! Sie wusste nicht, wie sehr ich sie geliebt hab! Ich habe geschwiegen. Ich habe ihr nicht gesagt, wie sehr ich sie geliebt hab.
SÜSSE MUTTER
Meine weise Marie weiß, dass du sie liebst!
VATER ELIAS
Mein Engel, mein Himmel, mein Paradies, meine Madonna Marie!
SÜSSE MUTTER
Kommt heim, meine weißen Schwanenjungfraun, kommt heim, Walkyren, heim zu eurer Mama!


SECHSTE SZENE


(Vater Elias in seinem Zimmer. Er sitzt vor einem leeren Blatt Papier.)

VATER ELIAS
Das, denken die Toren, sei so leicht, die Schwanenfeder ins Tintenfass zu tauchen und dann zu singen. Wehe mir, meine Muse ist gegangen! Ich bin ein Liebender ohne Geliebte!

(Johannes tritt ein. Sein Haar verwildert, seine Kleidung unordentlich.)

JOHANNES
Vater Elias, Marie ist fort! Marie ist fort! Marie ist gen Himmel gefahren !
VATER ELIAS
Johannes, man sieht dir an, du hast geweint. Einmal stand vor mir der barmherzige Jesus, ich sagte zu ihm: O Jesus, ich seh es deinen Augen an, du hast geweint!
JOHANNES
Ich war an ihrem Grab. Da pflanzte ich Lavendel.
VATER ELIAS
Johannes, mein Sohn Johannes, du stehst da wie ein Grabstein aus Granit! Bist du ein lebendes Denkmal für Marie? Bist du ein Bote aus dem Jenseits, mir zu sagen, Marie sei glücklich?
JOHANNES
Ich soll dir sagen, Vater Elias, ich soll dir sagen von Marie: Ich bin glücklich im Himmel und will nicht auf die Erde zurück!
VATER ELIAS
Laß mich allein, Johannes.
JOHANNES
Wehe mir, ich bin mit Marie gestorben!

(Johannes ab.)

VATER ELIAS
Ich kann nicht singen ohne Musenkuß und Mädchenhuld! O Gott, ein Königreich für ein Mädchen, ein Königreich für ein Mädchen!

(Er tritt vor seine Haustür.)

SOPHIE
Guten Tag!
VATER ELIAS
Wer bist du, Mädchen? Wie heißt du?
SOPHIE
Ich heiße Sophie.
VATER ELIAS
Sophie? Oder Sophia?
SOPHIE
Sophie.
VATER ELIAS
Sei du meine Philosophie!
SOPHIE
Was für eine Philosophie?
VATER ELIAS
Sei du meine Philosophie der Liebe! Komm in meine Wohnung, dass wieder eine goldne Wolke der Herrlichkeit in meiner Wohnung sei!

(Sophie tritt ein.)

SOPHIE
Hier lebst du also? Auf diesem Berg von Büchern und leeren Weinflaschen?
VATER ELIAS
Schau, ich habe ein Harmonium geschenkt bekommen.
SOPHIE
Und spielst du auch darauf?
VATER ELIAS
Ich improvisiere.
SOPHIE
Ich liebe die Musik!
VATER ELIAS
Eine Muse, die die Musik liebt! Spielst du ein Instrument?
SOPHIE
Ja, die Geige. Und manchmal singe ich auch.
VATER ELIAS
Was singst du?
SOPHIE
Jerusalem, Jerusalem!
VATER ELIAS
Wartet jemand auf dich?
SOPHIE
Ja, meine Großmutter. Sie ist schon siebzig Jahre alt und manchmal verwirrt. Ich muß heim.
VATER ELIAS
Kommst du noch einmal wieder zu Elias?
SOPHIE
Wir sehen uns!


SIEBENTE SZENE


(Auf der Straße treffen sich Vater Elias und der betrunkene Narr Harlekin.)

HARLEKIN
Frau Kannegießer, meine Wirtin, Frau Kannegießer ist an Krebs gestorben!
VATER ELIAS
Gott hat den Tod nicht geschaffen.
HARLEKIN
Frau Focken-Bottle, meine Lehrerin, Frau Focken-Bottle hat mich aus der Schule geworfen!
VATER ELIAS
Debilissimus!
HARLEKIN
Nun bet ich immer zur heiligen Juliana!
VATER ELIAS
Der Freundin der seligen Evelin?
HARLEKIN
Die selige Evelin wird nur in der Lüttich-Straße verehrt, aber die heilige Juliana auf der ganzen Welt! Ich hebe den Kelch auf die heilige Juliana! Erleuchte mich, heilige Juli! Bald kommt der Juli-Mond! Jetzt geht der Corpus Christi durch unsern Garten.
VATER ELIAS
Die heilige Juli und der Corpus Christi!
HARLEKIN
Die vergöttlichte Juli und der weiße Leib der Ewigen Weisheit!
VATER ELIAS
In der Monstranz...
HARLEKIN
Blubb! Mit der Monstranz gegen das monströse Monster!
VATER ELIAS
Aber du trinkst zuviel! Hast du Religion oder Wein im Blut?
HARLEKIN
Die Religion überlass ich den Zisterziensern, den heiligen Bernhardinern! Ich habe den Wein in mein Blut verwandelt!
VATER ELIAS
Wo ist deine Colombine?
HARLEKIN
Colombine ist tot, Colombine ist tot, es lebe der weiße appetitliche Leib der Ewigen Weisheit!
VATER ELIAS
Hat Jesus die Frauen geliebt?
HARLEKIN
Ja, erst die Johanna und dann die Susanna und dann die Magdalena.
VATER ELIAS
Und welche Frau war seine große Liebe?
HARLEKIN
Gestern sah ich in Hamburg die Madonna. Es war in Buxtehude unter einem Kirschbaum. Die Madonna war siebzehn Jahre jung, voll Hoheit und voll Huld, eine Anmut, eine Schönheit, vom Himmel auf die Erde herabgestiegen. In ihren Armen ruhte der Jesusknabe, vier Jahre alt, mit langen goldblonden Haaren, der Heiland und Trost der ganzen Welt. Dann sprang der Jesusknabe auf die Erde und spielte auf einer Wiese mit der Madonna Fußball. Ich sagte: Madonna, bist du außer Atem? Sie lächelte mich an und sagte: Ja!
VATER ELIAS
Hat Jesus auch mit dir gesprochen?
HARLEKIN
Der Jesusknabe sagte: Ich will dir was flüstern ins Ohr! Ich beugte mich zu Jesus herab und sagte: Ja, ich höre! Er flüsterte mir ins Ohr: Kommst du gleich mit mir auf die Wiese, Fußball spielen? Ich sagte: Ja, mein Heiland, ich will dein Fußball sein!
VATER ELIAS
Und die Madonna?
HARLEKIN
Die Madonna kam zu mir und sagte: Harlekin, du bist doch Tabakraucher, du hast bestimmt Feuer für mich! Zünde doch bitte diese Kerze an!
VATER ELIAS
Du hast der Madonna Feuer gegeben?
HARLEKIN
Ja, es war eine Totenkerze, ein Ewiges Licht für meine tote Colombine! Ach, Colombine flattert jetzt im Himmel! Einst werde ich Colombine wieder flattern sehen!
VATER ELIAS
Seliger Narr!


ACHTE SZENE


(Sommernacht. Unter regennassen Kirschbäumen Vater Elias und die Jungfrau Sophie.)

VATER ELIAS
Sophie, du bist so schön, ich möchte dich malen! Ich möchte malen können wie Botticelli, denn du bist schön wie Botticellis Muse! Du bist heitere Serenitas wie Botticellis Primavera, du bist schlank wie Botticellis Venus auf der Muschel, du bist fein und anmutig wie Botticellis Madonna mit dem Granatapfel, du bist hoheitsvoll wie Botticellis Minerva, und ich bin dein Kentaur. Du bist meine Ikone des florentinischen Neuplatonismus. Gott ist die Urgottheit, Gott ist die Urschönheit. Früher war Gott mir in Eva erschienen, aber Eva hat ihr Herz von Gottes Wort abgewandt. Nun bist du, o Jungfrau Sophie, die Inkarnation der göttlichen Schönheit. Puschkin nannte dich flüchtige Erscheinung des Genius der reinen Schönheit. Mit dir als meinem Ideal der reinen Schönheit kommt mir wieder Leben, Liebe und Inspiration.
SOPHIE
Ich danke dir für deine Liebe. Du nennst mich flüchtige Erscheinung der göttlichen Schönheit, aber ist deine Liebe nicht auch flüchtig?
VATER ELIAS
Ich liebe die Menschen nicht, ich liebe nur die Schönheit der Menschen. Ich bin den Menschen nicht treu, ich bin allein der göttlichen Schönheit treu.
SOPHIE
Du bist ein Dichter, du bist von Gott berufen zur Anbetung der göttlichen Schönheit.
VATER ELIAS
Ob die Wesenheit der Schönheit ein eigenes Dasein hat oder nur existiert in ihrer konkreten Erscheinung, das weiß ich nicht. Aber das ich ein meiner Seele innewohnendes Ideal habe, das weiß ich, und dass ich dieses Ideal allein liebe, das mir in verschiedenen Menschen schon begegnet ist. Aber heute ist die Madonna lieblicher und schöner als je!
SOPHIE
Elias, dein Antlitz ist von tiefen Schmerzen geprägt. Ich sehe die Stirnfalten deines einsamen nächtlichen Philosophierens, ich sehe die tiefen Schatten unter deinen Augen und dass du viel geweint hast. Ich sehe die grauen Haare in deinem Bart und vom vielen Weingenuß ist dick dein Bauch geworden. Aber man sagte auch von Sokrates, er sei äußerlich nicht schön. Er sah aus wie ein bocksbeiniger und gehörnter Satyr. Aber wenn man die Satyr-Figur öffnete, saß man im Innern die drei Grazien.
VATER ELIAS
Leider hat kein griechischer Maler die drei Grazien des Sokrates gemalt. Raffael aber hat uns die drei Grazien herrlich offenbart. Ein Gott in drei Personen, das übersteigt mein Fassungsvermögen, aber dass in dir als einer Göttin der Schönheit die drei Grazien vereinigt sind, das ist die pure Evidenz.
SOPHIE
Vater Elias, so bist du mein Satyr Sokrates.
VATER ELIAS
Und du bist meine Anima, du bist die Grazie meiner Seele.
SOPHIE
Ich bin im Alter aufblühender Wachstumshormone, aber du bist alt und grau geworden.
VATER ELIAS
Aber je älter mein äußerer Mensch wird, desto jünger wird meine Anima. Der äußerliche Mensch verfällt, ja, das Fleisch verwest bei lebendigem Leibe, aber der innere Mensch wird von Gott doch Tag für Tag verjüngt.
SOPHIE
Du gehst ja auch immer rascher der ewigen Jugend entgegen.
VATER ELIAS
Was mich betrifft, ich habe die Gottheit immer im Innern meines Geistes als jugendliche feminine Schönheit geschaut. Und du bist die Realisierung dieser Evidenz Gottes.
SOPHIE
Du bist ein Idealist.


NEUNTE SZENE


(Konzerthalle. Ein Gitarrespieler und seine Tochter, die Sängerin. Vater Elias und der Knabe Micha.)

GITARRIST
Ich habe mir die Finger blutig gespielt, Vater Elias, bis ich so gut war wie jetzt. Meine Tochter wird zwei Lieder singen. Zwei geniale Komponisten haben die Lieder komponiert, Johann Sebastian Bach und ich. Ich habe das erste Lied komponiert zum Tode meines Vaters und es heißt: Halleluja!
VATER ELIAS
Ich habe inzwischen großen Durst.

(Er füllt sich einen Kristallkelch mit Wein.)

GITARRIST
Vater Elias, erzähle mir vom Phönix!
VATER ELIAS
Es ist eine alte orientalische Sage. Der sagenhafte Vogel Phönix lebt fünfhundert Jahre, dann stürzt er sich in sein brennendes Nest aus Myrrhe und verbrennt. Aber er erfährt eine Auferstehung vom Tode und steigt aus der Asche neu lebendig wieder auf.
GITARRIST
Phönix aus der Asche, ja, ich weiß. Die Sage ist also sehr alt?
VATER ELIAS
Ja, schon im biblischen Buch Hiob sagte Hiob: Ich dachte, ich würde alt wie der Phönix und still in meinem Nest verscheiden.
GITARRIST
Meine Tochter Juliette wird jetzt das Lied singen, das ich zum Tode meines Vaters komponiert habe. Es ist sehr schön geworden und wir führen es gerne auf. Es hat nur eine Strophe, aber Juliette wird die Strophe dreimal singen.
VATER ELIAS
Nun ist das Glas schon wieder leer! Ach, die Flasche ist auch leer? Dann entkorke ich eine neue Flasche! Neuer Wein muß in neue Weinschläuche! Und ich fühle mich wie so ein neuer Weinschlauch!
GITARRIST
Du bist doch ein Dichter. Willst du nicht ein Gedicht vortragen?
VATER ELIAS
Ich habe meiner toten Marie ein Denkmal gesetzt.
JULIETTE
Oh, das möchte ich einmal lesen! Darf ich das auch lesen?
VATER ELIAS
Ja, aber erst einmal muß ich aufs Klosett, Wasser wegbringen.
MICHA
Ich muß auch!
VATER ELIAS
Dann komm mit, mein Knabe.

(Sie gehen zur Toilette. Vater Elias geht zuerst aufs Klosett.)

MICHA
Bist du bald fertig? Ich muß auch!

(Micha klopft an die Toilettentür. Vater Elias ruft von drinnen.)

VATER ELIAS
Wer klopft denn da? Ist das ein Zwerg?
MICHA
Nein!
VATER ELIAS
Ist das dann ein Heinzelmännchen?
MICHA
Nein! Ich bins!

(Vater Elias kommt aus der Toilette. Micha geht aufs Klosett.)

VATER ELIAS
Ich warte draußen auf dich.
MICHA
Warum draußen?
VATER ELIAS
Ich dachte, du möchtest auf dem Stillen Örtchen deine Ruhe haben.
MICHA
Aber du wartest auf mich!
VATER ELIAS
Ja, ich warte auf dich. – Oh, jetzt hab ich den Auftritt der jungen Juliette verpasst!


ZEHNTE SZENE


(Vater Elias und der Knabe Maximilian auf einer großen Wiese, die von Tannen gesäumt wird.)

VATER ELIAS
Maximilian!
MAXIMILIAN
Lass dich umarmen, Vater!
VATER ELIAS
Lass mich noch einmal deine Stimme hören, du brüllender Löwenjunge, du Sohn einer Löwenmutter!
MAXIMILIAN
Ich weiß, Vater, wie du heißt! Du heißt...
VATER ELIAS
Elias heiße ich, weißt du das nicht mehr?
MAXIMILIAN
Nein, du heißt... Ach ja, du heißt: Lalla!
VATER ELIAS
(in gespielter Entrüstung)
Unverschämtheit!
MAXIMILIAN
Du bist lalla! Du bist lalla!
VATER ELIAS
Pass auf, ich schnapp dich und beiße dir dein Ohrläppchen ab!
MAXIMILIAN
Ich kitzle dich am Hals!
VATER ELIAS
Willst du an meinem Hals noch einmal die Unbefleckte Empfängnis küssen?
MAXIMILIAN
Ich sammle Tannenzapfen und dann beschieß ich dich mit Tannenzapfen!
VATER ELIAS
Ach, mein kleiner Amor! Nicht mit Feuerpfeilen schießt du auf mich, sondern mit Tannenzapfen?
MAXIMILIAN
Zum Angriff!
VATER ELIAS
Au! Na warte, ich schieße zurück!
MAXIMILIAN
Du triffst mich nicht! Da! und da! und da!
VATER ELIAS
Ich bin außer Atem. Lass uns Pause machen.
MAXIMILIAN
Lalla! Lalla!
VATER ELIAS
O mein Liebling!
MAXIMILIAN
Wie ging noch mal das Spiel mit dem Engel der Liebe?
VATER ELIAS
Du bist der Engel der Liebe, ein kleiner nackter Knabe mit Flügeln an den Schultern, und du hast in Händen Pfeil und Bogen. Und wenn du mich mit dem Pfeil ins Herz triffst, ruf ich: Liebling, Liebling, ich liebe dich!
MAXIMILIAN
Da! Getroffen!
VATER ELIAS
Ah! Ich liebe dich!
MAXIMILIAN
Und du hast mir doch einmal einen Becher geschenkt mit zwei kleinen Schutzengeln drauf.
VATER ELIAS
Ja, wenn Maria auf den Wolken erscheint, dann schauen ihr zu den bloßen Füßen zwei kleine Engelein vom Himmel auf die Menschenkinder.
MAXIMILIAN
Sind die Engel wirklich so?
VATER ELIAS
Ich war einmal in einer barocken Jesuitenkirche. Die Kuppel der Kirche war himmelblau und da wimmelte es im hellblauen Himmeln von kleinen Nacktärscherln!
MAXIMILIAN
Was sind denn Nacktärscherl?
VATER ELIAS
Kleine nackte Knaben mit blonden Haaren, Flügeln an den Schultern und nackten Popos.
MAXIMILIAN
So sind also die Engel?
VATER ELIAS
Ich fuhr einmal mit einem Omnibus nach Lourdes in Südfrankreich, wo Maria einem jungen Mädchen namens Bernardette erschienen ist. Da waren im Bus auch viele Kinder und Jugendliche. Und oben in der Gepäckablage spielten lachend die kleinen Engelein und tobten fröhlich herum!
MAXIMILIAN
Ich schenke dir was zum Abschied. Da, ein Kirschkern! Du brauchst ihn mir auch nicht wiederzugeben.
VATER ELIAS
Ich werde im Gebet immer bei dir sein.


ELFTE SZENE


(Auf einer Gartenbank unter einer breiten Hainbuche sitzt Elias, Maximilian auf seinem Schoß. Ihm gegenüber auf einer zweiten Gartenbank neben einem Rhododendron sitzen zwei Mütter.)

ERSTE MUTTER
Mein Sohn studiert Arabisch. Er war schon im arabischen Palästina. Bald will er nach Saudi-Arabien, Mekka und Medina zu sehen.
VATER ELIAS
Die Muslime verachten die atheistischen Europäer. Aber wenn ein Europäer sagt: Ich glaube an Gott und an Jesus Christus! Dann freuen sich die Muslime und sagen: Wir haben ja vieles gemeinsam, eure Propheten sind auch unsre Propheten, Noah, Josef, Moses, David, Salomon und Jesus. Aber wir glauben an Einen Gott.
ERSTE MUTTER
Ich interessiere mich eigentlich nicht für den Islam. Aber wenn der eigene Sohn den Islam studiert, dann möchte ich doch ein wenig Bescheid wissen.
VATER ELIAS
Darf ich dir einmal meine Gedichte nach dem Koran schenken? Ich habe auch über Fatima und die Huris geschrieben. Ich kenne die arabischen Philosophen und die persischen Mystiker-Dichter.
ERSTE MUTTER
Ich müsste einmal die satanischen Verse lesen.
VATER ELIAS
Die satanischen Verse preisen die heidnischen Fruchtbarkeitsgöttinnen, die Naturgöttin.
ERSTE MUTTER
Und deine Gedichte preisen Allah?
VATER ELIAS
Ja, meine Gedichte preisen Allah und den Sohn Allahs, den die Jungfrau Maryam vom heiligen Geist empfangen hat.
ERSTE MUTTER
Ich lese eigentlich keine Gedichte. Ich bin auch nicht sehr gebildet, wenn ich auch so aussehe. Ich lese lieber Unterhaltungsromane.
VATER ELIAS
Damit kann ich leider nicht dienen.
ZWEITE MUTTER
Mir geht es ähnlich. Meine Tochter hat in Berlin jüdische Geschichte studiert. Dazu hat sie auch eine jüdische Synagoge besucht. Ich und mein Mann waren auch in der jüdischen Synagoge, in einer liberalen, nicht in einer orthodoxen Synagoge. Daraufhin ist mein Mann aus der katholischen Kirche ausgetreten und zum Judentum konvertiert. Meine Tochter hat einen Juden aus Israel geheiratet und ist nach Israel gezogen. Sie studiert jetzt an der Universität von Jerusalem. Sie hat sich mit der Torah, der Kabbala und der jüdischen Philosophie beschäftigt.
VATER ELIAS
Ich habe ein Poem übers Judentum geschrieben, zur Sühne für die Sünden meines Großvaters, der Nationalsozialist gewesen ist. Ich muß doch die Vorfahrenschuld abtragen.
ZWEITE MUTTER
Vorfahrenschuld abtragen? Das kann man nicht. Ich kenne eine muslimische Familie, deren Sohn Drogensüchtiger war und gestorben ist, aber noch Schulden hatte. Die Muslime wollten die Schulden ihres Sohnes begleichen, auf dass er ins Paradies komme. Ich sagte: Wenn er tot ist, hat er keine Schulden mehr.
VATER ELIAS
Wir Katholiken beten für unsre Toten, dass Gott ihnen auch im Jenseits noch die Sünden vergebe. So lebe ich mit meinen Toten, die für mich zu Engeln geworden sind.
ZWEITE MUTTER
Aber nur, wenn sie Zucker sind. Wenn sie Essig sind, sind sie keine guten Engel.
VATER ELIAS
Die süßen Toten aber sterben mit einem Halleluja auf den Lippen.
ZWEITE MUTTER
Ja, mit einem Halleluja beginnt das Leben, mit einem Halleluja endet das Leben und mit einem Halleluja geht das Leben im Jenseits weiter. Und weißt du auch warum?
VATER ELIAS
Warum?
ZWEITE MUTTER
Weil es dort oben viel, viel guten Wein gibt!


ZWÖLFTE SZENE


(Nacht. Unter der Hainbuche auf der Gartenbank Vater Elias und ein achtzigjähriger Handwerksmeister.)

HANDWERKSMEISTER
Darf ich mich zu dir setzen?
VATER ELIAS
Ja, ich trinke gerade die letzte Flasche leer. Sophie, mein Henkersmädel, / komm, küsse mir den Schädel!
HANDWERKSMEISTER
Ich denke viel an den Tod.
VATER ELIAS
Meine Marie ist auch von mir gegangen. Aber ich lebe mit meinen Toten. Ich bin versunken in Erinnerungen, ich lebe gar nicht in der Gegenwart, sondern ich lebe in den Erinnerungen an Marie. Dabei sagte mir der Heilige Geist: Lass los und lebe in der Gegenwart! Aber ich will, dass meine Toten mich nicht verlassen! Ich will sie nicht vergessen! Manchmal meine ich, ich sehe Marie auf der Straße, plötzlich ist sie da, oder sie singt mir ein französisches Liebeslied im Radio vor. Dann merke ich: Mein Engel ist da, begleitet mich und segnet mich.
HANDWERKSMEISTER
Ich dagegen bin nüchterner Realist. Vor einem Monat ist mein Sohn gestorben an einer unheilbaren Krankheit. Er war erst fünfzig Jahre alt. Aber wenn er nicht gestorben wäre, so wäre sein Leiden immer schlimmer geworden. So war der Tod für ihn eine Erlösung.
VATER ELIAS
Das tut mir leid für Sie.
HANDWERKSMEISTER
Ich denke auch über Gott nach. Da gibt es Buddha, Manitou, Allah, Donar und Jehowah, und alle diese Götter geben dem Menschen ein Gesetz, nachdem sie leben sollen. Aber wir reden immer nur vom Menschen. Die Natur hat auch ein Recht zu leben. Der Mensch braucht die Natur, aber die Natur braucht den Menschen nicht.
VATER ELIAS
Und hat Ihr Sohn auch Kinder zurückgelassen?
HANDWERKSMEISTER
Ja, einen Sohn von zwanzig Jahren. Der lebt jetzt allein bei seiner Mutter. Sie erzieht ihn mit weiblicher Liebe, aber ein Sohn braucht zur Erziehung auch die männliche Autorität. Männer denken eben anders als Frauen. Ein Kind braucht das weibliche Denken und das männliche Denken. So hab ich meinen Enkel anstelle meines Sohnes als Sohn angenommen und sorge mich um ihn. Ich habe ihm eine Arbeitsstelle besorgt. Aber er ist ein Schwächling.
VATER ELIAS
Wie meinen Sie das: ein Schwächling?
HANDWERKSMEISTER
Nun, er kann keine schwere körperliche Arbeit tun, dann ist er gleich erschöpft. Aber um ein guter Handwerksmeister zu sein, muß man was von Menschenführung verstehen. Wenn einer kräftige Muskeln hat, aber ein wenig dumm ist, soll er die harte Arbeit tun. Aber wenn einer ein Schwächling ist, aber pedantisch genau im Kopf ist, so gib ihm eine andre Arbeit. Wenn man allerdings dem Kraftprotz intelligente Arbeit gibt und dem pedantischen Schwächling körperliche Schwerstarbeit, dann hat man als Meister keine Menschenkenntnis.
VATER ELIAS
Ich bin so sturzbetrunken und kann nur noch an die Jungfrau Sophie denken. Sie ist wie ein dichtbehangener Kirschbaum voller dunkelroter Süßkirschen.
HANDWERKSMEISTER
Dann lass ich dich jetzt mal allein.
VATER ELIAS
Ich bin fünfzig Jahre alt und Sophie ist siebzehn Jahre jung, aber wenn ich vor ihr stehe, fang ich an zu stottern wie ein schüchterner Knabe.
HANDWERKSMEISTER
Gute Nacht.


DREIZEHNTE SZENE


(Vater Elias und die Jungfrau Sophie an einem Tisch, sie essen chinesische Suppe.)

VATER ELIAS
Sag mir, wo du wohnst?
SOPHIE
Ich lebe mit meiner Großmutter in einem alten Bauernhaus. Wir haben Schafe und Hühner und Tauben und Pferde. Das zutrauliche Mutterschaf heißt Regina Coeli und die schwarze Stute heißt Indrani. Wir haben auch einen großen Garten mit Nussbäumen und Apfelbäumen. Da mähe ich gerne das Gras mit der Sense. Wir haben ein Gemüsebeet und essen gerne Gemüsesuppe mit selbstgebackenem Brot. Ich mag gerne Beerlauch.
VATER ELIAS
Ich würde dich gerne einmal besuchen.
SOPHIE
Vielleicht lad ich dich auf mein Sommerfest ein. Soll ich dich dann meinen Freundinnen vorstellen: Das ist der alte Mann, der mich anbetet?
VATER ELIAS
Ach, du wirst mich verlassen. Deine königliche Hoheit voller Huld wird einen Jüngling lieben lernen. Was soll auch eine irdische Göttin mit solch einem alten Tränensack?
SOPHIE
Ja, ich werde dich verlassen. Ich gehe bald nach Amerika.
VATER ELIAS
Was willst du in New York?
SOPHIE
Nein, ich will zum andern Amerika. Ich gehe nach Peru.
VATER ELIAS
Auf den Spuren der Inka?
SOPHIE
Nein, ich gehe zu den armen Straßenkindern, ihnen zu helfen.
VATER ELIAS
Ich habe gestern einen Schwarzafrikaner getroffen. Ich sagte: Friede sei mit dir, Pascal! Wie geht es deiner Familie in der Elfenbeinküste? Er sagte: Die Franzosen haben die Elfenbeinküste bombadiert. Frankreich will Afrika nicht aufgeben. Nordamerika und China streiten sich um den afrikanischen Markt, um die afrikanischen Rohstoffe. Ich fragte ihn, ob es in der Elfenbeinküste einen Krieg zwischen Muslimen und Christen gebe. Er sagte: Nein. Im Norden leben die Muslime und im Sünden die Christen. Er sei Papist, aber seine besten Freunde lebten im Norden. Zu Ramadan schenken die Muslime den Christenkindern Süßigkeiten und zu Weihnachten schenken die Christen den Kindern der Muslime Süßigkeiten. Der Krieg in der Elfenbeinküste sei von Frankreich inszeniert, mit der Unterstützung Nordamerikas. Die Franzosen hätten immer noch imperialistische und kolonialistische Gelüste. Nordamerika will den Wirtschaftskrieg gegen China um die afrikanischen Diamanten gewinnen.
SOPHIE
Meine Solidarität gilt den Armen, ja, den Ärmsten der Armen.
VATER ELIAS
Eva sagte mir: Man kann nicht immer als Mutter Teresa durch die Welt gehen, man muß auch böse sein! Aber warum? Warum nicht Mutter Teresa zum Vorbild nehmen?
SOPHIE
Ich werde dir eine Photographie aus Peru schicken.
VATER ELIAS
Ja, die Jungfrau Sophie, auf dem Schoß einen kleinen Knaben mit Orange in der Hand, um sie ein Dutzend kleine Inka-Kinder.
SOPHIE
Adieu!
VATER ELIAS
(küsst ihr die Hand)Ich wünsche dir alles Gute!


VIERZEHNTE SZENE


(Im Speisezimmer des alten Paul Michael. Vater Elias, Mutter Morpho und ihre Tochter Mercedes mit Violincelli.)

PAUL MICHAEL
Wie geht es deiner Gesundheit, Vater Elias?
VATER ELIAS
Der Arzt hat meine Lunge untersucht: Mein lieber Schwan, sagte er, wann wollen Sie unter die Erde? Recht bald, sagte ich.
PAUL MICHAEL
Und deine Leber? Alles in Ordnung?
VATER ELIAS
Der Arzt fragte: Wie viel trinken Sie? Ich sagte: Eine Flasche Wein am Tag. Er sagte: Dann sind Sie alkoholkrank. Ich weiß, sagte ich, dass ich alkoholkrank bin, aber ein echter Alkoholiker weiß das nicht mehr.
PAUL MICHAEL
Und wie geht es den Nerven?
VATER ELIAS
Chronisch krankhaft traurig. Man gab mir Morphium für die Seele. Nun verschlaf ich die Hälfte des Tages und träume wirres Zeug.
PAUL MICHAEL
Ich habe einen Hexenschuss im Rücken.
VATER ELIAS
Das geht vorbei.
PAUL MICHAEL
Ich habe Krebs, Metastasen im Rückenmark und Blutkrebs.
VATER ELIAS
An Blutkrebs ist mein Vater gestorben. Einen Vater verliert man nur einmal.
PAUL MICHAEL
Die Chinesen sagen, ich solle Musik von Meister Wu hören. Ach, wenn ich noch in den Wald könnte und mit meiner chinesischen Meditation das Yin und Yang in mir harmonisieren! Vater Elias, du solltest auch chinesische Meditation treiben, dann verschwände auch deine Nervenkrankheit.
VATER ELIAS
Aberglaube! Ich glaube nicht an das Chi und die kosmische Harmonie von Drache und Phönix.
MUTTER MORPHO
(kniet vor Paul Michael und hält seine Hände)
Lieber, lieber Paul Michael! Ich und meine Tochter Mercedes wollen dir noch einmal auf dem Violoncello ein Ständchen bringen.
PAUL MICHAEL
Liebe Urmutter Morpho! Danke, mein Engelchen!
MUTTER MORPHO
Wir singen dir das Volkslied Annchen von Tharau.
PAUL MICHAEL
Das kann ich mitsingen.
VATER ELIAS
Ich kannte einmal ein Mädchen, das verliebt war in ein Violoncello und sagte: Ein Violoncello ist wie eine Geliebte!
TOCHTER MERCEDES
Lieber Onkel Paul Michael, ich singe jetzt für dich von Annchen von Tharau.

(Sie musizieren, Mercedes singt.)

VATER ELIAS
Mercedes! Mercedes! Ich bin ein Prophet, und ich weiß, wann die Madonna vom Himmel steigt! Mercedes, Mercedes, heute Abend habe ich den lieben Gott gesehen und der liebe Gott war ein junges schönes Mädchen!
PAUL MICHAEL
Ach, Vater Elias, ich kann nicht glauben an die Unbefleckte Empfängnis. Wie kann eine Frau von Gott ein Kind empfangen?
VATER ELIAS
(stampft mit dem rechten Fuß auf)
Irrtum! Die jungfräuliche Geburt Jesu ist nicht die Unbefleckte Empfängnis, denn der Mannessame in einer Frau beim ehelichen Beischlaf ist keine Befleckung, sondern die Befleckung ist die Sünde. Unbefleckte Empfängnis ist Marien Empfängnis, weil sie ohne Sünde ist seit ihrer Empfängnis im Schoß ihrer Mutter.
PAUL MICHAEL
Du echauffierst dich, mein Lieber.
VATER ELIAS
Unbefleckte Empfängnis, o wie schön du bist!


FÜNFZEHNTE SZENE


(Vater Elias und Johannes.)

JOHANNES
Marie!
VATER ELIAS
Dir sing ich meine Ode an die tote Marie.
JOHANNES
Das Denkmal, das du der toten Marie gesetzt, soll noch den Enkeln tönen.
VATER ELIAS

O d e a n d i e t o t e M a r i e

Marie, Marie ist fort,
Sie ist aus meiner sichtbaren Welt
Hinübergegangen in das Reich
Der Erinnerung. Mnemosyne,
Mutter der Musen, inspiriere mich!
Diese meine beiden Augen
Sehen nicht mehr ihre Augen,
Ihre großen weißen Mandelaugen!
Aber der Sehsinn des Herzens
Sieht sie überall, Marie,
Marie ist überall,
Schwebend über allen Frauen,
Schwebend über allen Mädchen
Als Königin der Schönheit!
Werde ich einmal vergessen,
Wie schön dein langes Haar war?
Werde ich einmal vergessen
Deine großen leuchtenden Augen?
Werde ich einmal vergessen
Deinen schön geschwungenen Mund
Und deine Fingernägel,
Rot wie Kirschen, Marie?
Wohin löst du dich auf?
Welche Seite der Wirklichkeit
Genießt jetzt deine Schönheit?
Erscheine mir wieder,
Mein femininer Engel!
Singe dein Lied in mir,
Marie, dein Lied der Liebe,
Dein Lied von der Wiese
Im himmlischen Paradies!
Komm wieder, Marie!
Der Geist und der Bräutigam rufen:
Komm bald wieder, Marie!

JOHANNES
Marie ist nicht mehr hier! Die Freude ist dahin! Die Flügel meines Herzens sind schwer wie Blei und hängen schlaff herab. Was bleibt?
VATER ELIAS
Es bleiben die weißen Brüste der Ewigen Weisheit!
JOHANNES
Wie?
VATER ELIAS
Die Ewige Weisheit ist eine göttliche Frau, an ihren beiden weißen Brüsten stillt sie zwei bärtige Philosophen.
JOHANNES
Welche Philosophie hat dir denn die Ewige Weisheit mit ihrer Milch in den Mund gespritzt?
VATER ELIAS
Den Kindern spritzt sie Milch der zärtlichen Liebe in den Mund. Mir als altem bärtigem Philosophen mit dickem Bauch spritzt sie herben blutigen Wein in den Mund!
JOHANNES
Und kein irdisches Mädchen offenbart uns mehr den Himmel auf Erden?
VATER ELIAS
Was bleibt, das ist der sechste Sinn der älteren Frauen.
JOHANNES
Du meinst, die Himmelskönigin ist nicht mehr, was bleibt, das sind die heidnischen Hexen?
VATER ELIAS
Die Himmelskönigin wird wiederkommen! Vielleicht muß sie noch Seelen auf den Dioskuren erlösen und Seelen in dem Sternennebel Carina?
JOHANNES
Ich bin bange, dass ich die Himmelskönigin nie wieder sehe.
VATER ELIAS
Sie wird immer wieder ein auserkorenes Gefäß erwählen, uns zu erscheinen.
JOHANNES
Vielleicht hab ich sie auch nur ein Jahr lang sehen dürfen und dann nie wieder?
VATER ELIAS
Ein Tag, an dem man die Makellose sieht, ist kostbarer als ein ganzes Leben in den Häusern der Gottlosen!


SECHSZEHNTE SZENE


(Vater Elias und der alte Paul Michael.)

PAUL MICHAEL
Ich stehe schon mit einem Fuß im Grabe, und du ahnst nicht, woran ich denke.
VATER ELIAS
Woran denkst du, mein lieber Vater?
PAUL MICHAEL
Ich denke an das Schönheits-Idol meiner Jugend.
VATER ELIAS
An wen?
PAUL MICHAEL
An Marilyn Monroe.
VATER ELIAS
Die blonde Venus?
PAUL MICHAEL
Ich höre noch, wie sie John F. Kennedy ein Ständchen zum Geburtstag brachte: Happy birthday to you, dear Mr. President, happy birthday to you!
VATER ELIAS
So ein Bettgeflüster am Rande des Grabes?
PAUL MICHAEL
Noch einmal will ich die Liebe genießen. Schau, was ich lese!
VATER ELIAS
Die chinesische Kunst der Liebe?
PAUL MICHAEL
Wie ein Mann die Erektion zurückhalten kann so lange wie möglich, bis er seine Frau in der Nacht vielmals zum Orgasmus gebracht.
VATER ELIAS
Ja, das Himmelreich ist wie eine Hochzeit. Manche Menschen kennen den Altar der Kirche nicht mehr, ihr einziger Altar ist das Bett der Liebe.
PAUL MICHAEL
Thanatos ist der Trieb zum Tode, die Libido ist der Trieb zum Leben und zur Liebe. Am Rande des Thanatos wird die Libido noch einmal mächtig.
VATER ELIAS
Sexualität ist ein Heiligtum des Schöpfers.
PAUL MICHAEL
Und was beschäftigt deine Libido, mein sehr verehrter Poet?
VATER ELIAS
Statt Thanatos und Libido herrschen in meiner Seele Thanatos und Morpheus.
PAUL MICHAEL
Wer ist das?
VATER ELIAS
Thanatos und Morpheus sind Zwillingsbrüder, der Tod und der Schlaf.
PAUL MICHAEL
Beschreibe mir den Morpheus, denn ach, ich kann in der Nacht nicht mehr schlafen.
VATER ELIAS
Morpheus ist ein schlanker blonder Knabe, sieben Jahre alt. In seiner Hand hält er eine Mohnblume. Er schneidet die Mohnkapsel auf und tropft das Opiat auf die Lippen des Menschen, der bald drauf einschläft und phantastische Träume träumt.
PAUL MICHAEL
Und sein Zwillingsbruder Thanatos?
VATER ELIAS
Auch Thanatos ist ein blonder Knabe von sieben Jahren, aber süßer als sein Bruder. Er hält in der Hand eine Fackel, so dass du ihn für den göttlichen Amor hältst! Aber dann senkt er die Fackel zum Wasser der Lethe und löscht das Feuer aus. Dann stirbst du.
PAUL MICHAEL
Ist die Seele unsterblich?
VATER ELIAS
Die Seele ist unsterblich.
PAUL MICHAEL
Wird die Seele wiedergeboren?
VATER ELIAS
Der Mensch lebt nur einmal, stirbt nur einmal und dann kommt das Gericht.
PAUL MICHAEL
Was ist Gott?
VATER ELIAS
Aristoteles sagt: Gott ist die Erstursache aller Bewegung. Kant sagt: Gott ist der Anruf an jeden Menschen, gut zu sein. Jesus sagt: Gott ist Liebe.
PAUL MICHAEL
Du philosophierst, mein Lieber, ich glaube, du bist weise.


SIEBZEHNTE SZENE


(Vater Elias in seinem Zimmer. Nacht. Auf dem Harmonium eine Kerze und ein Glas Rotwein. Er rezitiert seine Ode zum Harmoniumspiel in liturgischem Sprechgesang.)

VATER ELIAS

O d e a n d e n T o d d e s a l t e n M a n n e s i m W a l d e

Der alte Mann, gerufen
Vom ernsten Bruder Tod,
Dreibeinig schleicht er
Den letzten Gang in den Wald.
Abschied nimmt er
Von den geliebten Hütten
Und den bekämpften Palästen.
Er tritt ein in den Wald
Und murmelt seine Gebete.
Der wilde Eber hört ihn
Und gehorcht seinem Murmeln,
Der Fuchs wird scheu
Aus Ehrfurcht vor dem Alten,
Die Rehe lieben ihn an
Und schauen zärtlich zu ihm
Mit großen braunen Augen.
Er streichelt noch einmal
Den Farn aus den Tagen
Der Schöpfung der Welt,
Er steckt noch einmal
Seine Nase ins Moos
Und saugt den Duft ein
Des lebendigen Mooses.
Einmal noch streichelt er
Die alte deutsche Eiche
Und die mütterliche Blutbuche.
Spielend nimmt er in die Hände
Die Zapfen der Tanne
Und denkt noch einmal
An die fröhliche, selige Weihnacht,
Von lachenden Enkeln umtobt
Und dem Lächeln der schönen Tochter.
Ach Wald, du deutscher Wald,
Du große grüne Kathedrale,
Der alte Mann auf seinem Weg
Zum Rendezvous mit dem Tod
Tritt zu deinem bemossten Altar,
Umarmt das heilige Holz
Und atmet die Weltseele ein.
Über dem Walde aber,
Über dem deutschen grünen Walde,
Über der duftenden Kathedrale
Öffnen sich die schwarzen Wolken,
Gewitterschwangere schwarze Wolken
Tun sich auf und es erscheint
Ein segnender Strahl der Sonne.
Das segnende Licht der Höhe
Spiegelt sich in der feuchten Luft
Und die Frau Iris erscheint,
Das Zeichen der himmlischen Hoffnung.
Und aus dem offenen Himmel
Über die Brücke des Regenbogens
Kommt hernieder
Die Jungfrau Misericordia
Und lächelt an den alten Mann.
O Jungfrau Misericordia,
Wer hat dich gerufen?
Wer hat dich beschworen
Mit murmelnden Worten
Zur heiligen Perlenschnur?
Deine langen Haare
Verschleiern dein Antlitz,
Deine großen weißen Augen
Lächeln voll schöner Liebe,
Deine rosigen Lippen
Lächeln charmant
Dein kussliches Lächeln.
Jungfrau Misericordia,
Du beugst dich herab
Zum alten Mann
Am Rande des Grabes
Und flüsterst ins Ohr ihm
Hallelujagesänge:
Halleluja dem Schöpfer,
Halleluja dem Retter,
Halleluja dem Spender
Des ewigen Lebens!
Halleluja, Halleluja
Der Unsterblichkeit der Seele!
Halleluja, Halleluja
Der Auferstehung des Fleisches!
Alter Mann am Rande des Todes,
Dir war ein Leben bestimmt
Und nach dem einzigen Leben
Das göttliche Totengericht!
Da wird die Jungfrau Misericordia
Ihre weißen Brüste entblößen
Vor Gott dem Herrn
Und bei der süßen Milch
Ihrer milchweißen Brüste
Dir erbitten das ewige Leben!


ACHTZEHNTE SZENE


(Gartenbank unter einer Hainbuche. Eine greise, gebrechliche Dame und Vater Elias, beide rauchend.)

GREISIN
Ich lebe nur noch in der Erinnerung.
VATER ELIAS
Ja, seit Marie tot ist, lebe auch ich nur noch in der Erinnerung. Aber der Geist sagt mir: Lebe in der Gegenwart! Gott zu lieben, hab ich nur diesen heutigen Tag.
GREISIN
Aber wenn du erst einmal so alt bist wie ich, dann lebst du auch nur noch in der Erinnerung. Ich denke an meine Mutter. Ich war sieben Jahre alt, als meine Mutter gestorben ist.
VATER ELIAS
Und kannst du dich jetzt mit achtzig Jahren noch an deine Mutter erinnern?
GREISIN
Meine Großmutter war sehr streng. Die Mutter meiner Mutter war nicht liebevoll zu ihrem Kind.
VATER ELIAS
War deine Mutter denn lieb zu dir?
GREISIN
Ich lag allein in meiner Kammer, da kam meine Mutter herein mit meiner Puppe. Meine Mutter hatte meiner Puppe ein schönes neues Kleid gemacht.
VATER ELIAS
Hast du von Gott gehört in deiner Kindheit?
GREISIN
Man hat mir den Glauben der Kirche mit dem Prügelstock beigebracht! Ich will nichts mehr hören von dem Glauben der Kirche!
VATER ELIAS
Aber Gott ist Liebe, nichts als Liebe!
GREISIN
Aber das unschuldige Leiden in der Welt! Ach, wenn ich an die Kinder von Vietnam denke, die von Napalmbomben verbrannt wurden! Da werde ich zornig! Wie kann ein liebender Gott so etwas dulden? Nein, davon will ich nichts wissen! Aber erzähle du mir, wie es dir ergangen ist in den finstersten Nächten deiner seelischen Schmerzen.
VATER ELIAS
Im Mutterschoß empfangen, wurde ich zurückgestoßen vom Mutterkuchen meiner Mutter.
GREISIN
O, deine Mutter liebt dich gewiss!
VATER ELIAS
Das Gefühl, nicht erwünscht zu sein auf Erden, ist seit meiner Kindheit in mir. Einmal hörte ich Satan, er sprach zu mir: Es ist nicht gut, dass es dich gibt! Es wäre besser, du wärest nie geboren! Du bist eine Last und Zumutung für alle Menschen! Keiner mag dich leiden! Töte dich selber! Lösche dein Leben aus, lösche deine Person aus und werde zu Nichts!
GREISIN
Ich glaube nicht, dass es den Teufel gibt. Der Teufel ist nur eine Puppe im Kasperletheater.
VATER ELIAS
Ich aber habe Satans Stimme gehört. Aber ich habe auch das Flüstern der Madonna gehört. Die Madonna ist ein junges Mädchen, ich hörte sie flüstern, ihre Stimme war wie ein Gesang, und sie sang: Ich will, dass du lebst, ich will, dass du lebst und blühst wie eine Lilie!
GREISIN
Je vous salue, Marie! Ja, das kenne ich noch.
VATER ELIAS
Jesus sagte zu mir: Alles, was existiert in der Welt, ist im Innern meiner Barmherzigkeit tiefer verborgen als der Embryo im Schoße seiner Mutter.
GREISIN
Mutter... Ja, vielleicht gibt es doch eine mütterliche Göttin?
VATER ELIAS
Gott sprach zu mir: Du sagst: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Aber kann eine Mutter ihren Sohn vergessen? Und selbst, wenn deine Mutter dich nicht liebt, ich, dein Gott und dein Herr, ich liebe dich mit einer brennenden grenzenlosen Liebe!


NEUNZEHNTE SZENE


(Vater Elias und der Knabe Thomas.)

VATER ELIAS
Wer bist du?
THOMAS
Ich bin Evas Sohn.
VATER ELIAS
Wie heißt du?
THOMAS
Ich heiße Thomas. Aber meine Mutter nennt mich den Engelgleichen.
VATER ELIAS
Was willst du von mir?
THOMAS
Ich möchte mit dir Schach spielen.

(Thomas stellt das Schachbrett auf. Sie spielen Schach.)

VATER ELIAS
Epiktet sagte, das Leben ist ein Theaterstück. Gott ist der Dichter, der das Stück geschrieben hat. Jeder muß seine Rolle spielen. Wer Arbeiter ist, muß arbeiten. Wer alt ist, muß sterben. Die Kirchenväter sagten: Das Leben ist nicht Arbeit, das Leben ist nicht Kampf, nein, sondern das Leben ist ein Spiel! Schiller sagte: Das Leben und der Kampf sind ernst, nur das Kinderspiel und die Kunst sind heiter! Goethe sagte: Mit Kindern und mit Dichtern gibt man sich nur ab, um zu spielen! Schiller sagte: Wer spielen kann, ist frei!
THOMAS
Schach!
VATER ELIAS
Oh, du hast meine Dame geschlagen!
THOMAS
Im Spiel darf man die Dame schlagen.
VATER ELIAS
Es gibt keinen Ausweg mehr für mich!
THOMAS
Matt!
VATER ELIAS
Ich habe mit dem Bruder Tod Schach gespielt und Bruder Tod hat mich schachmatt gesetzt!
THOMAS
Stirbst du jetzt? Soll ich deine Mama rufen?
VATER ELIAS
Höre meine letzten Worte!
THOMAS
Ah, dein Schwanengesang!
VATER ELIAS
Ich muß beichten! Ich habe meinem Vater und meiner Mutter noch nicht verziehen, dass sie mich geboren haben!
THOMAS
Ach lieber Vater Elias, ach lieber Vater Elias!
VATER ELIAS
Ich hab dich lieb, mein Engel!
THOMAS
Gehst du jetzt ins Paradies?
VATER ELIAS
Ich habe heute morgen von der heiligen Edith Stein geträumt. Sie hat zu mir gesagt: Du kommst in den Himmel!
THOMAS
Wirst du dann mein Schutzengel?
VATER ELIAS
Ich lehre dich einen Spruch: Ich habe einen Schutzengel, der wacht über meine Ehre! Grausame Kinder der Welt, beleidigt meinen Schutzengel nicht!
THOMAS
Wenn ich einen eigenen Schutzengel habe und du im Paradies auch noch zu meinem Schutzengel wirst, dann habe ich ja zwei Schutzengel!
VATER ELIAS
Ja, mein Süßer. Aber jetzt laß mich allein.
THOMAS
Adieu!

(Thomas ab.)

VATER ELIAS
Nun zu uns beiden, Jesus...